Während das Phänomen deutscher Sehnsucht nach dem Norden bereits zu Beginn des 19. Jahrhunderts gerade in intellektuellen Kreisen ausgeprägt war, hat sich der Gegenstand dieser Sehnsucht kontinuierlich gewandelt. Von einer romantischen Verklärung der nordischen Natur über die nationalsozialistische Verherrlichung nordischer Abstammung bis hin zum Vorbildcharakter des nordischen Modells für Arbeitsmarkt-, Sozial-, Familien- und Umweltpolitik zieht sich die Kette deutscher Projektionen auf den Norden durch zahlreiche Lebensbereiche. Im Gegensatz zur deutschen Sozialdemokratie, die ihre Neugier für den Norden im Laufe des 20. Jahrhunderts immer mehr auf Schweden ausrichtete, interessierten sich deutsche Linkssozialisten und Anhänger der Gegenkultur besonders für das Nachbarland Dänemark. In seiner jüngsten Studie hat sich Detlef Siegfried nun mit diesen „Dänemark-Wahrnehmungen und -Praktiken im westdeutschen Alternativmilieu“ befasst (S. 9).
Wenngleich sich Siegfrieds Arbeit auf die binationalen Kontakte zwischen deutschem und dänischem Milieu konzentriert, versteht sie sich zugleich als exemplarische Fallstudie, die prüfen möchte, inwiefern den auf Dänemark bezogenen transnationalen Praktiken des westdeutschen Alternativmilieus letztlich ein kosmopolitisches Selbstverständnis zugrunde lag. In der alten Bundesrepublik stellten transnationale Orientierungen und Praktiken einen zentralen Bestandteil des linksalternativen Milieus dar – nicht zuletzt deshalb, weil sie eine kritische Distanz zur eigenen, deutschen Nationalität ermöglichten. Vorstellungen von einer postnationalen Identität (Jürgen Habermas) oder Entnationalisierung (Konrad H. Jarausch) der westdeutschen Gegenkultur sind nach Siegfrieds Einschätzung jedoch mit Vorsicht zu genießen. Dafür sei die „Prägekraft des nationalen Paradigmas“ auch in den 1970er-Jahren noch zu stark gewesen (S. 20). Statt eine Ablösung nationaler durch trans- oder postnationale Selbstbilder nachzuzeichnen, will Siegfried ein komplexes und bisweilen widersprüchliches Bild von kosmopolitischer Identifikation aufzeigen, bei der sowohl regionale wie auch nationale Empfindsamkeiten und Stereotype mit transnationalen Wahrnehmungen koexistierten. Dies geschah, wie Siegfried auf über 600 Seiten darstellt, nicht zuletzt im intellektuellen und kulturellen Austausch mit dem kleinen Nachbarn Dänemark.
Das Buch gliedert sich in vier empirische Teilstudien. Die breite Quellenbasis besteht unter anderem aus Zeitungs- und Zeitschriftenbeiträgen, Briefen, zeitgenössischen politischen und wissenschaftlichen Veröffentlichungen, Filmen und Interviews. Jede der vier Teilstudien widmet sich einem spezifischen Aspekt der dänischen Gesellschaft, der dem westdeutschen Gegenmilieu als Alternative zum starren und konservativ geprägten Leben in der Bundesrepublik erschien. Teil eins befasst sich mit der Wahrnehmung Dänemarks als ein Ort tolerant gestalteter „politische[r] Spielräume“. Siegfried nimmt hier zunächst die intellektuellen und persönlichen Verbindungen zwischen dem westdeutschen Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS) und der dänischen neuen Linken in den Blick – einer Gruppe, die sich ab 1967 besonders in der neugegründeten Partei Venstresocialisterne wiederfand. Im Anschluss hieran diskutiert der Autor die Bedeutung Dänemarks als Exilland am Beispiel Rudi Dutschkes. Schwer verletzt nach dem auf ihn verübten Attentat vom April 1968 hatte der Kopf der deutschen Studentenbewegung zunächst auf ein Bleiberecht in England gehofft. Als ihm dieses verwehrt wurde, nahm Dutschke ein Stellenangebot der Universität Århus an, das mit einer Aufenthaltsgenehmigung in Dänemark verknüpft war.
Im zweiten empirischen Block („Gegenkultur in der Konsumgesellschaft“) richtet Siegfried sein Augenmerk auf zwei Aspekte der dänischen Populärkultur, die das westdeutsche Alternativmilieu inspirierten, die wegen ihrer Verbindung zu Konsum und Massenkultur jedoch gleichzeitig ambivalente Reaktionen hervorriefen: die Freigabe der Pornographie in Schrift (1967) und Bild (1969) sowie das Musikfestival in Roskilde (seit 1971). Im Hinblick auf die Gesetzgebung zur Pornographie war das deutsche Gegenmilieu zudem auch noch aus einem anderen Grund gespalten. Während einige Akteure die dänische Offenheit gegenüber pornographischen Inhalten als Ausdruck sexueller Befreiung und als Beitrag zu einer freieren Gesellschaft erlebten, kritisierten feministisch engagierte Mitglieder der Szene eine Objektivierung der Frau – nicht zuletzt, da sich die Porno-Produkte fast ausschließlich an heterosexuelle Männer richteten.
Die dritte Teilstudie („Jenseits des Wohlfahrtsstaats“) befasst sich mit dänischen Alternativen zu organisierter Sozialstaatlichkeit und ihrer Resonanz im westdeutschen Gegenmilieu. Während das nordische Wohlfahrtsstaatsmodell in sozialdemokratischen Kreisen sowohl im Norden wie auch in der Bundesrepublik als Ausdruck sozialer Gerechtigkeit gefeiert wurde, kritisierten linkalternative dänische Kreise den starren Kollektivismus sozialer Ingenieurskunst und die Missachtung individueller Lebensentwürfe. Versuche, die staatlichen Vorgaben aufzubrechen, erkennt Siegfried in den dänischen Abenteuerspielplätzen und in der in Kopenhagen gelegenen autonomen Siedlung Christiania (seit 1971, auf einem ehemaligen Militärgelände).
Die letzte und gleichzeitig umfangreichste Teilstudie („Nach Europa und in die Welt – alternatives Reisen“) untersucht die Bedeutung des transnationalen Reisens für das westdeutsche Alternativmilieu, deren Mitglieder sich davon eine „Vervollkommnung des alternativen Subjekts“ (S. 383) versprachen. Viele dieser Reisen führten nach Kopenhagen. Sie sollten einen bewussten Gegenentwurf zu Konsumreisen des Chartertourismus darstellen und wurden nicht selten mit Drogenerfahrungen und sexuellen Abenteuern kombiniert. Eine andere Ausrichtung verkörperten die Tvind-Schulen, die ab den frühen 1970er-Jahren als Alternative zum herkömmlichen dänischen Schulsystem entstanden und eine Vielzahl westdeutscher Besucher:innen anlockten. Auch sie strebten eine Veränderung der Gesellschaft und eine Umformung des Individuums auf der Grundlage revolutionär-linker, bisweilen maoistischer Ideen an. Der Verzicht auf Privatheit zugunsten der Öffentlichkeit des Kollektivs, so die Analyse Siegfrieds, galt im Alternativmilieu stets als erstrebenswert, wobei „die Veränderung der Welt und die Veränderung der Persönlichkeit […] Hand in Hand“ gehen sollten (S. 440). Im Gegensatz zu großen Teilen des dänischen Alternativmilieus und nicht zuletzt zu den Bewohnern der Christiana-Siedlung waren die Anhänger des Tvind-Projektes jedoch asketisch orientiert und Drogen und Formen der freien Liebe abgeneigt. Das Tvind-Symbol der Windmühle bzw. des Windrades (auch auf dem Buchcover zu sehen) stand zudem für die Idee einer alternativen Energiepolitik und der Anti-Atom-Bewegung. Für die deutschen „Reisenden Hochschulen“ waren die dänischen Tvind-Schulen eine konzeptionelle Inspiration, stellten aber auch konkrete Reiseziele dar. Gleichzeitig richtete das westdeutsche Alternativmilieu seinen Blick verstärkt in Richtung globaler Süden, im Bestreben, dem eigenen kosmopolitischen Anspruch gerecht zu werden.
Siegfried identifiziert in der Dänemark-Wahrnehmung des westdeutschen linksalternativen Milieus eine „doppelte Codierung“: Auf der einen Seite stand Dänemark für „Experimente eines radikalen Andersseins“, auf der anderen für „Toleranz für ein breites Spektrum an Präferenzen“ (S. 546). Es ist ein Verdienst der Studie, diesen Widerspruch empirienah und detailliert herausgearbeitet zu haben. Deutlich wird insbesondere die Ambivalenz der westdeutschen Linken gegenüber einer andersartigen dänischen (und wohl gesamt-nordischen) Konfliktkultur, aber auch gegenüber einem im kleinen Nachbarland vorhandenen pragmatischen Verhältnis zur doch eigentlich verhassten Staatsmacht, das sich nicht zuletzt dadurch auszeichnete, dass so gut wie alle dänischen Alternativprojekte staatliche Gelder bekamen.
Ein weiteres Ergebnis von Siegfrieds Studie findet sich in der Feststellung, dass das westdeutsche Alternativmilieu trotz seines kosmopolitischen Anspruches immer auch in nationale, regionale und lokale Bezüge eingebettet war, wenngleich diese nicht immer deutsch blieben. Sprechendes Beispiel hierfür ist die Anekdote von einem deutschen Aussteiger, der aus Abscheu gegenüber der deutschen Nation nach Christiana übergesiedelt war, dessen Zimmerwand aber eine dänische Fahne und ein Bild des dänischen Königs zierten (S. 320). „Die Deutungen der dänischen Verhältnisse durch westdeutsche Gegenkultur-Aktivisten“, so Siegfried, sagten letztlich „weniger über Dänemark als über Ziele und Erwartungen der Deuter aus“ (S. 552). Diese versuchten der kritisierten Enge der bundesrepublikanischen Gesellschaft der 1960er- und frühen 1970er-Jahre sowie einer nationalen Vereinnahmung ihrer Identität zu entkommen, indem sie ein kosmopolitisches Selbstbild anstrebten, das jedoch ironischer Weise auf eine andere nationale Gemeinschaft, die der Dänen, projiziert wurde. Detlef Siegfried hat diese „Aporien des alternativen Kosmopolitismus“ (S. 546) überzeugend herausgearbeitet. Als einzige kritische Anmerkung möchte man dem in Kopenhagen lehrenden deutschen Autor zurufen, sich hinsichtlich des Umfangs seiner Publikationen doch in Zukunft von der „Alternative Dänemark“ inspirieren zu lassen. Dort, wie auch in den anderen nordischen Ländern, fallen wissenschaftliche Arbeiten nämlich deutlich kürzer aus.