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Title
Politische Erinnerungen des Vorsitzenden des Alldeutschen Verbandes 1915–1933/36.


Author(s)
Claß, Heinrich
Editor(s)
Hofmeister, Björn
Series
Deutsche Geschichtsquellen des 19. und 20. Jahrhunderts (79)
Published
Extent
1.062 S.
Price
€ 139,90
Reviewed for H-Soz-Kult by
Rainer Hering, Leitung, Landesarchiv Schleswig-Holstein

„Gedenke, daß Du ein Deutscher bist!“ – dieses Motto war der Wahlspruch des Alldeutschen Verbandes. Der 1890/91 aus Anlass des Helgoland-Sansibar-Vertrages gegründete und 1939 aufgelöste Verband – bis 1893 Allgemeiner Deutscher Verband – war einer der einflussreichsten Agitationsverbände im Kaiserreich und in der Weimarer Republik weiterhin sehr bedeutend. Auch wenn er zahlenmäßig nicht über 50.000 Mitglieder hinauskam, so konnte er doch durch die hohe gesellschaftliche Stellung und den beruflichen Einfluss seiner Mitglieder aus dem Bildungs- und Besitzbürgertum – Professoren, Oberlehrer, Juristen, Mediziner – als Multiplikatoren weit in die deutsche Gesellschaft, insbesondere in die Politik, hineinwirken. Außerdem gehörten ihm andere Vereinigungen als korporative Mitglieder an, die über 150.000 Angehörige umfassten, z.B. der Deutschnationale Handlungsgehilfenverband, der Kyffhäuser-Bund oder die Deutsche Burschenschaft. Dem Alldeutschen Verband kam im kommunikativen Geflecht rechtsextremer Organisationen von 1890 bis weit ins 20. Jahrhundert hinein daher eine zentrale Rolle zu. Er übte zudem im Hintergrund Einfluss auf die Bürokratie und die Staatspolitik aus. Die vorliegende Edition bietet einen aufschlussreichen Blick in die alldeutsche Gedankenwelt und Netzwerkarbeit zwischen Weimarer Republik und „Drittem Reich“.

Von 1908 bis zur Auflösung 1939 stand der von den Politikern Heinrich von Treitschke (1834–1896) und Adolf Stoecker (1835–1909) geprägte antisemitische Jurist Heinrich Claß (1868–1953) an der Spitze dieser Organisation. Während der Weimarer Republik redigierte Claß die „Deutsche Zeitung“, die er als Tageszeitung der antidemokratischen Opposition verstand. Zwischen 1920 und 1923 hatte er nähere Kontakte zu Adolf Hitler (1889–1945) und der NSDAP. Neben seinen politischen Aktivitäten war Claß auch als Historiker aktiv: Seine zunächst unter dem Pseudonym „Einhart“ veröffentlichte „Deutsche Geschichte“ wurde in mehr als 100.000 Exemplaren gedruckt und laufend aktualisiert.1

1932 publizierte Claß den ersten Teil seiner Memoiren „Wider den Strom“ über seine politische Arbeit im Kaiserreich.2 Der zweite Teil lag bislang nur als Typoskript im Bundesarchiv vor. Claß schrieb ihn bis ca. 1936, wozu er die Verbandsunterlagen nutzte, jedoch auf die politische Situation Rücksicht nahm und sich nur vorsichtig zum Verhältnis zur NSDAP äußerte. Sein Ziel war es, seine eigenen Leistungen als Vorsitzender zu historisieren und den Verband als Vorläufer der Nationalsozialisten zu etablieren. Die überlieferte Abschrift erstellte die Tochter von Claß, ein handschriftliches Original liegt nicht vor. Es ist ausgesprochen verdienstvoll, dass Björn Hofmeister, der mit einer Arbeit über den Alldeutschen Verband promoviert worden ist, sie sorgfältig ediert und kundig kommentiert hat. Auch die im Text erwähnten Dokumente werden – soweit möglich – nachgewiesen. Dadurch sind jetzt nicht nur wichtige Informationen zur Biografie von Claß gut zugänglich, auch wird sein politisches Handeln im Spiegel der eigenen rückblickenden Selbstdarstellung erkennbar. Da Claß ein dichtes Netzwerk zur Presse und zu außerparlamentarischen Organisationen sowie Angehörigen rechter Parteien aufgebaut hatte, werden die wichtigen Verbindungslinien innerhalb des radikalen Nationalismus ebenso deutlich wie die zentralen Funktionen der Alldeutschen in diesem Geflecht. Klar wird aber auch, dass Heinrich Claß durch seine bildungsbürgerlichen, wilhelminischen Prägungen und Vorbehalte gegenüber der Mobilisierung von größeren Massen Distanz gegenüber der NSDAP zeigte, letztlich beide in einem Konkurrenzverhältnis standen. Die angestrebte Zähmung der Partei blieb erfolglos. Die Edition bietet einen Einblick in die Mentalität des (männlichen) radikalen antisemitischen Bildungsbürgertums nach dem Ende der Monarchie und ist daher von breiterem Interesse.

Warum ist der Alldeutsche Verband in der deutschen Geschichte so wichtig? Er stellte eine wesentliche organisatorische und ideologische Konstante der „Völkischen Bewegung“ vom Kaiserreich bis zum „Dritten Reich“ dar. Zugleich bildete er ein wichtiges Verbindungsstück zwischen dem Nationalismus des Kaiserreiches, der „Völkischen Bewegung“ und den Nationalsozialisten. Er trug entscheidend zur Verbreitung und gesellschaftlichen Akzeptanz antisemitischer, rassistischer und völkisch-nationalistischer Anschauungen bei und prägte das nationalsozialistische Ideologiekonglomerat. Der Alldeutsche Verband war damit wohl der wirkungsmächtigste Vertreter des Honoratiorennationalismus („Alter Nationalismus“), der über fast fünfzig Jahre und zwei historische Zäsuren der deutschen Geschichte hinweg im Bildungsbürgertum sehr einflussreich war. Zugleich war der Verband offen für den „neuen“ radikalen Nationalismus und trug zu seiner Verbreitung nachhaltig bei. Dem Alldeutschen Verband kam somit eine „Scharnierfunktion“ zwischen beiden Formen des Nationalismus zu.

Um diesen Verband bestand ein dichtes Netz institutioneller und personeller Verflechtungen. Er war ein Prototyp für die enge Verbindung von Nationalismus, Antisemitismus, Antifeminismus, Antiparlamentarismus und Antislavismus. Diese Einstellungen resultierten aus einer Ablehnung der emanzipatorischen Elemente und Folgen der Moderne und waren auch Teil einer fundamentalen Krise vor allem männlicher deutscher bildungsbürgerlicher Identität. Ziel der alldeutschen Diskurse war die (Re-)Stabilisierung der infrage gestellten gesellschaftlichen und politischen Vorrangstellung des Bildungsbürgertums und der männlichen Machtposition in Familie und Gesellschaft. Dies sollte durch den Rückgriff auf vormoderne, autokratische Herrschaftsformen erfolgen.

Der Verband versuchte, seine Vorstellungen durch die Beeinflussung der Exekutive in der politischen Realität umzusetzen, wobei phasenweise, vor allem zu Beginn der Weimarer Republik, auch politische Gewalt, Mordanschläge und ein Staatsstreich nicht ausgeschlossen wurden. Der Deutschvölkische Schutz- und Trutzbund, ein Tochterverband des Alldeutschen Verbandes mit dem Ziel der Verbreitung des Antisemitismus, war in die Vorbereitung und Ausführung der Ermordung des Reichsaußenministers Walther Rathenau (1867–1922) am 24. Juni 1922 verwickelt und wurde deswegen aufgelöst.

Erst nachdem deutlich wurde, dass dieses radikale Vorgehen keine breite Akzeptanz fand und die Erfolgsaussichten nur sehr gering waren, fügte sich der Alldeutsche Verband äußerlich in die Weimarer Republik, ohne jedoch ihre ideologische Bekämpfung auch nur minimal zurückzustellen. Während des „Dritten Reiches“ wurden die alldeutschen Vorstellungen weitgehend und sehr radikal umgesetzt, nun allerdings von einer jüngeren und weitaus brutaleren Gruppe, den Nationalsozialisten, für die der Verband eine nicht mehr zeitgemäße Vereinigung alter Herren und ideologisch nicht rückhaltlos verlässlich war. Die von der Verbandsführung angestrebten Machtpositionen blieben ihr – abgesehen von einigen Monaten im Jahr 1933 – vorenthalten, ihr gesellschaftlicher Einfluss war aber schon vor der Machtübertragung an die Nationalsozialisten deutlich verringert. Zudem fehlte der Nachwuchs völlig, da die nationalsozialistischen Organisationen durch ihre Dynamik, ihre Gewaltbereitschaft sowie insbesondere ihre Aufstiegsmöglichkeiten attraktiver und Erfolg versprechender waren. Trotzdem ist zu betonen, dass die Alldeutschen den Boden bereitet und einen wesentlichen Teil der Saat ausgestreut hatten, die die Nationalsozialisten im „Dritten Reich“ ernten konnten.

Die Quellenedition Hofmeisters ergänzt den bereits vorhandenen Forschungsstand zu diesem zentralen Verein der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts und vereinfacht zukünftige Forschungsvorhaben. Auch für die Unterstützung der Lehre an Schulen und Universitäten sollte sie herangezogen werden.

Anmerkungen:
1 Rainer Hering, „(…) ist der Einfluß der Juden auf sittlich-geistigem Gebiete (…) noch viel verderblicher.“ Antisemitismus in der populären Geschichtsdarstellung von Heinrich Claß, in: Werner Bergmann / Ulrich Sieg (Hrsg.), Antisemitische Geschichtsbilder, Antisemitismus. Geschichte und Strukturen 5, Essen 2009, S. 193–210.
2 Heinrich Claß, Wider den Strom. Vom Werden und Wachsen der nationalen Opposition im alten Reich, Leipzig 1932.

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