M. Bassano: De maître à élève. Enseigner le droit à Orléans (c.1230-c.1320)

Cover
Titel
De maître à élève. Enseigner le droit à Orléans (c.1230-c.1320).


Autor(en)
Bassano, Marie
Reihe
Medieval Law and Its Practice
Erschienen
Anzahl Seiten
748 S.
Preis
€ 243,96
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Martin Kintzinger, Historisches Seminar, Universität Münster

Seit 2015 Professorin für Rechtsgeschichte an der Universität Toulouse I Capitole, beschreibt Marie Bassano den Rechtsunterricht an der Universität Orléans in dem so bezeichneten „langen 13. Jahrhundert“. Das persönlich gehaltene Vorwort ihrer einstigen akademischen Mentorin erklärt, dass die recht lange Zeit von der Promotion 2008 bis zur Publikation des Bandes besonders den ausführlichen Anhängen zugutegekommen sei. Diese bieten eine überaus detaillierte Aufstellung zur Prosopographie der Studenten und Lehrer am Rechtsstudium in Orléans sowie ihnen als Autoren zuzuordnender Schriften (jeweils 85 Seiten Umfang), die bibliographisch genau nachgewiesen und in ihrem Aufbau sowie Zitaten zu Incipit und Explicit, vielfach auch aus dem Argumentationsgang des Textes, sowie einer forschungsbezogenen Einordnung vorgestellt werden. Das Verzeichnis der ungedruckten wie gedruckten Quellen gibt einen Eindruck von der gewaltigen Erschließungsleistung, die hier vorgelegt wird. Ein Index der Namen und Handschriften sowie ein Sachregister sind für die Orientierung hilfreich.

Die Einleitung handelt detailliert von der Einrichtung und Entwicklung des Rechtsstudiums an der Universität Orléans, ein erstes Kapitel nimmt den Untertitel des Bandes auf und behandelt das Rechtsstudium in Orléans nach drei Beschreibungskategorien (Orte, Menschen, Zeiten). Die Stadt, die Universität und deren wechselvolles Verhältnis werden vorgestellt sowie die Selbstorganisation der (als „individus“ verstandenen) Studenten im Studium und in der werdenden Institution der universitas. Mit diesem umfassenden Zugriff und auf nicht weniger als 105 Seiten erreicht das erste Kapitel der Arbeit bereits monographischen Umfang und könnte als Sozial- und Institutionengeschichte der Rechtsfakultät für sich stehen. Vielleicht deshalb setzt die Zählung der beiden unterschiedenen Teile des Bandes überraschenderweise erst danach ein: Teil 1 (166 Seiten) handelt von der Entwicklung der Rechtswissenschaft an der Universität Orléans, Teil 2 (233 Seiten) von der Ausbildung (künftiger) Verwaltungsexperten.

Die drei thematischen Bereiche, in die das Buch unterteilt ist, können jeweils selbständig verstanden werden. Durch vielfache Mehrfachbezüge und die in allen Teilen dichte, mitunter geradezu mikrohistorische Darstellung erschließt sich den Lesenden sukzessive das Verständnis für die aus tiefer Quellenlektüre gewonnenen – und erfreulicherweise durch ausführliche Zitate im Anmerkungsapparat nachgewiesenen – Befunde. Bassano beschreibt nicht nur die Entstehung eines bedeutenden Rechtsstudiums, sondern legt eine in der Breite ihres Ansatzes und der Sorgfalt der Quellenrecherche herausragende, exemplarische Arbeit vor, die Grundsätzliches (und dabei vielfach Neues) zur Genese der Universitäten und deren Fakultäten im Spätmittelalter und ihrer Bedeutung in der zeitgenössischen Gesellschaft bietet.

Was noch vor Orléans schon für Neapel und seit dem 14. Jahrhundert für alle Stiftungsuniversitäten galt, wird hier programmatisch als Kernthese definiert: Das Studium der Rechte und die Förderung der Universität zielten auf die Ermöglichung von Karrieren in der obrigkeitlichen, kirchlichen wie herrschaftlichen Administration. Dieser Befund könnte für sich genommen nicht überraschen. Bassano gelingt es aber zu zeigen, was ansonsten meist nur Vermutung bleibt: wie genau die Rechtslehre die gelehrte Tradition der überlieferten Textcorpora fortschrieb, dabei die Lehrmethode der scholastischen Syllogismen anwandte und in der universitären Lehre auf die praktische Anwendung des gelehrten Wissens ausgerichtet war. Aus der Übertragung des Wissens („transmission des savoirs“) in die gesellschaftliche Realität der späteren Tätigkeitsfelder gelehrter Juristen praktisches Wissen („savoir pratique“) zu generieren, war das entscheidende Profil des Rechtsstudiums in Orléans. Es machte den Studienort zur Konkurrenz gegen andere, sogar Bologna, und zog zahlreiche Interessenten von dort an. Der Untersuchungszeitraum der Studie ist durch die päpstliche Privilegierung und Erlaubnis, römisches Recht zu lehren, von 1230 und einer Reformphase markiert, die um 1320 zu einer Neuorientierung und dem Verlust des Geltungsvorsprungs gegenüber Bologna bestimmt war. Die Rede vom „langen 13. Jahrhundert“ ist hierin schlüssig begründet.

Indem Bassano essentielle Elemente der zeitgenössischen Wissenschaft und universitären Lehre erläutert, bleibt sie gerade nicht bei Grundlegendem stehen. Worin die scholastische Methode des Widerspruchs bestand, was genau eine Glosse war und wie sich deren Gestaltung im praktischen Vollzug änderte, was das Prinzip der aequitas bedeutete, wie eine Disputation aufgebaut war und welchen Anteil sie an der universitären Lehre hatte, schließlich den Erkenntniswert einer quaestio und distinctio und nicht zuletzt die methodische Handhabung von causae (als Fall logischer Argumentation wie rechtlicher Beratung) – alle diese Begriffe werden zunächst geradezu lexikalisch erläutert und dann im Kontext der Entwicklung einer bedarfsorientierten Rechtswissenschaft neu definiert. Sie fügen sich ein in die für die Rechtsstudien von Orléans während des Untersuchungszeitraums bezeichnende Nutzung der scholastischen Logik im juristischen Feld („utilisation de la logique dans le champ juridique“).

Das Rechtsstudium lehrte eine notwendig textbasierte Wissenschaft für eine (modern gesprochen) berufsfeldbezogene Ausbildung („formation“). Wie Bassano die sprachlogisch reflektierte Argumentationslehre vorstellt, ist eindrucksvoll zu lesen und vermittelt einen in dieser Detailgenauigkeit und Quellenbasiertheit geradezu solitären Einblick in die selten bezeugte universitäre Unterrichtspraxis. Sie nimmt die Lesenden mit in den Unterrichtsalltag und versucht, den Ablauf der Lehrstunden und das dahinter stehende Curriculum anhand erhaltener Zeugnisse als strukturierte Ordnung (auch anhand von instruktiven Tabellen) zu zeigen.

Dass sie dafür von autoritativen und sogar normativen Textzeugnissen ausgehen und die Frage nach der Tatsächlichkeit der darin beschriebenen Lehrrealität vielfach offenlassen muss, bleibt unvermeidlich. Was die Studie von Bassano auszeichnet, ist, dass sie diese Zusammenhänge ausdrücklich reflektiert. Ähnlich verhält es sich mit der dringenden, aber kaum zu beantwortenden Frage nach dem Buchbesitz von Studenten. Für das Verständnis einer Autoritäteninterpretation in der Vorlesung eigentlich unerlässlich, war er doch offenbar nur selten gegeben. In der Einleitung wird darauf hingewiesen und Wissenswertes zur Produktion und Distribution von Büchern an Universitätsstandorten gesagt. Auch die Rahmenbedingungen und Begleitumstände bleiben nicht unerwähnt, so in der Einleitung die (eher negativ zu beantwortende) Frage nach schulischen Vorläufern des Rechtsstudiums in Orléans und am Schluss die Konflikte zwischen Legisten und Dekretisten, Theologen und Juristen oder der Rangstreit zwischen Adel und Rechtsgelehrten.

Der Titel des Bandes wird in der stringenten Zusammenfassung nochmals aufgenommen. Im Diktum „vom Lehrer zum Schüler“ („de maître à élève“) verbirgt sich ein verdeckt bleibender interdisziplinärer Forschungsdiskurs über die persönlichen Bindungen zwischen Lehrenden und Lernenden. Er wird von Bassano schlüssig auf ihre Leitthese gelenkt, indem sie die Anwendung („utilisation“) des Wissens ins Zentrum stellt: Die gelehrte Tradition als Erbe („héritage“) der Generationen von vorausgegangenen Lehrern sei für die Praxis nützlich gemacht worden durch den Dreischritt von Wissen, Habitus und Gemeinsinn („sens de la chose publique“). Darin liege die Nahrung („nourriture“), die das Studium den Schülern geboten habe. Man hätte an dieser Stelle noch auf ein anderes Diktum aus dem Untersuchungszeitraum verweisen können: das Sprachbild von den Zwergen auf den Schultern von Riesen.

Es gelingt Bassano, sich strikt quellenbasiert der historischen Realität mit gebotener Vorsicht, methodisch konsequent und selbstkritisch, zu nähern. Ausgreifende theoretische Deutungsansätze werden dafür nicht bemüht. Bassano schließt zu einer Wissens- und (Studien-)Alltagsgeschichte der Gelehrten und Studenten des Rechts an der Universität Orléans im Spätmittelalter auf. Das umfangreiche Buch stellt wegen seiner detailreichen, dichten Beschreibungen eine herausfordernde Lektüre dar. Es bietet aber einen reichen Fundus an Entdeckungen und Verbindungen, die Bekanntes in neuem Licht zeigen und Neues erschließen. Die Universitätsgeschichte des Mittelalters ist mit diesem Buch nicht nur um ein gewichtiges gelehrtes Werk reicher, sondern findet darin richtungweisende Impulse für künftige Forschungen aus der ganz offenbar vorhandenen, aber noch nicht hinreichend gehobenen Überlieferung.

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