J. Breittruck: Zur Geschichte der Beziehungen zwischen Menschen und ihren Vögeln

Cover
Titel
Ein Flügelschlag in der Pariser Aufklärung. Zur Geschichte der Beziehungen zwischen Menschen und ihren Vögeln


Autor(en)
Breittruck, Julia
Anzahl Seiten
240 S.
Preis
€ 22,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Simona Boscani Leoni, Section d'histoire, Université de Lausanne

Das Buch enthält die überarbeitete Fassung der Dissertation von Julia Breittruck, die 2014 an der Fakultät für Geschichtswissenschaft, Philosophie und Theologie der Universität Bielefeld eingereicht wurde. Die Arbeit besteht einschließlich Einleitung („Wie der Vögel zum Haustier der Pariser Aufklärung wurde“) und Schluss aus sechs Kapiteln. Im Mittelpunkt der Untersuchung steht, wie im ersten Kapitel erläutert, die Entwicklung der Vögel als Haustiere und ihre Funktion für die Entstehung der Pariser Aufklärungsgesellschaft. Die Autorin fragt insbesondere nach dem Einfluss von Konzepten und Praktiken der Vogelhaltung und der Mensch-Vogel-Beziehung auf die sozialen und kulturellen Entwicklungen zwischen dem 17. und 18. Jahrhundert. Methodisch orientiert sich die Arbeit an Forschungen der Animal Studies, des Posthumanismus und der Soziologie (zum Beispiel Bruno Latours Theorie der Aktanten). Ziel ist es zu untersuchen, ob und wie domestizierte Vögel die Emotionalisierung und Moralisierung zwischenmenschlicher Beziehungen (sowohl zwischen Menschen als auch zwischen Tieren und Menschen) beeinflusst haben. Die Quellen, die für die Forschungsarbeit herangezogen werden, sind vielfältig: Nachlässe von Vogelhändlern und von Herstellern von Geräten für die Vogelzucht, Testamente, Publikationen verschiedenster Art (Ratgeber, naturkundliche Literatur, Flugblätter, Zeitungen und Zeitschriften), Bilder, Artefakte (Gegenstände wie Käfige und Volieren, Musikinstrumente), aber auch Korrespondenzen und Tagebücher (Selbstzeugnisse). Das zweite Kapitel („Die Vögel der Gesellschaft. Sozialgeschichtliche Aspekte der frühneuzeitlichen Vogelhaltung“) zeigt, wie Vögel im 18. Jahrhundert zu repräsentativen und sammelwürdigen Objekten der Oberschicht wurden. Schon um 1300 gab es in Paris Vogelhändler. Durch den Kolonialhandel gelangten verschiedene exotische Vogelarten (Papageien, Strauße, Sperlinge) nach Europa, die in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts auch für breitere Bevölkerungsschichten erschwinglich wurden. In dieser Zeit verbreiteten sich Vögel und kleine Haustiere weit über die Aristokratie hinaus und wurden zu einer Art Statussymbol des aufstrebenden Bürgertums (S. 40–41). Die Verbreitung von Vögeln als Haustiere zeigt sich besonders deutlich in den bildlichen Quellen, die auch unterschiedliche Geschlechterrollen bei der Vogelhaltung belegen. Während die Maler bei den Männern eher das wissenschaftliche Interesse an den Tieren betonen oder sie im Zusammenhang mit Arbeitstätigkeiten darstellen, haben die Vögel bei den Frauen andere Funktionen. Sie werden oft in zweideutigen Situationen mit sexuellen und moralischen Konnotationen dargestellt (zum Beispiel in Bordellen); nach 1750 hingegen begleiten die Vögel die Frauen eher im häuslichen Bereich und als Freizeitbeschäftigung.

„Domestikation der Vögel. Räumliche Aneignungsprozesse“ lautet der Titel des dritten Kapitels. Die Autorin beschreibt einen Wandel in der Wahrnehmung der Hausvögel zwischen dem 17. und 18. Jahrhundert, der auch mit einem Wandel in der Organisation der häuslichen Sphäre einhergeht. Während die Vögel im 17. Jahrhundert als Statussymbol galten, das den Gästen im Salon oder im Esszimmer gezeigt wurde, wurden sie im Laufe des 18. Jahrhunderts zu Haustieren, die in privaten Räumen gehalten wurden und nur für Familienmitglieder und einen kleinen Freundeskreis sichtbar waren. Neben der Haltung von Hausvögeln und den dabei verwendeten Käfigen und Volieren geht es in diesem Kapitel auch um die Wahrnehmung von Tieren in der Stadt. In diesem Zusammenhang wird betont, dass die Anwesenheit bestimmter Tierarten in den Häusern nicht so sehr als Kompensation für den Prozess des Verschwindens der Natur aus den Städten diente, sondern vielmehr mit der Umsetzung der öffentlichen Hygiene- und Gesundheitspolitik der Obrigkeit zusammenhing (S. 107). In diesem Sinne galten Vögel als unproblematisch, und so sieht Breittruck einen Zusammenhang zwischen dem Aufkommen von Vögeln als Haustieren und der Entstehung der Privatsphäre (S. 108). Kapitel IV trägt den Titel „Praktiken des Umgangs von Menschen und Tieren. Eine Geschichte der Erziehung der Vögel und der Kultivierung der Menschen“. Im Mittelpunkt stehen die Praktiken der Vogelzucht, aber auch die Erziehung junger Männer und Frauen durch Vögel. Anhand verschiedener Quellen (naturgeschichtliche Schriften, Ratgeber, Bilder und Artefakte) werden die Bedeutung der Vögel als musikalische Tiere, die Erfindungen zur mechanischen Reproduktion ihres Gesangs (im 17. Jahrhundert) und die Entwicklung von Techniken wie Flageolets und Serinetten zur Dressur von Singvögeln aufgezeigt. Am Hof Ludwigs XIII. gab es beispielsweise einen „königlichen Vorflöter“, der die Vögel mit einer Flöte zum Singen anregen sollte. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts wurden Vögel zunehmend auch als Mittel zur Kindererziehung eingesetzt, was auch mit der Entwicklung eines besonderen Interesses an der Kindheit zusammenhing, die in dieser Zeit als eigenständiger Lebensabschnitt anerkannt wurde. Die Aufzucht von Vögeln sollte dazu dienen, Mitgefühl und Zuneigung zu entwickeln, zwei Eigenschaften, die zunehmend als zentral für das Familienleben, aber auch als Grundlage des gesellschaftlichen Zusammenlebens angesehen wurden (S. 147). Der Umgang mit Tieren wurde so zu einem Bestandteil der „sozialen Normentwicklung“ (S. 148). Das Schlusskapitel „Vögel für Frauen. Eine Geschlechtergeschichte der Vogelhaltung“ setzt die Analyse des vorhergehenden Kapitels fort, indem es die Bedeutung der Vögel für die Erziehung junger Frauen und ihre Vorbereitung auf das Erwachsenenleben als Ehefrau und Mutter hervorhebt. Dieser Prozess ist auch mit der Entwicklung einer emotionalen Beziehung zu den Tieren verbunden, die zunehmend personalisiert werden (sie tragen Namen, werden begraben und erhalten ein Grabmal). Breittruck stellt fest, dass Hausvögel in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zu einem wichtigen Gefährten der Frauen der Oberschicht wurden, zu einer Art Statussymbol.

In ihrem Fazit fasst die Autorin die wichtigsten Ergebnisse ihrer Untersuchung zusammen, nämlich die Rolle der Mensch-Vogel-Beziehung als zentrales Element des sozialen Wandels zwischen dem 17. Jahrhundert und der Aufklärung. Sie betont auch die Vielfalt der möglichen Mensch-Tier-Beziehungen je nach Geschlecht, Bildung und sozialer Schicht der Akteurinnen und Akteuren. Die Stubenvögel boten den Menschen in Paris eine Möglichkeit der Selbstverortung und unterstützten die Entwicklung des weiblichen Subjekts als empfindendes, gegendertes Subjekt (S. 187). Gleichzeitig förderte die Vogelhaltung die Aufwertung moralischen und mitfühlenden Verhaltens in der Gesellschaft (S. 189). Dem Buch sind ein Verzeichnis der untersuchten Gemälde und eine Bibliografie beigefügt.

Das Werk ist lesenswert und stellt zweifellos einen anregenden Beitrag zur Reflexion über die Aufklärung dar, indem es ein wesentliches Element der Gesellschaft des Ancien Régime in die soziale Dynamik einbezieht: die Vögel. Ein Kritikpunkt ist die Bibliografie, die nach 2014 nicht mehr aktualisiert worden zu sein scheint, obwohl sich gerade die Forschung im Bereich der Animal Studies stark entwickelt hat. Breittruck bemüht sich zu Recht, in der Einleitung und in den einzelnen Kapiteln methodische Fragen zu diskutieren, auch wenn in einigen Fällen unklar bleibt, wie diese Überlegungen tatsächlich operationalisiert werden.

Insgesamt bietet der Band anregende Denkanstöße nicht nur im Kontext der Reflexion über die Rolle von Tieren als Akteur:innen in der Geschichte (und in der Aufklärung), sondern auch für diejenigen, die sich für die Geschichte der Bildung und der Geschlechterrollen interessieren.

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