Viele konsumhistorische Publikationen beginnen mit der Vorbemerkung, dass die deutsche Geschichtswissenschaft im Vergleich insbesondere zur angelsächsischen Forschung einen blinden Fleck hinsichtlich der Bedeutung konsumgesellschaftlicher Phänomene habe. Diese Feststellung kann inzwischen jedoch wohl als überholt gelten. Die Konsumgeschichte ist in den vergangenen zwei Jahrzehnten auch in Deutschland zu einem etablierten Forschungsfeld geworden. Dies lassen schon die zahlreichen Überblicksdarstellungen und Sammelwerke erkennen, die gerade in jüngerer Zeit erschienen sind. Nach einigen Tagungsbänden und einer Reihe von vornehmlich an Studenten adressierten Einführungswerken haben nun Heinz-Gerhard Haupt und Claudius Torp erstmals ein Handbuch zur Konsumgeschichte herausgegeben.
Anders als die meisten zuvor publizierten Überblickswerke, die vielfach international vergleichende Perspektiven wählen, konzentriert sich das Handbuch vor allem auf die deutsche Entwicklung und legt seinen Fokus bewusst auf das späte 19. und das 20. Jahrhundert. Die Herausgeber wenden sich in ihrer Einleitung gegen die ihrer Ansicht nach immer noch vorherrschende Identifizierung der Konsumgesellschaft mit der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg und betonen die Bedeutung des späten Kaiserreichs für die Ausbildung konsumgesellschaftlicher Strukturen. An dieses Plädoyer knüpft eine alle Kapitel durchziehende Grundannahme an: Trotz des ständigen Wechselspiels von Perioden des Mangels und des Überflusses sei die Konsumgesellschaft seit dem späten 19. Jahrhundert durch ein relativ konstantes Grundgerüst gekennzeichnet, dessen Ausprägungen sich unter dem Einfluss äußerer Faktoren allerdings ständig veränderten. Indem sie Konsum als Befriedigung eines subjektiven und somit höchst variablen, zahlreichen Einflüssen ausgesetzten Bedarfs definieren, betonen die Herausgeber das Synthesepotential des Phänomens, das "die verschiedenen Dimensionen sozialer Wirklichkeit durchdringt". Die Geschichte des Konsums wird in dieser Perspektive zur Gesellschaftsgeschichte. Und eben dies ist das Ziel des Bandes: Er will die deutsche Gesellschaft des "langen 20. Jahrhunderts" als Konsumgesellschaft beschreiben, folglich einen Beitrag zu einer Gesellschaftsgeschichte leisten, die die "Interdependenz gesellschaftlicher Teilbereiche" in den Mittelpunkt stellt, ohne die "Gebrochenheit der Moderne" zu verleugnen (S. 9f.).
Die "Multidimensionalität" des Konsums bildet sich bereits in der Gliederung des Handbuchs ab. Seine insgesamt 26 Artikel sind vier nach gesellschaftlichen Teilsystemen gebildeten Blöcken zugeordnet: Wirtschaft, soziale Gruppen, Politik sowie Kultur und Wissenschaft. Diese Zuordnung wirkt teils etwas gezwungen, doch illustrieren die erkennbaren Abgrenzungsschwierigkeiten genau jene Interdependenzen, um die es den Herausgebern vordringlich geht. Bereits im ersten Kapitel zum Konsum als wirtschaftlicher Praxis wird dies deutlich. So untersucht Roman Rossfeld die durch die Industrialisierung induzierten Veränderungen der Ernährung, die ihrerseits auf die sich ausdifferenzierende und stark anwachsende Nahrungsmittelproduktion wirkten. Auch die Beiträge zur Entstehung von Massenmedien (Kaspar Maase), zu Werbung und Marketing (Peter Borscheid), zur Herausbildung des Massentourismus (Hasso Spode) und zu Produkten der täglichen Hygiene (Ulrike Thoms) analysieren das Schnittfeld der komplexen Beziehungen zwischen Angebot und Nachfrage, wirtschaftlichen und kulturellen Praktiken. Dass weitere wichtige Konsumsektoren wie beispielsweise die Kleidung nur gestreift werden, erstaunt etwas, ist aber wohl dem Bestreben geschuldet, im Format des "Handbuchs" im Wortsinne zu bleiben. Neben dieser folglich eher als exemplarisch zu bezeichnenden Betrachtung einzelner Konsumfelder erläutert Wolfgang König in einem branchenübergreifenden Artikel Rationalisierung und Massenproduktion als "notwendige, aber nicht hinreichende Bedingungen der Konsumgesellschaft" (S. 61).
Klingt die Funktion des Konsums als Mittel der Identitätsbildung und Distinktion in diesen Aufsätzen bereits an, steht sie in den folgenden Beiträgen zur Ausdifferenzierung von Konsumpraktiken nach sozialen Lagen (Gunilla Budde, Heinz-Gerhard Haupt), Geschlechtern (Erica Carter), Generationen (Rainer Gries), Ethnien (Maren Möhring) und Lebensräumen (Daniela Münkel) ganz im Mittelpunkt. Konsum wird hier als Ausdruck und Manifestation, aber zugleich auch als Motor gesellschaftlicher Veränderungen charakterisiert. Gunilla Budde kommt beispielsweise zu dem Ergebnis, dass sich das Bürgertum in der bundesrepublikanischen Wohlstandsgesellschaft zwar der Gefahr einer Nivellierung von Klassengrenzen ausgesetzt sah, gleichzeitig aber die Chance erhielt, eine neue, verfeinerte Konsumkultur zu entwickeln. Sie wertet dies als Ausweis einer im Verhältnis zum Kaiserreich und zur Weimarer Republik noch gesteigerten performativen Qualität des Konsums und unterstreicht so die in der Einleitung betonte Gleichzeitigkeit von strukturellen Kontinuitäten und sich wandelnden Ausprägungen der Konsumgesellschaft. Neue soziale Grenzziehungen traten an die Seite überkommener Differenzierungen. Dies legt auch die Untersuchung von Rainer Gries nahe, die die gemeinsame Erfahrung spezifischer Produkthorizonte als konstitutives Kennzeichen von Generationszusammenhängen im späten 20. Jahrhundert begreift.
Das Verhältnis von Konsum und Öffentlichkeit sowie die Rolle des Konsumenten als "Subjekt und Objekt zugleich" (S. 14) stehen im anschließenden Themenblock im Vordergrund. Hier geht es um den Konsum als Gegenstand politischer Debatten und Interventionen, insbesondere um die Aushandlung der Rechte und Pflichten der Konsumenten. Während die anderen Abschnitte thematisch gegliedert sind, ist dieses Kapitel chronologisch aufgebaut und schlägt den Bogen von der "Entdeckung" des Konsumenten im späten Kaiserreich (Christoph Nonn) über die rasche und prägende Abfolge von Mangelverwaltung und erstem massenkulturellen Boom im Ersten Weltkrieg und in der Weimarer Republik (Belinda Davis, Claudius Torp) bis zur widersprüchlichen NS-Konsumpolitik (Hartmut Berghoff), um schließlich die divergierenden konsumgesellschaftlichen Modelle der BRD (Michael Wildt) und der DDR (Ina Merkel) in den Blick zu nehmen.
Das letzte Kapitel bildet schließlich die Hintergrundfolie für die zuvor dargestellten Verschiebungen in der Konsumpolitik, indem es die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Phänomen Konsum und kulturelle Leitbilder in den Fokus nimmt. In der Soziologie (Dominik Schrage) erlebte der Konsum als Untersuchungsgegenstand verschiedene Konjunkturen der Aufmerksamkeit; seine Betrachtung changierte zwischen der Wertung als eine der Produktion stets nachgeordnete Instanz und als "nahezu ubiquitärer Aspekt der Gegenwartsgesellschaft" (S. 334). In der deutschen Ökonomie (Jakob Tanner) wurde der Konsum bereits Mitte des 19. Jahrhunderts vom negativ konnotierten Randphänomen zum zentralen Erklärungsmoment von Marktprozessen. Ebenso wie Tanner und Schrage die wissenschaftlichen Theorien als zeitbezogene Analysen der verschiedenen Entwicklungsstadien der Konsumgesellschaft auffassen, kontextualisieren die folgenden Beiträge konsumgesellschaftliche Leitbilder und nehmen ihre historischen Einflussfaktoren in den Blick. Michael Prinz schildert die vielfach unterschätze Langlebigkeit selbstversorgerischer Strukturen und Gesellschaftsbilder, die aus tief verankerten pessimistischen Zukunftserwartungen folgte, und zeigt eindrücklich, dass der vielzitierte Optimismus des "Wirtschaftswunders" ein nachträgliches Konstrukt ist. Adelheid von Saldern und Axel Schildt erörtern die Zirkulation von Konsumleitbildern und konsumtiven Praktiken zwischen den USA und Deutschland und entwerfen ein differenziertes Bild der schon sprichwörtlichen "Amerikanisierung" des deutschen Konsumverhaltens. Nicht so recht in den Kontext des Kapitels passen Alexander Schugs Artikel zur Werbung und Kultur des Kapitalismus, der überdies viele Überschneidungen zu Borscheids Ausführungen im ersten Teil des Handbuchs aufweist, und Pascal Eitlers durchaus instruktive Studie zur Sexualität als Ware.
Im Vergleich zu anderen Publikationen gibt der Band den wohl umfassendsten Überblick über den aktuellen Forschungsstand – zumal es den Herausgebern gelungen ist, fast durchgängig Autoren zu gewinnen, die sich bereits als Experten des jeweils behandelten Themenfelds ausgewiesen haben. In knapper Form bieten diese gewissermaßen die Quintessenz ihrer bisherigen Forschungen. Die Einleitung zeichnet darüber hinaus die wichtigsten Tendenzen der deutschen konsumhistorischen Forschung nach. Gerade für Studenten und Leser, die einen ersten Einstieg in einzelne Themen suchen, ist diese Konzeption, die durch eine umfangreiche Bibliographie und ein Sachregister ergänzt wird, ideal. Sie hat aber gezwungenermaßen die Kehrseite, dass eine Reihe von Artikeln für Leser, die mit der Materie bereits vertraut sind, nicht allzu viel Überraschendes bietet. Dies wiegt jedoch weniger schwer angesichts dessen, dass vielfach auch ungeklärte Fragen angeschnitten und damit weitere Forschungsperspektiven eröffnet werden und sich zudem auch einige Aufsätze finden, die erst kürzlich ins Blickfeld der (konsum-)historischen Forschung geratene Aspekte behandeln. Ein lesenswertes Beispiel bietet Maren Möhring, die anhand der im 19. Jahrhundert entstandenen "Fiktion" der deutschen Küche und der Ernährungspraktiken von Migranten zeigt, wie Konsumgüter zu Medien der (Selbst-)Ethnisierung wurden. Neben "klassischen" Themenfeldern verfolgt der Band so auch neuere, kulturhistorisch inspirierte Ansätze und fängt auf diese Weise die verschiedenen Facetten der Konsumgeschichte und die "Multidimensionalität" des Konsums ein. Dem angestrebten Handbuchcharakter wird er damit in hohem Maße gerecht.