Die Zeit des Nationalsozialismus gehört zu den am intensivsten erforschten Feldern der Geschichtswissenschaft. Die Forschungslandschaft ist dabei kaum mehr zu überblicken.1 Handbücher bieten hier eine gute Orientierung und vermitteln überdies einen inhaltlichen Überblick. Dem von Marcel Boldorf und Jonas Scherner herausgegebenen Handbuch zur Wirtschaftsgeschichte des Nationalsozialismus gelingt es, beide Ansprüche an ein solches Überblickswerk einzulösen und trotz bereits vorliegender instruktiver Arbeiten2 eine gravierende Lücke für den deutschsprachigen Raum zu schließen. Die dafür gewählte Gliederung in sechs große Abschnitte bietet einen schnellen Zugang zu allgemeinen, aber auch spezifischeren Aspekten der NS-Wirtschaftsgeschichte. Neben möglichst allen Bereichen der Volkswirtschaft werden auch sozial- und gesellschaftspolitische Aspekte des Wirtschaftens miteinbezogen.
Für Hitler standen Wirtschaftsfragen von Anfang an hinter den ideologischen Kernanliegen Volk, „Rasse“, Staat und Partei zurück. Wirtschaftspolitik hatte sich den ideologisch definierten Zielen unterzuordnen, die auf eine völkische Neuordnung Europas gerichtet waren. Ohne Krieg ließ sich diese völkische Utopie nicht erreichen. Er war dem Nationalsozialismus daher von Beginn an eingeschrieben. Konsequenterweise verzichten die Beiträge daher auf die analytische Trennung in Kriegs- und Friedenswirtschaft. Ein besonderes Augenmerk legen die Herausgeber bei der Gesamtkonzeption darauf, alte wie neue Legenden aufzudecken und zu korrigieren. Denn die nationalsozialistische Wirtschaftspolitik „brachte keine Wunder hervor, weder ein Wirtschaftswunder noch ein Beschäftigungs- oder ein Rüstungswunder“ (S. 867). Vor allem die von Albert Speer über viele Jahrzehnte etablierte Erzählung eines Rüstungswunders, aber auch jüngere Forschungsbeiträge wie Götz Alys These von der „Wohlfühl-Diktatur“ stehen daher im Zentrum der Kritik.
Die zentrale Leitlinie nationalsozialistischer Politik bildet folgerichtig den Schwerpunkt des ersten Abschnitts, der sich mit den Grundlagen des Wirtschaftens befasst. Den Auftakt macht Marcel Boldorf mit einem Beitrag zur Wirtschaftsordnung und Wirtschaftslenkung. Er markiert einen instruktiven Einstieg, da die geschilderten grundlegenden Merkmale und institutionellen Rahmensetzungen der NS-Wirtschaftspolitik in den weiteren Beiträgen des Bandes unter je einem spezifischen thematischen Fokus behandelt werden. Als den alles dominierenden Handlungsimperativ des NS-Wirtschaftssystems hebt Boldorf das bedingungslose Primat der Rüstung hervor, dessen radikale Durchsetzung Thesen wie Alys Wohlfahrts- und Versorgungsstaat klar widerlege. Der Preis dieser kompromisslos betriebenen Politik zeige sich in einer fortschreitenden wirtschaftlichen Deformation. Zur Durchsetzung der essentiellen Ziele Aufrüstung und Autarkie erfolgte seit 1933 eine korporative Neuordnung sowie der Aufbau eines Bewirtschaftungssystems. Beides war die Voraussetzung, um in größerem Umfang in den Wirtschaftsprozess einzugreifen, wovon ab 1942 in verstärktem Maße Gebrauch gemacht worden sei. Trotz dieser Maßnahmen kam es jedoch nie zur Abschaffung einer grundlegenden Vertragsfreiheit und Gewinnorientierung der Unternehmen. Im Gegenteil führte gerade das im Zuge der Aufrüstung etablierte System einer anreizorientierten Politik zu höchster Effizienz. Wie sich dies in einzelnen Bereichen der Volkswirtschaft niederschlug, skizzieren sodann die Beiträge zu Wissenschaft und Forschung, zum Finanzsystem, zur Wirtschaftselite sowie zu Transport und Verkehr.
Mit dem zweiten Abschnitt setzen die Herausgeber den Schwerpunkt des Handbuchs. In elf Einzelbeiträgen widmen sich die für das jeweilige Thema einschlägigen Autoren den einzelnen Wirtschaftssektoren. Kernfokus ist die Industrie. Wie im vorherigen Abschnitt zeichnet der erste Beitrag zu industrieller Entwicklung und Investitionen den Kontext und die Leitlinie der weiteren Aufsätze vor. Mit Blick auf die Investitionstätigkeit begründet Jonas Scherner den intensiven Fokus auf den Industriesektor. Er habe seit der Mitte der 1930er-Jahre einen dramatischen Bedeutungszuwachs für die deutsche Volkswirtschaft erfahren. Sein relativer Stellenwert habe am Ende der nationalsozialistischen Herrschaft höher gelegen als vor Ausbruch der für die deutsche Industrie verheerenden Weltwirtschaftskrise. Dabei habe es jedoch deutliche Strukturveränderungen innerhalb der Branche gegeben, die auf den Primat der Rüstung zurückgeführt werden könnten.
Als eine lange Zeit unbeachtete, jedoch wichtige langfristige Entwicklung für die deutsche Volkswirtschaft betonen die folgenden Beiträge die Entwicklung des Outsourcings. Die Verlagerung von Fertigungsabschnitten zu vorgelagerten Betrieben habe nicht nur die Effizienz des Systems erhöht, sondern auch die Konversion zur Friedenswirtschaft nach 1945 entscheidend begünstigt. Dass sich die im Handbuch gewählte Perspektive auf die einzelnen Industriesektoren mit ausgewählten Unternehmen lohnt, zeigen die Beiträge anhand der praktischen Implementierung der staatlich gewünschten Politik. Regulierungsmaßnahmen erwiesen sich je nach Kontext als ein unzureichendes Lenkungsinstrument, wohingegen standardisierte Verträge zwischen Staat und Unternehmen zum wichtigsten Impulsgeber wurden. Deren konkrete Ausgestaltung hing freilich von den unternehmens- und branchenspezifischen Faktoren ab. Zwang spielte hingegen nur eine sehr untergeordnete Rolle. Exemplifizieren die Beiträge zu den industriellen Sektoren diese Aspekte sehr eindrücklich, bietet der Aufsatz zur Agrarpolitik eine gewinnbringende Perspektiverweiterung. Hier handelte es sich um einen ideologisch hoch bedeutsamen Wirtschaftsbereich, an dem die Widersprüche der NS-Wirtschaftspolitik deutlich wurden. Die Landwirtschaft konnte trotz ihrer ideologischen Relevanz und Gestaltung nie ein Gegengewicht zur faktisch hoch industrialisierten Massengesellschaft bilden, die die Basis der NS-Diktatur darstellte.
Die Beiträge der Abschnitte zu Gesellschaft sowie Erwerbstätigkeit und Verteilungspolitik schlagen sodann instruktive Schneisen in eine diverse Thematik. Sie greifen unter anderem mit Tourismus, Luxusgütern und Genussmitteln oder Umweltfragen Aspekte auf, die in der Wirtschaftsgeschichte des Nationalsozialismus eher randständig sind. Gleichzeitig gelingt es, den engen Fokus in die Gesamtentwicklung einzubetten. Geleistet wird dies beispielsweise durch die Aufsätze zu „Einkommen, Lebensstandard und Konsum“ und „Sozialpolitik“. Sie betonen zurecht die Grundpfeiler der nationalsozialistischen Politik in jenen Bereichen, die auf der Eroberung von Lebensraum und auf der Vernichtung der rassistisch, politisch oder als minderwertig definierten Feinde beruhten. Letztere Diskriminierung fand in der Sozialpolitik ein entscheidendes Handlungsfeld. Das zentrale Merkmal war dabei der Sozialrassismus, der sich ökonomischen Grundsätzen entzog. Auch wenn wirtschaftliche Überlegungen gegenüber den ideologischen Faktoren keine Rolle spielten, waren Exklusion und Vernichtung die grundlegenden Voraussetzungen für die den „Volksgenossen“ versprochene, spätere Prosperität.
Der letzte Abschnitt des Handbuchs widmet sich schließlich in neun Einzelbeiträgen den Themen Expansion und Verfolgung sowie Außen- und Besatzungswirtschaft. Angesichts der Bedeutung der gewaltsamen Expansionspolitik ist der diesem Aspekt eingeräumte Raum sehr zu begrüßen. Auch in diesem Fall haben sich die Herausgeber für die Verbindung von übergreifenden und themenfokussierten Beiträgen entschieden. Anhand des Konzepts der Großraumwirtschaft stellt Marc Buggeln dabei die fundamental unterschiedlichen Ansätze der nationalsozialistischen Besatzungspolitik und -wirtschaft in Osteuropa auf der einen und West- und Nordeuropa auf der anderen Seite heraus. Im Westen bedienten sich die Deutschen einer Kombination aus überzogenen, zweckentfremdeten Besatzungskosten sowie des Systems einer vielfältigen zwangsweisen Kreditgewährung an das Reich. Dabei profitierten die Besatzer von kollaborationswilligen privatwirtschaftlichen Eliten, denen das System durchaus Gewinne ermöglichte. Im Osten hingegen herrschte in Planung und Praxis eine rücksichtslose Ausplünderungspolitik vor, die sowohl die Deindustrialisierung der eroberten Gebiete als auch den millionenfachen Hungertod der dort lebenden Menschen fest einkalkulierte. Als zentrale Schritte vor dem Übergang zur kriegerischen Expansion gelten die wirtschaftliche Eingliederung Österreichs und Tschechiens in das Deutsche Reich sowie die Vernichtung des jüdischen Erwerbslebens. Allen drei Aspekten widmet das Buch je einen einzelnen, instruktiven Beitrag.
Mit dem Handbuch zur Wirtschaftsgeschichte des Nationalsozialismus ist den Herausgebern ein starkes Überblickswerk gelungen. Leserinnen und Leser finden in ihm eine kompakte inhaltliche Orientierung zu einzelnen Themen oder ganzen Branchen. Gerade die Verbindung von thematisch übergreifenden und themenfokussierten Beiträgen erweist sich als sehr gewinnbringend. Dass diese Unterteilung für den Leser vor der Lektüre nicht unbedingt ersichtlich wird, geht lediglich ein wenig zulasten dieser großen Stärke des Handbuchs. Sehr positiv hervorzuheben ist zudem der insgesamt geleistete Überblick zur Forschung im Bereich der Wirtschaftsgeschichte des Nationalsozialismus. Dass dieser nicht bei allen Beiträgen in gleicher Tiefe eingelöst wird, hinterlässt nur einen kleinen Wermutstropfen.
Anmerkungen:
1 Eine Übersicht zur jüngeren Entwicklung bietet Dietmar Süß, Literaturbericht zum Nationalsozialismus. Teil 1, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 74 (2023), S. 682–703.
2 Vgl. unter anderem Tim Schanetzky, „Kanonen statt Butter". Wirtschaft und Konsum im Dritten Reich, München 2015; Adam Tooze, Ökonomie der Zerstörung. Die Geschichte der Wirtschaft im Nationalsozialismus, München 2018.