Tiefgreifende Prozesse des ökonomischen, sozialen und kulturellen Wandels, wie sie sich seit den 1970er-Jahren in (West-)Europa Bahn brachen, werden im Rückblick vor allem auf der Makroebene historischer Großräume sichtbar bzw. erhalten ihre historisch-epochemachende Bedeutung erst, wenn sie bisherige nationale, kontinentale oder globale Entwicklungsstränge und damit verknüpfte Narrative nachhaltig infrage stellen. Doch die Wahrnehmung und Verhandlung dieser Transformationen gestaltet sich regional oft unterschiedlich, und mitunter bringen Veränderungen auf der Makroebene auch Prozesse der Regionalisierung in Gang. Kaum ein historiographisches Konzept hat so stark zum Nachdenken über diese Prozesse und ihre Verflechtungen angeregt wie der für die Zeitgeschichte Westeuropas zwischen etwa 1970 und 2000 entwickelte Ansatz „nach dem Boom“, der mit seiner These des „sozialen Wandels von revolutionärer Qualität“ ebenso aufmerksam wie kontrovers diskutiert worden ist. Obwohl dieses Konzept die Region als Handlungsfeld und Analyseebene stets mitdenkt, wie einer der Erfinder, Lutz Raphael, in dem hier zu besprechenden Band betont, hat das Konzept bislang nur sehr begrenzt Spuren in der deutschen Regional- und Landesgeschichte hinterlassen, die – ebenso wie die von ihr untersuchten Regionen – ihren ganz eigenen Konventionen und Pfadabhängigkeiten unterliegt.
Der vorliegende Band „Varianten des Wandels“, der aus einem Online-Workshop des LWL-Instituts für westfälische Regionalgeschichte mit gleichnamigem Titel im Corona-Jahr 2021 hervorgegangen ist, hat sich die Aufgabe gestellt, Regional- und Landesgeschichte mit Fragehorizonten der jüngsten Zeitgeschichte in einen produktiven Dialog zu bringen. Der Periodisierungsvorschlag von Lutz Raphael und Anselm Doering-Manteuffel wird hier mehr im breiteren Sinne als Phase tiefgreifender Wandlungen betrachtet, ohne dass alle Beiträge auf das Konzept direkt Bezug nehmen. Nichtsdestoweniger ergeben sich dadurch sowohl neue Fragen als auch Spannungsfelder, wobei die drei Herausgeber vor allem erstere betonen – so etwa die Region als Impulsgeberin für Wandel, Mobilisierungsstruktur oder „Hebel für das Verschieben europäischer Förderschwerpunkte“ (S. 24). Folgerichtig entscheiden sich Matthias Frese, Thomas Küster und Malte Thießen für einen pragmatischen Regionen-Begriff als „Zugang für Themen der ‚mittleren Ebene‘“, „der gleichwohl Aushandlungen von Nationalität und Globalität und damit von Wechselwirkungen zwischen Nahbereich und ‚großer Welt‘ eröffnet“ (S. 19). Der Band umfasst siebzehn empirische Fallstudien und drei generelle methodische Reflexionen. Allerdings beziehen sich diese nicht auf die Einzelbeiträge, obwohl sich in vielen Punkten Verknüpfungslinien ziehen ließen. Dass trotz dieses Potentials die Chance auf ein ausführliches Resümee, das die recht knappe Einleitung nur in begrenztem Umfang leistet, vergeben wurde, ist bedauerlich und einer von drei Wermutstropfen in diesem sonst materialreichen und anregenden Band. Die 20 Beiträge werden im Folgenden nicht entsprechend der Sortierung der Herausgeber nach Themen vorgestellt, sondern im Hinblick auf ihren methodischen Ertrag für eine moderne Regionalgeschichte. Aus dieser Perspektive lassen sich drei Gruppen von Aufsätzen identifizieren.
Eine erste, kleinere Gruppe umfasst fünf Aufsätze, die einen methodischen Beitrag zur Verflechtung von Regionalität und Globalität leisten. Besonders anregend sind die bereits erwähnten methodischen Reflexionen, auch weil diese nicht nur jeweils für sich stehen, sondern sich durch ihre verschiedenen Perspektiven gut ergänzen und aufeinander aufbauen. So macht zunächst Andreas Wirsching deutlich, dass Globalisierung im „Westen“ vor allem als Narrativ von De-Industrialisierung und Verlust erscheint, um dann anhand einer regional-vergleichenden Fallstudie zu ehemaligen Militärflughäfen nach dem Ende des Ost-West-Konflikts zu zeigen, wie Globalisierung je nach Ort auch als Hoffnungsträger für antizipierte Zukünfte wirken konnte. Lutz Raphael zoomt dagegen in den von De-Industrialisierung geprägten westeuropäischen Krisenraum (Bundesrepublik, Großbritannien, Frankreich) und bilanziert den von ihm und Doering-Manteuffel geleiteten Forschungsverbund „nach dem Boom“ sowie davon inspirierte vergleichende Synthesen unter der Leitfrage nach Regionalisierungsprozessen. Daraus entwickelt er ein Vier-Typen-Modell von regionalen Transformationsräumen, das neben alten Industrieregionen und Metropolregionen als neuen Leuchttürmen auch ländliche („stille“) Gewinner-Regionen sowie Wissens- und Innovationsregionen umfasst. Daran schließt ein Forschungsüberblick von Sabine Mecking zur Geschichte von Strukturwandel und Strukturpolitik in Deutschland an, der zugleich Ansätze für eine Erweiterung in Richtung DDR / Ostdeutschland nennt. Als methodisch ebenfalls anregend erweisen sich die Fallstudien von Claudia Kemper zur Entdeckung der Region durch die Anti-AKW-Bewegung, mit Perspektiven zur Integration des Regionalen in die Cold War Studies, sowie von Malte Thießen, der über eine Regionalgeschichte der Digitalisierung anhand von drei Dimensionen nachdenkt: regionale Kontexte und Handlungsspielräume als Bedingungen digitalen Wandels, Digitalität als „Chiffre für Zuschreibungen und politische Selbstentwürfe“ (S. 418) sowie Raumordnungen als Bedingungen für die Aneignung von Digitalität.
Die zweite, größere Gruppe umfasst sieben Beiträge, die aus regionalhistorischer, aber auch sozial- und politikwissenschaftlicher Perspektive Neuverräumlichungen „nach dem Boom“ adressieren. Dabei liegt der Schwerpunkt auf der Veränderung von Staatlichkeit durch das Hinzukommen neuer Akteure, was wiederum den methodischen Beitrag von Raphael hervorragend ergänzt. Die Beiträge von Christian Henrich-Franke und Marijn Molema / Bart Hoogeboom beschäftigen sich mit Neujustierungen regionaler Staatlichkeit und daran geknüpften Problemen im Zuge der Ausbildung des europäischen Mehrebenensystems bzw. der Umsetzung des Konzepts der endogenen Regionalpolitik. Letzteres wird von Molema und Hoogeboom jedoch recht pauschal als Alternative zur regionalen Industrialisierungspolitik der 1950er- / 1960er-Jahre präsentiert und zugleich als analytische Messlatte verwendet, ohne dessen Historizität selbst zu hinterfragen. Matthias Frese und Sarah Thieme rücken mit den lokalen Tourismusorganisationen in Nordrhein-Westfalen und dem 1958 gegründeten Bistum Essen, das sich schon bald als „Ruhrbistum“ und „Arbeiterbistum“ begriff, neue Akteure der Strukturpolitik in das Blickfeld. Sie analysieren deren Handlungsspielräume, (Raum-)Strategien wie -praktiken und Konflikte im Umgang mit sich änderndem Konsumverhalten sowie sich beschleunigenden Säkularisierungs- und Demokratisierungsprozessen. Der Wandel von Konsumpraktiken ist auch Thema des Aufsatzes von Karl Christian Führer, der die „Entstehung landwirtschaftlicher Intensivgebiete“ als Reaktion auf die Etablierung von Supermärkten mit Frischeabteilungen untersucht, dabei aber auch auf die Bedeutung älterer regionaler Pfadabhängigkeiten als Treiber des Wandels verweist. Als Beschleuniger von städtischem Wandel wirkten in Hamburg Migrant:innen, mit denen sich David Templin befasst. Die Herausbildung von „Geographien des Ankommens“ habe zunächst die Suburbanisierung befördert; später hätten Migrant:innen aber zur Aufwertung von innerstädtischen Quartieren beigetragen. Schließlich macht der Beitrag von Martin Schmitt deutlich, dass ein über administrative Einheiten hinausweisender Regionsbegriff selbst für die streng zentralistische DDR als gewinnbringender Ansatz dienen kann. Am Beispiel der (Früh-)Digitalisierung der Sparkassen in den 1960er- bis 1980er-Jahren zeigt er, wie die „regionale Zentralisierung“ digitaler Infrastrukturen eigene Raumbildungsprozesse auslöste, die quer zu den traditionellen Verbandsstrukturen des Sparkassennetzes und den Bezirksverwaltungsstrukturen der DDR lagen.
Die dritte, größte Gruppe von Beiträgen setzt sich aus eher klassischen Regionalgeschichten zusammen, die sich ausgehend von Transformationen auf der Makroebene mit Wandlungen, Spezifika und Beharrungskräften vor Ort befassen. Das Konzept „nach dem Boom“ dient hier vor allem als Inspirationsquelle für neue Fragen an die Regionalgeschichte, wobei die Region vorwiegend als politische Verwaltungseinheit gedacht wird. Mit der Bedeutung von Hochschulpolitik für die regionale Strukturpolitik setzen sich Stefan Paulus und Christian Berg auseinander. Verweist Paulus im nordrhein-westfälisch-bayerischen Vergleich auf zunächst nicht-intendierte Entwicklungspotentiale neuer Hochschulen für die Regionen, unterstreicht Berg die Bedeutung des Paderborner Unternehmers Heinz Nixdorf (1925–1986), der auch in anderen Beiträgen immer wieder als wichtige Persönlichkeit aufscheint. Dagegen akzentuieren drei Beiträge lokale Beharrungskräfte bzw. Grenzen lokalpolitischer Einflussnahme. Im Falle der Rezeption neuer wachstumskritischer wie ökologischer Konzepte durch die Verwaltung der bayerischen Kreisstadt Donauwörth (Nadja Hendriks) wurden diese Grenzen von Bürgermeister Alfred Böswald (CSU) sogar aktiv betont. Weiteren Faktoren, die Wandel vor Ort begrenzten, widmen sich Manuela Rienks anhand von Debatten zum Ladenschluss im inner-bayerischen Vergleich sowie Thomas Küster mit Blick auf die Folgen des Abzugs des britischen Militärs für die Zivilbevölkerung und die regionale Entwicklungspolitik im nordrhein-westfälisch-niedersächsischen Vergleich. Zwei unterschiedliche Perspektiven zum Thema Migration nehmen Jens Gründler und Sara-Marie Demiriz ein. Analysiert ersterer den recht planlosen Umgang der Harsewinkler Stadtverwaltung mit der Neubauwohnsiedlung Dammanns Hof, der wesentlich dazu beitrug, dass sich die Stadt zu einem „Menetekel fehlgeleiteter Modernisierung“ (S. 490) entwickelt habe, beleuchtet letztere die Relevanz etablierter korporatistischer Strukturen und der Industriegewerkschaft Bergbau und Energie für die Erweiterung der Partizipationsmöglichkeiten von Migrant:innen über die Arbeitswelt hinaus auf die Region. Vor dem Hintergrund der hohen Bedeutung von Migration gerade in Nordrhein-Westfalen stellt sich die Frage, warum Philipp Koch in seinem weit ausgreifenden Beitrag über den Wandel sozialer Milieus in Minden von den 1970er- bis Mitte der 1990er-Jahre auf diese sozialgeschichtlich grundlegende Dimension nicht eingeht.
Bestand der eine Wermutstropfen des Bandes in der fehlenden Gesamtschau, so liegt der zweite in der Länge der Beiträge, die zum Teil (fast) 50 Druckseiten umfassen (Frese, Schmitt, Koch), wodurch der rote Faden leider oft verloren geht. Andere Aufsätze (Kemper, Rienks) kommen zudem erst nach einem langen theoretischen bzw. allgemeingeschichtlichen Vorlauf zu ihren Fallstudien. Gerade dabei hätten die Herausgeber mit Blick auf die Leser:innen etwas strengere Vorgaben machen sollen. Ein drittes Manko, das Frese, Küster und Thießen in der Einleitung aber selbstkritisch problematisieren, ist die geographische Engführung der Beiträge (mit Ausnahme von Schmitt) auf Westdeutschland (und hier besonders Nordrhein-Westfalen). Auch die Hinweise auf ostdeutsche Parallelen zur bundesdeutschen Strukturpolitik im Beitrag von Mecking bleiben letztlich sehr an der Oberfläche und werden ohne jeden Bezug zum ostdeutschen Pendant der Territorialplanung postuliert. Vor dem Hintergrund langer Debatten über die Integration der DDR bzw. von Ostdeutschland in die gesamtdeutsche Geschichte, besonders wieder in jüngster Zeit, und der untersuchten Periode von 1970 bis 2020 hätte dem Band mehr „Ost-Expertise“ gutgetan. Weniger ein Manko, aber auffällig ist schließlich das Übergewicht der klassischen Politik- und Wirtschaftsgeschichte, während kultur- und raumgeschichtliche Fragen, die sich gerade für die Beiträge der zweiten Gruppe aufdrängen, nicht systematisch entwickelt werden. Die Frage etwa, inwiefern Konzepte von Region selbst einen Wandel durchliefen und wie sich dieser Wandel gestaltete, beantwortet der Band nicht, bietet hierfür aber interessante Anknüpfungspunkte, die es zu vertiefen lohnt. Dem insgesamt sehr vielseitigen und inspirierenden Band ist trotz seines beträchtlichen Umfangs eine breite Rezeption zu wünschen.