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Titel
Das Prinzip Bewegung. Theorie, Praxis und Radikalisierung in der West-Berliner Linken 1961–1972


Autor(en)
Sepp, Benedikt
Reihe
Moderne Zeit. Neue Forschungen zur Gesellschafts- und Kulturgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts
Erschienen
Göttingen 2023: Wallstein Verlag
Anzahl Seiten
360 S.
Preis
€ 42,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Alexandra Jaeger, Archiv der sozialen Demokratie, Friedrich-Ebert-Stiftung, Bonn

Die Veröffentlichungen zu „1968“ sind schon länger kaum noch zu überblicken. Die Entwicklungen in der Geschichtswissenschaft, die Philipp Gassert in einem Forschungsbericht von 2010 herausgearbeitet hat, sind in der Tendenz aber immer noch aktuell. Untersucht wurden und werden etwa die internationalen Dimensionen der Revolte, das Verhältnis der Studierendenbewegung zu längerfristigen kulturellen und sozialen Entwicklungen oder die Gegenbewegungen zu „1968“. Hinzu kommen Lokal- und Regionalstudien, die die Bewegung genauer verorten oder sich mit dem Blick in die Provinz von dem üblichen Fokus auf Großstädte verabschieden.1

In dieser sich differenzierenden Forschung situiert Benedikt Sepp seine an der Universität Konstanz entstandene Dissertation mit einer präzisen und anregenden Frage: Welche Rolle nahm die Theorie im antiautoritären Teil der West-Berliner Studierendenbewegung ein? Sepp verfolgt dabei keinen ideengeschichtlichen, sondern einen praxeologischen Zugriff, um zu analysieren, wie sich „Theorie, Praxis und Radikalisierung“ im Untersuchungszeitraum gegenseitig beeinflussten. Er beginnt seine Studie mit der Trennung der SPD vom Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS) 1961 und endet 1971/72.

Zur Beantwortung seiner Frage konzentriert sich der Verfasser auf den antiautoritär geprägten West-Berliner SDS sowie (deutlich knapper) auf zwei kommunistische Nachfolgeorganisationen – die KPD-Aufbauorganisation (AO) und die Proletarische Linke. Sepp positioniert sich damit zwischen ideengeschichtlichen Werken zur Neuen Linken und Studien, die die politische Praxis der Studierendenbewegung untersuchen.2 Entgegen dem Trend der Forschung zu „1968“, auch weniger prominente Orte oder Akteur:innen in den Fokus zu rücken3, richtet Sepp den Blick wieder auf bestens bekannte Protagonist:innen. Diesen Zugriff begründet er mit der „Vorbild- und auch Führungsposition“ der Antiautoritären innerhalb der Studierendenbewegung und der für West-Berlin besonders guten Quellenlage (S. 24). Der Autor hat neben Unterlagen im APO-Archiv an der Freien Universität Berlin und im Archiv des Hamburger Instituts für Sozialforschung vor allem zahlreiche Erinnerungen und Romane von ehemaligen Aktivist:innen ausgewertet und einige Hintergrundgespräche geführt.

Die Arbeit ist in acht vornehmlich chronologisch strukturierte Kapitel gegliedert, in denen Sepp unterschiedliche Phasen und den Wandel der Bedeutung von Theorie für die „antiautoritäre Bewegung“ herausarbeitet. Durch die Analyse rund einer Dekade kann Sepp einerseits wiederkehrende Debatten und Dynamiken herausarbeiten und andererseits den Übergang vom SDS zu den K-Gruppen genauer untersuchen. Die klare Frage ermöglicht einen geschärften Blick auf die Vielzahl von Quellen und Literatur. So bietet das Buch einen sehr guten Überblick zur Theorieentwicklung im West-Berliner SDS und den Nachfolgeorganisationen. Der Autor erläutert souverän die Entstehungskontexte und Hintergründe von Theorien und Theoretiker:innen. Rezipiert wurden etwa Marx, Mao und Marcuse, aber auch Che Guevara und später Stalin.

Am Anfang stand eine Rebellion gegen die Theoriearbeit, die im SDS Neumitglieder zu Sozialist:innen formen sollte. Die sich herausbildende antiautoritäre Fraktion im West-Berliner SDS kritisierte die Theoriearbeit als praxisverhinderndes Machtinstrument und forderte eine neue Vereinigung mit der Praxis. Sepp erläutert, wie der selbst geschaffene Druck zu theoriebasiertem Handeln neue Krisen hervorbrachte: „Theoriestress“ (S. 142). Zum einen musste viel gelesen werden, um mitreden zu können. Zum anderen lasen die Antiautoritären in den Theorien eine besondere revolutionäre Verantwortung zur „Befreiung der Menschheit“ heraus (S. 141). Das führte zu Ermutigung, aber auch zu Überforderung. Die revolutionäre Verantwortung habe zu permanenter Zeitnot geführt und wenig Raum für „konsequenzlose Reflexion“ (S. 308) und autonome Lektüre gelassen.

Zur Hochphase der Studierendenbewegung hätten die Antiautoritären immer stärker auf eine Eskalationsstrategie gesetzt und aufklärende Aktionen als systemstabilisierend abgelehnt. Die Wahrnehmung der revolutionären Existenz der einzelnen Studierenden habe zu einer „Dauerspannung“ geführt (S. 309), in der eine fortschreitende Radikalisierung angelegt gewesen sei. Für die Umbrüche nach 1968 betont Sepp die „Verfestigung der vorherigen Bewegungsform“ und die habituelle „Verhärtung“ (ebd.) der Akteur:innen. Die Theorie sei nun nicht mehr als situationsbezogen, sondern als „zeitlos“ interpretiert worden. Dies habe zu unüberwindbaren Gegensätzen zwischen den diversen Gruppen geführt. In den „Roten Zellen“ hätten vor allem ehemalige Wortführer des SDS die Vorbereitung auf eine als revolutionär verstandene Berufspraxis geplant, während in den ML-Gruppen eher jüngere Aktivist:innen in Abgrenzung von den Älteren die revolutionäre Praxis im Betrieb gesucht hätten. Die Arbeit endet mit einem Blick auf die „tragische Selbstabschließung“ (S. 311) in der leninistischen Kaderpartei der KPD-AO, die ein Resultat der Zugzwänge des Denkens gewesen sei.

Damit ist die zentrale These des Buches benannt: Die „antiautoritäre Bewegung“ sei Zwängen gefolgt, die vor allem durch den Bezug auf den Begriff der „Bewegung“ entstanden seien. Bewegung sei Legitimation und Habitus gewesen, als Theorie sei alles nützlich gewesen, „was in einer konkreten Situation ‚die Bewegung‘ weiterzutreiben vermochte“ (S. 305). Die situative Bedeutung der Theorie habe dazu geführt, dass die „antiautoritäre Bewegung“ sich immer weiter radikalisiert habe und die Akteure den Entwicklungsdynamiken ausgeliefert gewesen seien (S. 236).

Sepp hat ein anregendes und sehr gut lesbares Buch über bekannte Akteure der Studierendenbewegung geschrieben. Zugleich liefert er mit seinem besonderen Forschungsfokus neue, relevante Erkenntnisse und Impulse für die Forschung. Die große Stärke der Arbeit ist Sepps Verzicht auf eine kleinteilige Theorieexegese. Stattdessen kontrastiert er überzeugend die Selbstinszenierung der antiautoritären Wortführer mit Zitaten aus Protokollen und Erinnerungen, die die Überforderung und Orientierungslosigkeit der damaligen, meist männlichen Akteure verdeutlichen. Theorie war dabei ein Distinktionsmittel, mit dem sich selbsternannte Revolutionär:innen gegenseitig unter Druck setzten. Während Sepp nachweisen kann, dass viele Protagonist:innen tatsächlich viel lasen – und vermutlich niemand so viel wie Rudi Dutschke, der über einen akribischen Lektüreplan verfügte –, gab es auch jene, die nur vorgaben, die Theorien zu kennen und zu verstehen.

Erhellend ist zudem, dass Sepp darlegt, wie verschiedene Alterskohorten des SDS jeweils den älteren Aktivist:innen vorwarfen, in einem Fokus auf die Theorie erstarrt zu sein und diese zu wenig mit der Praxis zu vereinen. Weniger überzeugend ist die Etikettierung als „Generationenkonflikt“, lagen doch nur wenige Jahre zwischen den unterschiedlichen Akteur:innen. Auch die Einbeziehung von Tondokumenten ist gewinnbringend, da der Autor so die Stimmung auf studentischen Vollversammlungen genauer beschreiben kann und herausarbeitet, wie das Zuhören etwa bei Dutschkes Vorträgen als Gemeinschaftsereignis funktionierte, zu dem vermutlich auch der besondere Habitus und das Nichtverstehen theoretischer Bezüge gehörten.

Ein paar Kritikpunkte sind aber ebenfalls zu nennen. Der Titel verspricht mehr, als er halten kann, denn es geht nicht um die West-Berliner Linke insgesamt, sondern vor allem um den dortigen SDS und einige Folgeorganisationen. Das wird zwar im Buch meist klar benannt, aber öfter ist von der „antiautoritären Bewegung“ (S. 11) die Rede, die manchmal identisch mit der Studierendenbewegung zu sein scheint (S. 313), wenn Sepp etwa von „der antiautoritären Studentenbewegung“ (S. 15) spricht. Hier wäre vielleicht eine stärkere Konsultation von Begriffen der Bewegungsforschung hilfreich gewesen, weil die Antiautoritären ja keine eigene Bewegung waren, sondern Teil einer breiteren Bewegung.4 Dies macht Sepp selbst deutlich, wenn er beschreibt, dass auf einer Vollversammlung längst nicht alle Studierenden die gezielte Regelübertretung des SDS unterstützten, sondern etwa die Hälfte aufklärende Aktionen bevorzugte, die der AStA-Vorsitzende Knut Nevermann vom Sozialdemokratischen Hochschulbund (SHB) propagierte.

So überzeugend Sepp viele Aspekte des Theoriebezugs und dessen Wandel herausgearbeitet hat, so wenig überzeugt die Deutung des Zugzwangs und damit einer quasi gesetzmäßig fortschreitenden Radikalisierung. Hier fehlt eine Berücksichtigung der Kontingenz der historischen Situation und ihrer Komplexität, die in den übrigen Kapiteln stärker ausgeführt wird. Zudem wäre die Frage, wie die Zugzwangthese zur Entradikalisierung ab Mitte der 1970er-Jahre passt. Wie erklären sich der Zusammenbruch der K-Gruppen und die unterschiedlichen Wege der ehemaligen Aktivist:innen vom Rückzug ins Private bis zur Karriere in Politik und Wissenschaft? Problematisch erscheint hierbei auch der Vergleich von Antiautoritären und Faschisten, der zwar die Unterschiede betont, aber doch „die machtvolle Eigendynamik der Semantik der Bewegung“ als Gemeinsamkeit konstatiert, „die Zugzwänge produzierte, aus denen man sich kaum befreien konnte“ (S. 315).

Trotzdem hat Benedikt Sepp ein sehr lesenswertes Buch geschrieben, an dem niemand vorbeikommt, der oder die sich mit der West-Berliner bzw. auch der gesamten bundesdeutschen Studierendenbewegung und ihren Theoriebezügen beschäftigt.

Anmerkungen:
1 Philipp Gassert, Das kurze „1968“ zwischen Geschichtswissenschaft und Erinnerungskultur: Neuere Forschungen zur Protestgeschichte der 1960er-Jahre, in: H-Soz-Kult, 30.04.2010, https://www.hsozkult.de/literaturereview/id/fdl-136818 (22.01.2024). Neuere Veröffentlichungen u.a.: Detlef Siegfried, 1968. Protest, Revolte, Gegenkultur, Ditzingen 2018; Lu Seegers (Hrsg.), 1968. Gesellschaftliche Nachwirkungen auf dem Lande, Göttingen 2020; Anna von der Goltz, The Other ʼ68ers. Student Protest and Christian Democracy in West Germany, Oxford 2021. Als umfangreiche Bibliographie mit Rezensionsnachweisen siehe https://zeithistorische-forschungen.de/sites/default/files/medien/material/Rezensionen_68erPDF.pdf (22.01.2024).
2 Zur Ideengeschichte vgl. David Bebnowski, Kämpfe mit Marx. Neue Linke und akademischer Marxismus in den Zeitschriften „Das Argument“ und „PROKLA“ 1959–1976, Göttingen 2021; Moritz Neuffer, Die journalistische Form der Theorie. Die Zeitschrift „alternative“, 1958–1982, Göttingen 2021.
3 Christina von Hodenberg, Das andere Achtundsechzig. Gesellschaftsgeschichte einer Revolte, München 2018.
4 Hierzu grundlegend: Dieter Rucht, Die Ereignisse von 1968 als soziale Bewegung. Methodologische Überlegungen und einige empirische Befunde, in: Ingrid Gilcher-Holtey (Hrsg.), 1968. Vom Ereignis zum Gegenstand der Geschichtswissenschaft, Göttingen 1998, S. 116–130.

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