Als Verbindung von Rhein und Weser war der westfälische Hellweg in der frühen Neuzeit eine zentrale Verkehrsachse, die ähnlich der Autobahn 44 das heutige Ruhrgebiet durchquerte, dabei allerdings direkt durch die größeren Städte Duisburg, Essen, Dortmund und Paderborn verlief. Hinter Paderborn verzweigte sich der Hellweg und sicherte nach Norden die Anbindung an Lübeck, nach Osten verband er sich über Leipzig mit der Via Regia, von Süden war der Anschluss über den Rhein bei Köln gesichert. Die besondere Lage eines Nadelöhrs inmitten des europäischen Wegenetzes zwischen Flandern und dem Niederrhein als West-Ost-Achse mit Anbindungen nach Süden und Norden reizte die Herausgeber:innen dieses Sammelbandes, den Raum entlang des Hellwegs unter den Gesichtspunkten des Kulturtransfers und der europäischen Migration zu untersuchen. Dass sich frühneuzeitliche Reisegewohnheiten fruchtbar mit diesen Thematiken verbinden lassen, haben zuletzt vor allem Studien zur Grand Tour in Italien gezeigt.1 In diesem Sammelband wird die Raumwirkung genau andersherum betrachtet: Nicht die Reisenden, sondern die vergleichsweise kleine Region des Hellwegraums steht im Fokus; als Transfer- ebenso wie als Verweilraum.2 Nachgezeichnet werden Prozesse von Pluralisierung und Verflechtung entlang des Hellwegs, und zwar gespiegelt im Medium der Musik. Mit dem erkenntnisleitenden Konzept der Musiklandschaften (im Plural!) rücken die Herausgeber:innen „Musik als Kunst- nicht als Nebenprodukt der Kulturgeschichte“ (S. 26) in den Fokus. Die in Köln lehrende Musikwissenschaftlerin Sabine Meine, der an der Universität Paderborn ansässige Historiker Johannes Süßmann und der frühere Leiter des Paderborner Stadtarchivs Arnold Otto wollen mit diesem Sammelband zeigen, dass sich entlang des Hellwegs Musiklandschaften bildeten, die exemplarisch für das Europa der frühen Neuzeit regional Diversifikationen wie Assimilationen aufweisen. Damit schenken sie nicht nur einer Region unter musikwissenschaftlichen Gesichtspunkten neue Aufmerksamkeit, die lange unter der weit verbreiteten Annahme, hier habe sich musikalisch wenig ereignet, ein disziplinäres Schattendasein fristete. Sie wirken auch innovativ in andere historische Wissenschaften hinein, indem Prozesse des Kulturtransfers und der frühneuzeitlichen Migration über das Fallbeispiel der Musik illustriert werden, welche so als Faktor der Kulturgeschichte des Politischen in den Blick genommen und neu bewertet werden können. Es sind Wechselwirkungen von Politik, Wirtschaft und Gesellschaft und ihren Musiken, denen die zwölf Beiträge des Bandes nachspüren. Er hält die Ergebnisse einer interdisziplinären Tagung 2018 in Paderborn fest. Methodisch anspruchsvoll formulieren Meine, Süßmann und Otto als Ziel von Tagung und Band, den Transfer und die Adaption musikalischer Stile, den Austausch von Musikalien und die Migrationsbewegungen des musikalischen Personals als Teil der politischen Kommunikation Westfalens nachzeichnen zu wollen. Die europäische Prägung der Landschaft muss eine besondere Form politischer Kommunikation über Musik möglich gemacht haben, die ihrerseits den politisch-sozialen Raum prägte, so die plausible wie spannende Grundhypothese der Herausgeber:innen: „Die Vielfalt der Transfermöglichkeiten konnte selektiv genutzt werden, um durch die eigenen Präferenzen einen bestimmten Musikgeschmack zu demonstrieren und sich von anderen politischen und konfessionellen Akteuren in Westfalen abzusetzen. So gesehen, sind die allseitige Offenheit und der permanente Transfer kein Einwand gegen die Spezifizität einer aus politischer Kommunikation hervorgehenden Musiklandschaft, sondern deren Bedingung.“ (S. 36)
Die Beiträge sind jeweils als Duett gruppiert, gehen aber thematisch und methodisch fließend ineinander über. Nach zwei einführenden Beiträgen, in denen die Besonderheiten der Region (Werner Freitag) und mögliche interdisziplinäre Schnittstellen der Konzepte Landschaft und Musiklandschaft (Heinz-Dieter Heimann) perspektivisch ausgelotet werden, verdeutlichen vor allem die Beiträge zu Musikerinnen und Musikern den großen Einfluss italienischer Musik im frühneuzeitlichen Westfalen. In Vera Lüpkes‘ Beitrag, der den Hof Simons VI. und die dort tätigen Komponisten Cornelius Conradi und Johann Grabbe behandelt, fügt sich der Ausbau des Residenzschlosses Brake mit Festsaal und neuer Orgel nahtlos in die europäische Festkultur mit ihren zahlreichen Höfen, die eigens für musikalische Aufführungen Räume schufen. Grabbe, der vom Niederländer Conradi ebenso wie auf einer Venedig-Reise von Giovanni Gabrieli lernte, scheint ein personifiziertes Beispiel für den Hellwegsschen Kulturtransfer, wenn er auch den englischen Kompositionsstil erst in seiner späteren Zeit in Bückeburg kennenlernen sollte (vgl. S. 128). Britta Käglers Vergleich des Essener Kanonissenstifts mit dem Münchner Hof unter dem Aspekt der Mobilität frühneuzeitlicher Musikerinnen und Musiker präsentiert mit den gebrauchten Tanzschuhen der letzten Essener Fürstäbtissin Maria Kunigunde von Sachsen ein eindrückliches Bild, um die Zentralität höfisch-musikalisch geprägter Verhaltensnormen zu beleuchten und betont, dass Essen „in den Austausch von Musikstücken und Musikern genauso eingebunden war, wie andere Höfe.“ (S. 104) Der Beitrag von Markus Lauert vollzieht für den Landadel an Beispielen aus Corvey und Bruchhausen zu Beginn des 18. Jahrhunderts nach, wie die humanistische Musikerziehung als Transfer des italienischen „Bildungskonzepts“ (S. 207) für den sozialen Aufstieg nicht nur wesentlich war, sondern mit praktischen Konsequenzen für den Erwerb von Kirchenpfründen verbunden wurde. Beinahe wirkt es als Strukturmerkmal der Region, wenn die Beiträge über Agostino Steffani (Lars Wolfram) und seinen Librettisten Ortensio Mauro (Hans-Walter Storck) wiederum Italien an die Pader beziehungsweise die Leine bringen. Dass hier möglicherweise die in einigen Beiträgen angesprochene schwierige Quellen- und Forschungslage ein verzerrtes Bild geben könnte, scheint der Beitrag Gerhard Aumüllers nahezulegen, der fast aus dem Rahmen fällt, weil darin der italienische Einfluss so gar keine Rolle spielt. Aumüller arbeitet einerseits den niederländischen, hamburgischen und hessischen Einfluss in der Professionalisierung des Orgelbaus für das 16. und 17. Jahrhundert heraus, anderseits stellt er die Ausbildung „regionaltypischer Bauformen und Klangcharakteristiken“ fest (S. 191). Eine regionale Besonderheit stellt ferner das Fehlen einer etwa mit Nürnberg vergleichbaren Druckwerkstatt (Frédérique Renno) dar. Renno sieht den Prozess des Musiktransfers für die Region des Hellwegs stärker an Personen wie Johann Grabbe gebunden. Die Verbreitung italienischer Drucke bedürfte einer Ergänzung um die ebenfalls zirkulierende englische Musik (vgl. S. 234). Dieser Einschätzung Rennos muss man bei so viel ausgemachter italienischer Präsenz zustimmen. Eine Formung beziehungsweise Überformung der bestehenden Musiklandschaft als Politikum lassen insbesondere die Beiträge von Maria Kohle und Jörg Wunschhofer zu Paderborn vermuten. Musik wurde gegenreformatorisch eingesetzt, um einen musikalisch-politischen Raum zu markieren, stellen beide Autor:innen klar. Kohle zeichnet diese Appropriation über die Adaption protestantischer Gesänge in katholischen Gesangbüchern des Hochstiftes als systematische Contrafacta nach, ein Verfahren, bei dem Texte umgedichtet, die Melodien der ursprünglichen (in diesem Fall lutherischen) Lieder aber beibehalten wurden. Wunschhofer erläutert den Aufbau der Domkapelle Paderborns, die ein dezidiert „katholisches Profil sichtbar“ (S. 265) gemacht habe. Arno Parduchs Beitrag beschließt den Band und ergänzt dieses Bild des Paderborner Doms über die belegbaren Musikalieneinkäufe der Kapelle. Anders als für Corvey, Bredelar, Bevern oder Fritzlar, stellt sich die Überlieferungs- und Forschungslage zu Paderborn sehr gut dar.
Über die Konzentration auf Musik als Kulturform bietet der Band eine anregende Perspektive, um die Bedeutung des Auditiven weiter zu differenzieren, gerade weil das Konzept der Musiklandschaften in seiner Anwendung auf den Raum des Hellwegs sinnfällig aufzeigt, wie Interdisziplinarität zwischen der Musikwissenschaft und Geschichtswissenschaft ertragreich gelingen kann. Oftmals greifen die Beiträge ineinander, im obigen Beispiel (Kohle/Wunschofer/Parduch) oder wenn Kägler eine musikwissenschaftliche Analyse „stilistische[r] Brüche oder inhaltliche[r] Neuerungen“ (S. 102) als Desiderat für ein tieferes Verständnis des musikalischen Kulturtransfers formuliert, und Renno dieses vorbildlich in ihrem Aufsatz einlöst (vgl. S. 232).
Festzuhalten bleibt, dass sich die komplexe Region, dieser laut Freitag territoriale „Flickenteppich“ (S. 61), einer scharf abgrenzbaren Kartierung einzelner Landschaften ebenso entzieht wie ihre Musik. Musik sei „deutlich weniger semantisiert, als die visuellen Künste“ (S. 42), fassen die Herausgeber:innen den Ertrag zusammen. Für das Konzept der Musiklandschaften verstärkt sich der Eindruck eines Transitlandstrichs, der in vielerlei Hinsicht geöffnet blieb: Häufig wird beispielsweise auf weiterziehende Akteure verwiesen (Beispiel Grabbe, Beispiel Steffani). In Bezug auf die verheißungsvolle Ausgangshypothese bieten sich insbesondere die Beispiele einer katholischen Durchdringung des Auditiven mithilfe entsprechender Musik in Paderborn, aber auch im Spätwerk Steffanis, welches dieser nach dem Ausscheiden aus dem Vikariat verfasste, an. An ihnen lässt sich die Prägung des politischen Raums über Musik, der Transfer musikalischer Stile ebenso wie die Assimilation für die Zwecke des Lokalen veranschaulichen. Wünschenswert wäre eine stärkere Präsenz lutherischer oder reformierter Territorien gewesen. Allerdings ist hier die ungleich schwierigere Quellenlage mitzudenken. Im Band tauchen Duisburg, Unna oder Soest vor allem im sehr sinnvollen Orts- und Personenregister am Ende auf. Die Gretchenfrage nach der Konfessionalisierung über Musik lässt sich für Westfalen mit diesem Band also nicht umfassend, aber ein weiteres Stückchen besser beantworten. Mit der doppelten Frage nach dem Kulturtransfer eines Raumes und seiner politischen Konstituierung durch transferierte Kultur gehen die Herausgeber:innen in Bezug auf Musik neue, vielversprechende Wege. Dass der Raum des Hellwegs kulturhistorisch noch weiter ausgeleuchtet werden könnte, steht insbesondere mit Blick auf die in den Beiträgen überwiegend nur angedeuteten musikalischen Einflüsse aus dem Norden, Osten und Westen außer Frage. Die Reise durch diesen Teil Westfalens – sie gleicht einer vielversprechenden Grand Tour, die gerade erst beginnt.
Anmerkungen:
1 Vgl. beispielhaft für die Musik: Dinko Fabris (Hrsg), Passagio in Italia. Music on the Grand Tour in the Seventeenth Century, Turnhout 2015; für die bildende Kunst: Fernando Mazzocca / Stefano Grandesso / Francesco Leonelli (Hrsg.), Grand Tour. Sogno d’Italia da Venezia a Pompei, Mailand 2021.
2 Typischerweise stehen für Studien zum musikalischem Transfer weit größere Räume im Fokus der Forschung, vgl. Gesa zur Nieden / Berthold Over (Hrsg.), Musicians‘ Mobilities and Music Migrations in Early Modern Europe. Biographical Patterns and Cultural Exchanges, Mainz 2017.