Cover
Titel
428 AD. An Ordinary Year at the End of the Roman Empire


Autor(en)
Traina, Giusto
Erschienen
Anzahl Seiten
XIX, 203 S.
Preis
$ 24.95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Ulrich Lambrecht, Institut für Geschichte, Universität Koblenz-Landau

Bei den aus der Geschichte der Neuzeit bekannten Versuchen, die „Biographie eines Jahres“1 und sogar die „Biographie eines Tages“2 zu erfassen, geht es um die Darstellung von Wendepunkten mit dem Ziel, die Lebenswelt dieser Zeit darzustellen und mit Genese und Auswirkungen der Veränderungsphase kausal zu verknüpfen – also auch über Jahr und Tag hinauszuschauen – und deren Einmaligkeit in die Normalität eines historischen Prozesses zu integrieren. Der Begriff der „Lebensbeschreibung“ eines Individuums wird auf die Ereigniskette eines Tages oder Jahres übertragen. Die damit verbundene Verfahrensweise steht im Dienste der Rekonstruktion eines – kurzen – Zeitabschnitts im Leben aller davon betroffenen Menschen einer städtischen, regionalen oder staatlichen Gemeinschaft und ihrer Wechselwirkungen. Mit einer solchen Methode sind also mentalitätsgeschichtlich und historisch-anthropologisch orientierte Fragestellungen verbunden.

Auch wenn das Quellenproblem davor warnen dürfte, dieses Prinzip auf die Antike anzuwenden, hat Giusto Traina mit seinem Buch über das Jahr 428 n.Chr. einen solchen Versuch gewagt. Der Untertitel der englischsprachigen Ausgabe weist zudem darauf hin, dass es sich um ein „normales“ Jahr des spätrömischen Reiches handelt 3, keinen exzeptionellen Zeitabschnitt mit Signalfunktion für einen aktuellen Epochenwechsel. Daher könnte man diese Studie als eine andersartige Einführung in die Spätantike ansehen. Dies ist sie durchaus in dem Sinne, dass Traina an diversen Beispielen innen- und außenpolitische Probleme des Römischen Reiches im Jahre 428 erörtert und immer auch nach deren Auswirkungen auf die Lebenswelt der Bevölkerung fragt, selbst wenn die Quellen dieser Absicht gewisse Grenzen setzen. Zudem richtet er den Blick nicht nur auf die politischen Zentralen im Westen und im Osten des Reiches, sondern leistet eine auch in ihrer Abfolge geschickt angeordnete Tour d’horizon, die die gesamte römische Welt dieser Zeit und ihre Nachbarschaft einbezieht. So spricht er alle aktuellen Themen an, die das spätrömische Reich und seine Bevölkerung in diesem Jahr tangierten, verknüpft sie miteinander und verankert sie in der „Normalität“ dieser Zeit. Damit steht die Situation im Jahre 428 durchaus als pars pro toto für die Komplexität von Themen und Problemen, mit denen es das Imperium Romanum in der ersten Hälfte des 5. Jahrhunderts zu tun hatte; man gewinnt sozusagen auf induktivem Wege zugleich Einblick in eine ganze Epoche.

Traina beginnt mit seiner synchronen Schau im Osten: Die Perser bereiteten mit der Absetzung des Arsakiden Artaxias IV. dem nominell selbständigen Königreich Armenien ein Ende, ohne dass der römische Kaiser Theodosius II. (408–450) eingriff bzw. eingreifen konnte. Traina integriert das Schicksal Armeniens, seine Voraussetzungen und Folgen in eine Erzählung von der diplomatischen Gesandtschaft des magister utriusque militiae per Orientem Flavius Dionysius, der von Antiochia ins Perserreich reiste, um in Verhandlungen über Toleranz für die armenischen Christen den Ansehensverlust Roms in Grenzen zu halten. Abgesehen von der innen- und außenpolitisch jetzt prekären Situation des christlichen Armenien behandelt Traina im gleichen Zusammenhang die Quellenlage zum Schicksal Armeniens und die dürftigen Angaben zu der römischen Gesandtschaftsreise sowie ihre Hintergründe. Zugleich veranschaulicht er Züge des Christentums in Syrien am Besuch des römischen Heermeisters beim Säulenheiligen Symeon, der den hohen Militärrepräsentanten vor dem Aufbruch nach Osten von einer Krankheit heilte. Damit sind Grundzüge des Christentums im Osten angedeutet, die im nächsten Kapitel am Beispiel des vom Kaiser für den Bischofssitz von Konstantinopel ausersehenen syrischen Klerikers Nestorius, seiner Herkunft, Ausbildung und Prägung näher ausgeführt werden. Zugleich fließen Informationen zur antiochenischen theologischen Schule im Vergleich zu Alexandria ein, zum Bevölkerungsprofil von Antiochia, Syrien und der östlichen Grenzregion des Römischen Reiches mit ihren Auswirkungen auf die spezifische Färbung des hier gelebten Christentums – ebenso wie der paganen Traditionen. Am Reiseweg des Nestorius von Antiochia nach Konstantinopel in Begleitung der Militäreskorte wiederum unter Führung des Flavius Dionysius auf dem Pilgerweg quer durch Kleinasien führt Traina mit den Kontakten des künftigen Bischofs zu wichtigen Klerikern in den Städten unterwegs in die Gemengelage christlich-„politischer“ Einstellungen zu Häresien, Askese und Mönchtum ein, um das Oppositionspotential anzudeuten, das Nestorius wenige Zeit später als Bischof zu Fall bringen sollte.

Die nächsten Themen sind die Stadt Konstantinopel und Kaiser Theodosius II. Die Persönlichkeit des Kaisers und seine Fähigkeiten schätzt Traina günstiger ein als die ältere Forschung. Er bespricht die Situation am Hof, Verwaltungsmaßnahmen wie den Codex Theodosianus und die Lage des Christentums in der Stadt und im Osten des Reiches angesichts des heraufziehenden dogmatischen Streites. Von hier aus richtet er den Blick auf das ganze Römische Reich, bezieht den Westen mit Kaiser Valentinian III. (425–455) und seinen familiären und politischen Verbindungen zu Theodosius II. ein, die für eine Zeitlang aus den beiden Reichshälften wieder eine Einheit zu fügen schienen. Sodann geht es um das Veränderungspotential in Italien selbst: die Residenz Ravenna, die alte Hauptstadt Rom, den Senat, seine christlichen und nichtchristlichen Repräsentanten, den römischen Bischof, die ländlichen Regionen und ihren Wandel, wie sich unter anderem an der kampanischen Stadt Nola und ihrem Bischof Paulinus zeigen lässt. In dem von Völkerwanderungszügen gebeutelten Gallien dieser Zeit sieht Traina bereits das Mittelalter heraufdämmern 4, wie er besonders an Urteilen Salvians von Marseille glaubt belegen zu können, der aus seiner durch die asketischen Ideale von Lérins geprägten Sicht den moralisch verkommenen Römern mit den einfachen Barbaren einen Spiegel vorhält 5 und so eine Haltung vorbereitet, die in diesen Völkerschaften Lösungen für die gesellschaftlichen Probleme der Gegenwart sieht. Eine nähere Diskussion von Begrifflichkeiten wie „barbarian invasions“ (S. 65), „Völkerwanderung“ (S. 160, Anm. 6) und „clash of civilizations“ (S. 75) mit deren immanenten Bewertungen wäre wünschenswert gewesen. Am Schluss wirft Traina noch einen Blick auf das dem römischen Zugriff bereits entglittene Britannien.

Den Völkerwanderungsbewegungen folgend, sind Trainas nächste Schauplätze Spanien und Nordafrika; König Geiserich 6 und seine Vandalen bereiteten sich im Jahre 428 auf den Übergang nach Afrika vor. Die politische Lage in Afrika und ihre Vernetzung mit dem Raum auf der nördlichen Seite des Mittelmeeres erörtert er an dem Verhalten und den Plänen des comes Bonifatius, die religiöse Situation und ihre Facetten an Äußerungen des Augustinus. Die drei letzten Kapitel sind Ägypten, Jerusalem und dem Heiligen Land sowie dem Perserreich gewidmet. Es geht unter anderem um die Lage der Christen im Machtbereich der Perser nach der Vertreibung der „Nestorianer“ aus dem Römischen Reich, auch um die Christen Armeniens, und die geostrategischen Interessen des persischen Großreichs angesichts der Bedrohung durch die Hunnen. Damit schließt sich der Kreis: im Kleinen rund um Armenien, einen Forschungsschwerpunkt Trainas, im Großen rund um das Mittelmeer, äußerlich bestimmt durch die diffizile politische Lage des Römischen Reiches um das Jahr 428, innerlich durch ein Selbstverständnis, das durch die christliche Religion geformt wird, die in regionaler Ausdifferenzierung und in unterschiedlichen Lebensformen mehr und mehr an Einfluss gewinnt – auf die Alltagswelt im praktischen Sinne ebenso wie auf anderen Ebenen als theologisch-politisches Instrumentarium in der Hand von Klerikern wie von weltlichen Machtträgern.

Die von Traina meistzitierte Autorität ist nicht von ungefähr der irische Althistoriker Peter Brown; auch dem methodischen Repertoire der britischen Altertumswissenschaftlerin Averil Cameron fühlt er sich verpflichtet. In der „Biographie“ des Jahres 428 erscheint bei allen nicht nur völkerwanderungsbedingten Krisenphänomenen eine Welt des Übergangs, die entscheidend unter dem Einfluss des – auch in dem Buch – omnipräsenten Christentums und seiner Einwirkungen auf die Mentalität und damit deren Wandel steht, so dass Traina verschiedentlich bereits „trial runs for the Middle Ages“ (S. 63) ausmacht. Im Epilog führt er die Darstellung der Ereignisse von 428 über dieses eine Jahr hinaus zu Ende. Trotz gelegentlicher Rück- und Ausblicke liefern die vorausgehenden Kapitel, beschränkt auf den kurzen Zeitabschnitt eines einzigen Jahres, im Wesentlichen – wenn auch in der Vielfalt dynamisch wirkende – Zustandsberichte. In der Tat führen die vielfältigen Geschehnisse der Zeit letztlich zum Ende Roms und zum Anbruch einer neuen Welt, besser: in verschiedenen Teilen des römischen Imperiums zum Anbruch neuer Welten. Daher versichert Traina zum Schluss sich und seine Leser der Gültigkeit der von ihm gebotenen Querschnittsanalysen: „… in 428, Rome, although a little less eternal, was still very much a real entity and had not yet been reduced to a mere concept“ (S. 132). Das führt er in elf Kapiteln gekonnt vor, ohne Ereignisgeschichte auszublenden, vielmehr im engen gegenseitigen Bezug von Ereignissen und menschlichen Einstellungen. Auf diese Weise bleibt sichergestellt, dass Mentalitäten im Wechselspiel mit dem historischen Wandel zeitlich einzuordnen sind und nicht im luftleeren Raum stehen. Diese Synopse des Jahres 428 spricht ein breiteres Publikum an, doch bietet ein umfangreicher Anmerkungsteil mit Hinweisen auf Forschungsfragen und -literatur auch dem informierten Leser Anregungen zur Vertiefung.

Anmerkungen:
1 Vgl. etwa Theo Sommer, 1945. Die Biographie eines Jahres, Reinbek 2005.
2 Vgl. etwa Winfried Schulze, Der 14. Juli 1789. Biographie eines Tages, Stuttgart 1989.
3 Der italienischen Originalausgabe fehlt diese Spezifizierung, ihr Titel lautet: 428 dopo Cristo. Storia di un anno, Roma 2007.
4 Es dürfte allerdings eine zu einfache Lösung sein, in der von dynastischem Legitimationsdenken geleiteten Herrschaft der theodosianischen Familie im Osten und im Westen bereits ein mittelalterliches Prinzip walten zu sehen (so Traina S. 51). Damit allein kann man den princeps puer ebenso wenig erklären wie den princeps clausus. Die Wurzeln des dynastischen Denkens führen durchaus bis in den frühen Prinzipat und noch weiter zurück. Wohl findet man in der Abtrennung der Feldherreneigenschaft von dem kaiserlichen Selbstverständnis und in der Christianisierung der Herrscherideologie Gründe für die Akzeptanz des Kinderkaisertums; vgl. hierzu etwa Frank Kolb, Herrscherideologie in der Spätantike, Berlin 2001, S. 140.
5 So entschuldigt Salvian (gub. 5,14) beispielsweise die arianische Konfession der Germanen mit der Verantwortung der Römer, bei denen der Arianismus zur Zeit und im Umfeld der Christianisierung der Westgoten unter Bischof Wulfila im unteren Donauraum Wohlwollen von höchster Seite genoss. Dies hätte Traina S. 68 zu seinen Ausführungen über „the Goths’ Christianity, which was a particularly radical form of Arianism, to which they had in turn converted other Germanic peoples“, noch ergänzen können.
6 Die Übernahme des Königtums durch Geiserich dürfte wohl kaum etwas mit einer Art Senioratsprinzip zu tun haben (so aber Traina S. 82f.). Helmut Castritius, Die Vandalen, Stuttgart 2007, S. 68f., denkt im Anschluss an Prok. bell. Vand. 1,3,23 an ein Doppelkönigtum mit dem (Halb-)Bruder Guntherich, das Geiserich nach dessen Tod 428 allein fortgeführt habe.

Redaktion
Veröffentlicht am
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension