Über das Verhältnis von Willen und Intellekt wurde an mittelalterlichen Universitäten intensiv diskutiert. Zwar gibt es bereits nicht wenige Arbeiten zu diesem Thema, doch sind zahlreiche Texte, Autoren und Debatten noch nicht hinreichend erforscht. Angetreten, Abhilfe zu schaffen, sind die Beiträge eines Bandes, der auf eine im Juni 2021 im Łódź durchgeführte Tagung zurückgeht. Er präsentiert Erträge eines vom polnischen Nationalen Wissenschaftszentrum (Narodowe Centrum Nauki) geförderten Projekts. Auf eine knappe Einleitung, die die Themen der folgenden Beiträge benennt und sie in groben Zügen in die mittelalterlichen Debatten einordnet, folgen zwölf Aufsätze, die meist einem, mitunter zwei oder – in einem Fall – vier mittelalterlichen Autoren und deren Überlegungen zur Beziehung von Willen und Intellekt gewidmet sind.
Der Schwerpunkt liegt auf lateinischen Philosophen und Theologen des späten 13. und 14. Jahrhunderts. Allein Francesco Omar Zamboni wendet sich mit ar-Rāzī einem nichtchristlichen und nicht lateinisch schreibenden Autor zu. Wenn der muslimische Philosoph über die kognitiven Voraussetzungen willentlicher Handlungen nachdachte, bezog er eine Position, die von mehreren christlichen Denkern geteilt wurde: Demnach sei der Wille ein besonderes geistiges Vermögen, dass nicht auf den Intellekt zurückführbar sei. Unter diesen Voraussetzungen diskutierte al-Rāzī im Anschluss an Avicenna die Möglichkeit des Menschen, zwischen verschiedenen Alternativen zu wählen. Er kam zu dem Schluss, dass Willensakte mit Notwendigkeit motiviert würden durch die Einschätzung von Nutzen oder Schaden als Ergebnis der jeweiligen Handlung, weshalb Zamboni ar-Rāzīs Position als intellektualistisch und deterministisch einordnet. Im Gefüge des Bandes bleibt der Beitrag isoliert, da sich keiner der untersuchten lateinischen Autoren auf al-Rāzī bezogen hat. In zeitlicher Hinsicht fallen die Ausführungen von Magdalena Bieniak aus dem Rahmen, die sich mit den unterschiedlichen Theorien zum bedingten Willen in der Summa Halensis und bei Stephen Langton befassen. Auf den Theologen wird in zwei späteren Beiträgen knapp Bezug genommen, einmal allerdings irrtümlich als William Langton (S. 220). Das ist übrigens nicht die einzige Unachtsamkeit bei Personen- und Ortsnamen in dem Band.
Stärker ineinander greifen die übrigen Beiträge, deren räumlicher Schwerpunkt in Paris und Oxford liegt. Michael Szlachta kontrastiert die entschieden intellektualisitsche Position Gottfrieds von Fontaines mit derjenigen des Thomas von Aquin, der gelehrt hatte, dass der Intellekt den Willen bei der Bestimmung seines Aktes und der Wille den Intellekt bei der Ausübung des Aktes bewege. Gottfried dagegen glaubte nicht, dass ein Vermögen ein anderes zur Bestimmung seines Aktes bewegen könne, ohne es auch zur Ausführung des Aktes zu bewegen. Thomas’ Unterscheidung wurde dann hinfällig. Tobias Hoffmann untersucht, wie sich Jean de Pouilly kritisch mit der voluntaristischen Theorie Heinrichs von Gent auseinandersetzte, der auch von Gottfried von Fontaines kritisiert worden war. Gegen Heinrich entwickelte Jean de Pouilly seine intellektualistische Position, die davon ausging, dass der Wille sich nicht selbst von der Potentialität zur Aktualität bringen könne und daher dem praktischen Urteil des Intellekts folgen müsse. Wie Hoffmann zeigt, versuchte Jean de Pouilly nachzuweisen, dass seine Lehre mit der Verurteilung von 219 (nicht, wie es in der Einleitung heißt, 129) Thesen durch den Pariser Bischof Étienne Tempier im Jahre 1277 vereinbar sei, auf die sich auch sein Kontrahent Heinrich von Gent für seine Theorie berufen hatte. Offenkundig war die Verurteilung deutungsoffener, als den Zensoren lieb sein konnte.
Dass Thomas von Aquin für lange Zeit ein Bezugspunkt der Debatten um Willen und Intellekt bleiben sollte, dokumentieren die Beiträge von Riccardo Saccenti und Michael W. Dunne. Ersterer unternimmt als einziger einen Ausflug nach Italien, genauer nach Bologna. Charakteristisch für die dortige Philosophie sei eine enge Verbindung zur Medizin gewesen, was sich in den Debatten um den freien Willen und das moralische Handeln manifestiert habe. Gentile da Cingoli und sein Schüler Angelo d’Arezzo seien Thomas darin gefolgt, dass menschliches Überlegen bedeute, kontingente Dinge zu untersuchen. Eine streng deterministische Ordnung mache Überlegen, aber auch moralische und politische Urteile folgenlos und entwerte damit das menschliche Handeln. Dunne zeigt, wie Richard FitzRalph in seiner Oxforder „Lectura“ gegen Thomas nachzuweisen suchte, dass Erinnerung, Verstehen und der Willen nicht realiter, sondern lediglich durch ihre Ausübung unterschiedene Seelenvermögen seien. Der Verfasser folgt dabei Katherine Tachau so eng, dass es naheliegt, ihre Arbeiten gleich direkt zu lesen.1 Ebenfalls in Oxford wirkte Richard Kilvington, dem sich Mitherausgeberin Monika Michałowska widmet. Spezifisch sei, dass Kilvington das Instrumentarium der Logik auf ethische und theologische Probleme angewendet habe. Dazu habe er Analogien zwischen logischen und ethischen Aussagen hergestellt, um etwa die möglichen Bedeutungen von „wollen“ zu erhellen. Um das Problem des freien Willens zu lösen, habe der Gelehrte untersucht, was „notwendig wollen“ meinen könne. Der Beweis, dass sich der Wille nicht immer den Regeln logischer Kohärenz beuge, habe ihm schließlich ermöglicht, in konsequenter Umsetzung seines voluntaristischen Ansatzes dem Willen zuzusprechen, unter bestimmten Umständen entgegen dem Rat des Intellekts zu agieren.
Wenn sich Giacomo Fornasieri dem Franziskaner Petrus Aureoli zuwendet, gerät ein Gelehrter in den Blick, dessen originelle Beiträge zu vielen philosophischen und theologischen Debatten erst in den letzten Jahrzehnten sukzessive erschlossen worden sind. Fornasieri betont, dass Aureoli im Unterschied zu den meisten anderen Autoren seiner Zeit Willen und Intellekt zu integrieren versucht habe, indem er die Rolle des Willens bei der Produktion von Erkenntnissen durch den Intellekt herausgearbeitet habe. Den Willen habe der Franziskaner als motivationales Vermögen verstanden, das zentral bei der Ausbildung von Konzepten gewesen sei. Aureolis Ordensbruder William Ockham wird von Sonja Schierbaum behandelt. Ockham ging davon aus, dass nur willentliche Handlungen tugendhaft sein könnten. Dann musste er aber erklären, wie es um die moralische Qualität von Handlungen stand, die auf einem kognitiven Irrtum basierten. Entsprechend seinem voluntaristischen Ansatz war Ockham überzeugt, dass man auch einem unvermeidlich falschen Urteil zu folgen habe. Ockham seinerseits war, wie Severin V. Kitanov zeigt, zusammen mit FitzRalph und Kilvington ein zentraler Bezugspunkt für Adam Wodeham in der Frage der Freiheit des Willens und bei der Bestimmung des Verhältnisses von Willen und Intellekt. Wie seine Ordensbrüder Ockham und Johannes Duns Scotus vertrat Wodeham eine voluntaristische Position. Stärker als andere Beiträge weist Kitanov auf die theologische Dimension dieser Debatte hin: Die Freiheit des Willens diskutierte Wodeham in seinem Sentenzenkommentar trotz aller Aristotelesbezüge nicht als rein philosophisches Problem, sondern im Zusammenhang mit der Frage der Schau und des Genusses Gottes als Belohnung für gutes Tun.
Dass die Ausführungen des Augustinus im gesamten Mittelalter zentral waren für die Diskussionen um den freien Willen, betonen Fedriga und Michałowaska in ihrer Einleitung ebenso zurecht, wie sie darauf hinweisen, dass der Augustinismus im 14. Jahrhundert einen Höhepunkt erreichte. Bedauerlich ist es deswegen, dass der kurze, wenig ausgearbeitete Beitrag von Pascale Bermon zu Gregor von Rimini als einem herausragenden Vertreter der scholastischen Augustinusrezeption nicht viel mehr als Verweise auf einschlägige Stellen aus der kürzlich wiederentdeckten „Tabula“ Gregors über Augustins „De libero arbitrio“ bietet, Die Einladung, künftig die „Tabula“ mit den einschlägigen Quaestiones des Sentenzenkommentars in Beziehung zu setzen, hilft ebenfalls nicht weiter. Einen gelungenen Abschluss findet der Band mit dem Beitrag von Łukasz Tomanek, der sich mit den Überlegungen zum freien Willen bei Johannes von Jandun und Johannes Aurifaber von Halberstadt und damit zugleich mit dem Ideentransfer von Paris nach Erfurt im 14. Jahrhundert befasst. Aurifaber folgte Jandun in allen Punkten eng, insbesondere in der Unterscheidung dauerhafter und nicht-dauerhafter Notwendigkeit, wobei letztere wiederum unterteilt wurde in solche, die in Bezug auf uns bestimmt ist, und solche, bei der dies nicht der Fall ist. In diese letzte Kategorie fallen Ereignisse, die nicht vorhergesagt werden können, aber grundsätzlich möglich sind. Mit diesen Differenzierungen konnten die beiden Gelehrten zeigen, dass alle Ereignisse notwendig geschähen, aber in unterschiedlicher Weise. Willensfreiheit besteht dann darin, dem Gut zu folgen, das der Intellekt als solches erkannt hat, wobei für den Pariser und den Erfurter Johannes kein Widerspruch darin bestand, dass der Wille der Vorgabe des Intellekts nicht nicht folgen könne, aber dennoch frei sei.
Der Band bietet insgesamt eine aufschlussreiche Erkennung des scholastischen Nachdenkens über Willen und Intellekt insbesondere im 14. Jahrhundert. Das liegt insbesondere daran, dass viele Beiträge nicht einfach für sich stehen, sondern direkt oder indirekt aufeinander Bezug nehmen, so dass sich beim schrittweisen Lesen Zusammenhänge der mittelalterlichen Debatten entfalten. Dabei erweisen sich antike Autoren, insbesondere Aristoteles, und, themenbedingt, unter den Kirchenvätern Augustinus ebenso als wichtige Referenzpunkte wie Zeitgenossen und jüngst verstorbene Denker. Charakteristisch ist, wie stark sich philosophische und theologische Perspektiven verbinden konnten, während einzelne Denker, etwa die „Averroisten“ Johannes von Jandun und Johannes Aurifaber, auf disziplinärer Differenz beharrten. Die Perspektive einer klassischen Philosophiegeschichte, die vorrangig an einer Rekonstruktion der Lösungen interessiert ist, die bedeutende Denker für spezifische Probleme entwickelt haben, wird in den Beiträgen nur selten verlassen. Es dominiert eine Atomisierung der jeweiligen Quellen, aus denen die Passagen isoliert werden, die für das gewählte Thema relevant erscheinen; institutionelle Kontexte und personale Konstellationen werden – von wenigen Ausnahmen wie Saccentis Ausführungen zur Moralwissenschaft in Bologna oder Hoffmanns Darlegungen zur Reaktion des Jean de Pouilly auf die Verurteilung von 1277 abgesehen – nicht berücksichtigt. Das ist bedauerlich, da die scholastischen Debatten, auch wenn die Aussagekonventionen anderes suggerieren mögen, nicht in einem luftleeren Raum stattfanden, sondern einen Sitz im Leben besaßen.
Anmerkung:
1 Katherine H. Tachau, Vision and certitude in the age of Ockham. Optics, epistemology and the foundations of semantics, 1250–1345, Leiden 1988.