Beiträge zur Geschichte des Nationalsozialismus

Cover
Titel
NS-Geschichte als Herausforderung. Neue und alte Fragen


Herausgeber
Redaktion der "Beiträge zur Geschichte des Nationalsozialismus"
Reihe
Beiträge zur Geschichte des Nationalsozialismus
Erschienen
Göttingen 2022: Wallstein Verlag
Anzahl Seiten
190 S.
Preis
€ 20,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Michael Wildt, Institut für Geschichtswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin

Wenn die Redaktion eines der wichtigsten Periodika zur NS-Geschichte, der „Beiträge zur Geschichte des Nationalsozialismus“, im 23. Jahr ihres Bestehens einen Band in eigener Sache mit dem anspruchsvollen Titel „NS-Geschichte als Herausforderung. Neue und alte Fragen“ herausgibt, dann dürfen die Leser:innen informierte, nachdenkliche und anregende Artikel erwarten. Und sie werden, das sei schon verraten, nicht enttäuscht.

Hannah Ahlheim steigt gleich ein mit dem provokanten Titel „Packt die ‚Nazikeule‘ aus! Ein Plädoyer für die Konfrontation mit dem Ungeheuerlichen“. Nicht gegen den vermeintlichen Gegner soll die „Nazikeule“ geschwungen, sondern sie als „Denkanstoß“ (S. 13) genutzt werden. Ahlheim kritisiert, dass durch die Dominanz der Erinnerungskultur das Wissen um die konkrete NS-Geschichte blass geblieben sei und wiederum in der Forschung das Interesse für die Emotionen der historischen Akteur:innen fehle. Einen Begriff von Adorno aufgreifend fordert Ahlheim, das „Ungeheuerliche“, das der Nationalsozialismus und seine Verbrechen bedeute, in die Geschichtsschreibung zu integrieren – was heißt, „die Welt der Assoziationen der Phantasien und Emotionen“ (S. 20) zu berücksichtigen. Nötig sei eine doppelte Wendung auf das Subjekt, um sowohl die historischen Subjekte als auch sich selbst als Subjekt in der Gegenwart, das sich hinterfragt und reflektiert, wahrzunehmen.

Drei Beiträge blicken auf die Geschichte der NS-Geschichtsschreibung zurück und entwickeln von dort Vorschläge für neue Forschungsfelder. Rüdiger Hachtmann erinnert zu Recht an den „doppelten Blick von außen“ (S. 52), der britischen Historiker wie Timothy W. Mason, David Schoenbaum, Ian Kershaw oder Jane Caplan einerseits sowie der exilierten deutschen Sozialwissenschaftler wie Franz Neumann und Ernst Fraenkel oder die Frankfurter Schule andererseits, die der NS-Forschung ab Mitte der 1970er-Jahre neue Impulse verliehen. Zu ergänzen wären hier die alltagsgeschichtlichen Ansätze, siehe insbesondere die Studien von Alf Lüdtke oder Inge Marszolek, die der Gesellschaftsgeschichte des Nationalsozialismus wesentliche innovative Anstöße gaben. Hachtmann präferiert dagegen eine eher konventionell verstandene Sozialgeschichte, die den Klassencharakter und die Bürgerlichkeit des NS-Regimes stärker in den Blick nimmt.

Wolf Gruner verbindet auf produktive Weise seine eigenen Diktaturerfahrungen in der ehemaligen DDR mit Vorschlägen für eine künftige NS-Geschichtsschreibung. Sein Alltag blieb bis 1989 „von dem täglichen Stress geprägt, zwischen Anpassung, Distanz und Verweigerung lavieren zu müssen“ (S. 31), woraus er ableitet, dass NS-Forschung sich weniger auf Ideologie oder Institutionen konzentrieren sollte als auf individuelle und kollektive Handlungen und deren gesellschaftliche Bedingungen. Das gelte im Sinne einer „integrierten NS-Gesellschaftsgeschichte“ (S. 40) auch für die Ausgeschlossenen und Verfolgten des NS-Regimes. Vehement tritt Gruner für eine vergleichende und interdisziplinäre NS-Forschung ein und sucht den Anschluss zur soziologischen Gewaltforschung wie zu praxeologischen Ansätzen, wie sie insbesondere Sven Reichardt für die Geschichtswissenschaft entwickelt hat. Ob die NS-Forschung „vom Kopf auf die Füße gestellt werden“ müsse (S. 47), wie Gruner fordert, sei dahingestellt. Aber sein Plädoyer für Komplexität und Vergleich sollte sicher Gehör finden.

Armin Nolzen schließlich beklagt, dass die NS-Forschung seit geraumer Zeit auf der Stelle trete, weil sie immer mehr Texte produziere, deren Herangehensweisen und Thematiken immer selbstähnlicher würden, und macht dafür die „Auftragsforschung“, die Jubiläumsgeschichtsschreibung, vor allem die Verwobenheit mit dem System der Politik verantwortlich. In seiner Rückschau konstatiert er einen epistemologischen Bruch zwischen älterer und neuerer Forschung in den 1990er-Jahren und analysiert Tendenzen, Hauptgefahren und mögliche Gegenstrategien in methodologischer, thematischer und interpretatorischer Hinsicht. Diese gedankenreiche und lesenswerte Systematik kann hier nicht ausführlich dargestellt werden, nur zwei Beispiele: Hinsichtlich der praxeologischen Tendenz in der neueren NS-Forschung sieht Nolzen die Gefahr einer Personalisierung und schlägt als Gegenstrategie die Dezentrierung des Subjekts vor, vor allem verstanden als Zuwendung zur soziologischen Organisationsanalyse, wie sie zum Beispiel Stefan Kühl vorgeführt hat.1 Bei der Gewaltforschung sieht Nolzen die Gefahr der Selbstevidenz, sprich Gewalt nur zu konstatieren, nicht aber mehr als erklärungsbedürftigen sozialen Sachverhalt zu untersuchen, und schlägt als Gegenstrategie vor, mit Bezug auf die Theorie von Heinrich Popitz Gewalt als Manifestation von Macht zu erklären.2

So sehr ich Nolzens Plädoyer für mehr Theorie in der NS-Forschung zustimme, so wirken seine Vorschläge jedoch auf mich mitunter wie ein Rezeptbuch. Niklas Luhmann, Michel Foucault, Heinrich Popitz, Bruno Latour, Hartmut Rosa, Andreas Reckwitz, Achim Landwehr und andere bieten zweifelsohne wertvolle theoretische Einsichten, können aber schwerlich einfach der NS-Forschung appliziert werden. Und ist die jüngere NS-Forschung wirklich so theorielos? Gerade die historischen Gewaltanalysen haben sozialwissenschaftliche Theorien aufgegriffen; praxeologische Ansätze beziehen sich stets auf Sven Reichardt; neue Überlegungen zur Staatlichkeit des NS von Rüdiger Hachtmann oder Stefanie Middendorf besitzen komplexe theoretische Hintergründe.3 Doch kritisiert Nolzen zu Recht die starke Fixierung in der NS-Forschung auf die Empirie. Oftmals reicht die Präsentation von Quellen kombiniert mit moralischem Werturteil schon aus, ohne sich der analytischen und theoretischen Mühe einer wissenschaftlichen Qualifizierung des Materials zu unterziehen.

Elissa Mailänder erinnert in ihrem Beitrag daran, dass ausgehend von Joan Ringelheims Studien in den 1990er-Jahren zwar die Relevanz von Frauen in der NS- und Holocaust-Geschichte zunehmend sichtbar wurde, aber die Mainstream-Forschung dies lange Zeit nicht zur Kenntnis nahm. Mailänder nennt als anschauliches Beispiel die Rede von den „ordinary men“, deren Täterschaft in vielfältiger Hinsicht untersucht wurde, ohne die Frage nach „Männlichkeit“ zu stellen. Dagegen öffne eine queere Geschichte des Nationalsozialismus den Blick für vielschichtige, teilweise brüchige Geschichtsdeutungen, deren erkenntnistheoretisches Potenzial vor allem darin bestehe, „Widersprüche und Ambivalenzen nicht einzuebnen“ (S. 106), was sie unter anderem anhand der Biographie von Albrecht Becker anschaulich macht, der als Homosexueller verfolgt wurde, sich dennoch freiwillig zur Wehrmacht meldete, ausgiebig seinen soldatischen Alltag fotografierte und sich im Spannungsfeld zwischen heterosexueller Norm und queerem Eigensinn jenseits binärer Zuschreibungen bewegte. In der Reflexion über die eigene Standortgebundenheit, der Fähigkeit zur Selbstkritik und der Anerkennung des heuristischen Wertes von Widersprüchen liege, so Mailänder, der Mehrwert einer feministischen und geschlechtersensiblen Geschichte des Nationalsozialismus.

Selbstredend darf in einem solchen Band nicht die Auseinandersetzung mit Dirk Moses fehlen, die Marie Muschalek und Sven Reichardt in ihrem Artikel über NS-Geschichte und globalgeschichtliche Ansätze in der Genozidforschung leisten. In der Debatte um das Verhältnis von Kolonialismus und Holocaust argumentieren die beiden, dass sich wohl nur der nationalsozialistische Krieg im Osten mit Kolonialkriegen vergleichen ließe, da er sowohl von Siedlerkolonialismus als auch von entgrenzter Gewalt geprägt war. Dirk Moses verenge mit seiner These von einer permanenten Sicherheitspolitik, die für alle modernen Regime im Mittelpunkt gestanden habe, den Blick auf die Selbstwahrnehmung der Herrschaftseliten, hier insbesondere hinsichtlich der NS-Führung, die ihre Vernichtungspolitik mit einer angeblichen Bedrohung durch das Judentum rechtfertigte. Muschalek und Reichardt plädieren hingegen für einen an Christian Gerlach orientierten, multikausalen, praxisbezogenen Ansatz, der „den zentralen transnationalen Broker:innen der militärischen Kriegsführung und Rassenpolitik oder auch den kulturellen Lebenswirklichkeiten von Kollaborateur:innen und lokalen Sympathisant:innen mehr Aufmerksamkeit schenkt“ (S. 150f.) – sicher sollte hier ebenso die individuelle, kollektive wie transnationale agency der Verfolgten einbezogen werden.

Franka Maubach und Stefanie Middendorf wagen mit ihrem Beitrag den großen Wurf. „Über den Ort des Nationalsozialismus im langen 20. Jahrhundert. Kolonialismus, Rassismus, Kapitalismus“ heißt der Titel ihres Artikels und kündigt damit ein verändertes Epochenverständnis an. Im Kontext eines „kurzen 20. Jahrhunderts“, das vom Ersten Weltkrieg bis zum Zusammenbruch des Kommunismus reichte, bildete die Shoah, so argumentieren sie, das Gravitationszentrum – und entkoppelte damit zugleich den Nationalsozialismus vom 19. Jahrhundert. Die Einordnung von Kolonialismus und Imperialismus als Basisprozesse der Moderne einerseits wie die Fortführung von Kriegen und Massengewalt auch nach der Zäsur 1989/90 andererseits rückten den Nationalsozialismus hingegen in einen größeren Zusammenhang. Mit dem Horizont eines „langen 20. Jahrhunderts“, das vom 19. bis in das 21. Jahrhundert reicht, würde nicht nur der nationalsozialistische Rassismus in einem erweiterten historischen Kontinuum situiert, sondern auch der Rassismus nach dem Nationalsozialismus thematisiert, mithin „Rassismus als eine genuin moderne Disposition“ (S. 122) verstanden. Ebenso werfe die Verortung des Nationalsozialismus in einer longue durée des Kapitalismus neue Fragen zum Beispiel nach der Bedeutung von Klassenlagen für die Konstruktion von Fremdheit, zur Relevanz internationaler Wirtschaftsordnungen für die Stabilität wie Instabilität demokratischer Gesellschaften oder zum Krieg als Motor auch ökonomischer Mobilisierung auf.

Manche Forschungsfelder bleiben in diesem Band marginal, wie die visuelle und auditive Dimension des Nationalsozialismus, die für seine Wirkung wie Nachgeschichte unverzichtbar ist. Die Geschichte der Medien im Nationalsozialismus stellt nicht nur ein innovatives Forschungsfeld dar, sondern eröffnet auch neue Zeit- und Raumhorizonte. Mancher Beitrag leidet an dem Gestus des Erst-jetzt, obwohl durchaus an vorangegangene Studien angeknüpft werden könnte. Mitunter vermisst man eine intensivere Auseinandersetzung mit der zitierten Literatur, aber zweifelsohne bietet dieser Band eine Fülle von Anregungen und Anstößen, die unter Beweis stellen, dass die Geschichte des Nationalsozialismus – neu befragt – trotz der immensen Fülle an Untersuchungen auch heute aufschlussreiche Erkenntnisse generieren kann, ja weiterhin einen unhintergehbaren historischen Einschnitt bedeutet.

Anmerkungen:
1 Stefan Kühl, Ganz normale Organisationen. Zur Soziologie des Holocaust, Berlin 2014.
2 Heinrich Popitz, Phänomene der Macht, 2., stark erw. Aufl., Tübingen 1992.
3 Thomas Mergel / Sven Reichardt, Praxeologie in der Geschichtswissenschaft: eine Zwischenbetrachtung, in: Gleb J. Albert / Daniel Siemens / Frank Wolff (Hrsg.), Entbehrung und Erfüllung. Praktiken von Arbeit, Körper und Konsum in der Geschichte moderner Gesellschaften. Für Thomas Welskopp 1961–2021, Bonn 2021, S. 79–102; Rüdiger Hachtmann, Elastisch, dynamisch und von katastrophaler Effizienz – zur Struktur der Neuen Staatlichkeit im Nationalsozialismus, in: Sven Reichardt / Wolfgang Seibel (Hrsg.), Der prekäre Staat. Herrschen und Verwalten im Nationalsozialismus, Frankfurt am Main 2011, S. 29–73; Stefanie Middendorf, Macht der Ausnahme. Reichsfinanzministerium und Staatlichkeit (1919–1945), Berlin 2022.

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