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Titel
Violence and Social Orders. A Conceptual Framework for Interpreting Recorded Human History


Autor(en)
North, Douglass C.; Wallis, John J.; Weingast, Barry R.
Erschienen
Anzahl Seiten
308 S.
Preis
$ 30.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Martin Lutz, Fachbereich Geschichte und Soziologie, Universität Konstanz

Mit "Violence and Social Orders" schließt sich der Kreis zu Douglass Norths erstem Hauptwerk "The Rise of the Western World" von 1973.1 In beiden Büchern steht die Frage nach dem ökonomischen Aufstieg Westeuropas im Zentrum. Doch während sich North bislang weitgehend auf die Entwicklung ökonomischer Institutionen konzentriert hat, nimmt er mithilfe des Ökonomen John Wallis und des Politologen Barry Weingast eine signifikante Erweiterung seiner Forschungsagenda vor. Den Autoren geht es um die Entwicklung eines integrierten Ansatzes zur Erklärung gesellschaftlicher Wandlungsprozesse, der neben ökonomischen auch politische Institutionen berücksichtigt. Sie argumentieren, dass Gesellschaften mittels Institutionen Akteursgruppen die Kontrolle über Ressourcen zuweisen und dadurch die menschlichen Gesellschaften inhärente Gewalt reduzieren bzw. deren Anwendung an verbindliche Regeln knüpfen. Diese institutionellen Arrangements werden als "social orders" bezeichnet. Im Ergebnis versuchen die Autoren damit, den Zusammenhang zwischen demokratischen "open access"-Gesellschaften bzw. nicht-demokratischen "limited access"-Gesellschaften und wirtschaftlichem Wohlstand zu erklären.

Das Buch ist in sieben übersichtliche Kapitel gegliedert, die einen guten Zugang zur Forschungsagenda ermöglichen. Kapitel 1 stellt den konzeptuellen Rahmen vor. Anhand einiger Statistiken zum Zusammenhang zwischen Wohlstand und sozialen Ordnungen beobachten die Autoren, dass sich ein klarer Unterschied im Wohlstandsniveau zwischen "open access"- und "limited access"-Gesellschaften ausmachen lässt. Anschließend werden die vier zentralen Begriffe des Ansatzes vorgestellt: "violence", "institutions", "organizations" und "beliefs". Mit diesen begrifflichen Werkzeugen unternehmen die Autoren den Versuch, die Entwicklung menschlicher Gesellschaften über einen langen Zeithorizont (seit der neolithischen Revolution) in unterschiedlichen kulturellen Kontexten (darunter das Karolingerreich, das Aztekenreich und England seit der normannischen Invasion) zu verfolgen.

In Kapitel 2 wird zunächst der Übergang von primitiven Gesellschaften hin zu den ersten staatlichen Strukturen vollzogen, die als "natural states" bezeichnet werden. Kennzeichnendes Merkmal des "natural state" ist es, dass die Gefahr innergesellschaftlicher Gewalt durch die Zuweisung von Privilegien an die jeweils dominierende Elite gebändigt wird. Die Elite generiert durch diese Privilegien Renten, die ihre Herrschaft stabilisieren und die Anreize für die Beibehaltung des status quo schaffen. Der Zugang zur dominierenden Elite bzw. zu ihren Organisationen ist stark begrenzt, der "natural state" ist damit die Verkörperung einer "limited access"-Gesellschaft. Im folgenden Kapitel werden diese Überlegungen auf England übertragen und in einem dreistufigen Modell weiterentwickelt, das den "natural state" in die Phasen "fragile", "basic" und "mature" einteilt. Wichtig an diesem Modell ist, dass der Übergang von einer "limited access"- hin zu einer "open access"-Gesellschaft nur erfolgen kann, wenn die institutionellen Voraussetzungen des "mature natural state" erreicht sind.

Das Kapitel 4 ist "open access orders" gewidmet, die marktwirtschaftliche Demokratien westlicher Prägung bezeichnen. Den Autoren zufolge sind diese Gesellschaften durch Institutionen geprägt, die jedem Staatsbürger einen Zugang zum politischen System ermöglichen. Das Problem von Gewalt wird dadurch gelöst, dass ihre unmittelbaren Träger (Militär, Polizei etc.) vom direkten politischen Wettbewerb ausgeschlossen sind. Offene Gesellschaften zeichnen sich durch eine weitaus höhere adaptive Effizienz aus als "natural states", da sie flexibler auf Veränderungen der Umwelt reagieren können.

Die beiden folgenden Kapitel behandeln den Wandel von sozialen Ordnungen. Es wird betont, dass dieser Wandel keinesfalls als "Fortschritt" im Sinne eines teleologischen Prinzips aufgefasst werden darf. Bereits die Römische Republik sei an der Schwelle des "mature natural state" gewesen, um sich dann im Kaiserreich wieder in eine geschlossene Gesellschaft zurück zu verwandeln (S. 195). Der erfolgreiche Übergang zu "open access societies" sei erst Großbritannien, Frankreich und den USA im Verlauf des 19. Jahrhunderts gelungen und liege in den spezifischen institutionellen Bedingungen dieser Gesellschaften begründet.

Im zusammenfassenden Schlusskapitel finden sich zahlreiche Wiederholungen zu den vorangegangenen Abschnitten. Hier kommt die alte Northsche Forschungsagenda zum Ausdruck, die den ökonomischen Aufstieg des Westens im Wesentlichen in effizienten Institutionen begründet sieht (S. 272). Es wird auch in anderen Passagen deutlich, dass zum Beispiel unter "good political institutions" (S. 3) implizit die institutionellen Arrangements westlicher Prägung verstanden werden. Ob westliche Gesellschaften dadurch eine "world of plenty" geschaffen haben, wie im Schlussparagraphen postuliert wird, erscheint allerdings äußerst fraglich.

Die Kritik an "Violence and Social Orders” umfasst neben dieser normativen auch eine theoretische und eine empirische Ebene. In Bezug auf die Theorie ist zunächst positiv hervorzuheben, dass durch die Integration politikwissenschaftlicher und ökonomischer Ideen ein überaus fruchtbares "conceptual framework" entstanden ist. Die Autoren stellen mit der Dichotomie von "open access"- und "limited access"-Gesellschaften einen überzeugenden Ansatz vor, der die Interdependenz von wirtschaftlichen und politischen Institutionen sowie institutionellem Wandel fassbar macht.

Dennoch bleibt eine gewisse Skepsis angesichts des Ansinnens, damit ein völlig neues Rahmenkonzept zu schaffen. Zunächst ist eine Integration politikwissenschaftlicher und ökonomischer Theorien nicht grundsätzlich neu, sondern wurde erst kürzlich durch Daron Acemoglu und James Robinson in einer grundlegenden Studie über die "Economic Origins of Dictatorship and Democracy" vorgenommen.2 Diese Studie dient North, Wallis und Weingast mehrfach als Vorlage, von der sie sich bewusst abgrenzen (S. 30). Weitaus schwerer wiegt ihre Fehleinschätzung des angeblich statischen Staatsverständnisses der Sozialwissenschaften in der Tradition Max Webers (zum Beispiel S. 110). So wird der Vorwurf erhoben, sozialwissenschaftliche Studien würden oftmals den Staat als gegebene Entität voraussetzen und die komplexen Entstehungsprozesse moderner Staaten weitgehend ignorieren. Dass der Staat als Träger des Monopols legitimer Gewaltanwendung bei Weber lediglich als abstrahierter Idealtypus definiert wird und dass sich Weber sehr wohl intensiv mit den Entstehungsprozessen moderner politischer und ökonomischer Institutionen befasst hat, wird dabei vernachlässigt; möglicherweise lässt sich dies durch die fehlende englische Übersetzung von Webers Gesamtwerk erklären.3 Sprachliche Barrieren sind vielleicht auch der Grund dafür, dass kein Versuch unternommen wird, den Begriff der "social orders" mit Webers "Ordnung" in Verbindung zu bringen.

Die Kritik an der empirischen Basis ihres Ansatzes formulieren die Autoren selbst: Sie ist selektiv und aus ihrem historischen Kontext gerissen (S. xiii). Schwerer noch wiegt der Vorwurf, dass sich bis auf einen kurzen Überblick über das Aztekenreich alle historischen Beispiele mit europäisch geprägten Kulturen befassen. Es ist verständlich, dass sich aufgrund des primär theoretisch orientierten Fokusses die empirischen Beispiele in engen Grenzen halten. Wenn man allerdings eine derart ambitionierte Forschungsagenda verfolgt, ist der eurozentrische Fokus überaus fragwürdig.

Einen "fundamentally new approach to social science analysis" (S. 257) bietet "Violence and Social Orders" nicht. Bei allen theoretischen und empirischen Defiziten überzeugt jedoch der Entwurf der Autoren, die Interdependenz zwischen wirtschaftlicher und politischer Entwicklung aus der Perspektive institutioneller Ordnungssysteme und der daraus resultierenden Eindämmung von Gewalt zu betrachten. Insbesondere für Historiker bieten die Konzepte "violence", "institutions", "organizations" und "beliefs" sehr gut operationalisierbare Anknüpfungspunkte an die Sozialwissenschaften. Der Ausbau der Neuen Institutionenökonomik hin zu einer umfassenden sozialwissenschaftlichen Theorie, dem sich Douglass North verschrieben hat, geht damit einen weiteren Schritt in die richtige Richtung.

Anmerkungen:
1 Douglass C. North / Robert P. Thomas, The Rise of the Western World. A New Economic History, Cambridge 1973.
2 Daron Acemoglu / James A. Robinson, Economic Origins of Dictatorship and Democracy, Cambridge 2006.
3 Einziger Literaturverweis auf Weber ist Talcott Parsons' Übersetzung des ersten Teils von "Wirtschaft und Gesellschaft" aus dem Jahr 1947: Max Weber, The Theory of Social and Economic Organization, New York 1947.

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