Vorliegende Publikation aus der Feder zweier Forscher:innen mit einschlägiger Spanienexpertise sticht, wie der Titel bereits verspricht, durch eine Geschichte Spaniens hervor, die sich in der Tat von den herkömmlichen Geschichten unterscheidet. Denn Spaniens „wechselvolle, exotische und über zahlreiche europäische Verflechtungen aufweisende Historie“ (S. 9) wird hier aus einer dezidiert biographischen Perspektive anhand von 18 ausgewählten „Schlüsselgestalten“ erzählt.1 Die 413 Seiten starke Darstellung ist chronologisch geordnet. Sie richtet sich an ein breites Publikum, weshalb auf einen Fußnotenapparat bewusst verzichtet wurde (S. 14) und mittels eines Anhangs einige die Entwicklung Spaniens betreffende Karten mit den zentralen Ortschaften und Herrschaftsreichen beigegeben wurden. Aus mediävistischer Warte wäre hier, sofern das aufgrund der Quellenlage überhaupt möglich ist, auch eine Karte über die existierenden Bistumsstrukturen auf der Iberischen Halbinsel interessant gewesen, um den (zwischenzeitlich auch fehlenden) Einfluss christlicher Institutionen sowie das Ineinandergreifen der im Mittelalter gleichberechtigten geistlichen und weltlichen Strukturen besser zu verstehen.
Nach einer kurzen Einleitung liegt der Fokus zunächst auf der Zeit des Mittelalters (ab dem 7. Jahrhundert). Die ersten neun Schlüsselgestalten werden dabei von Klaus Herbers beschrieben und bezüglich ihrer Bedeutung für Spanien eingeordnet (Isidor von Sevilla, Eulogius – Märtyrer von Córdoba, Al-Masúr, Rodrigo Díaz de Vivar – genannt „der Cid“, Urraca, Maimonides, Dominikus Guzmán, Alfons X. von Kastilien – genannt „der Weise“ sowie Raimundus Lullus). Die verbleibenden neun, die ab dem Übergang vom Mittelalter zur Frühen Neuzeit bis ins 20. Jahrhundert gewirkt haben, werden von Birgit Aschmann vorgestellt (Isabella I., Philipp II., Teresa von Ávila, Gaspar de Guzmán, Francisco de Goya, Isabella II., José Ortega y Gasset, Francisco Franco und Dolores Ibárruni). Auch wenn sich die Artikel zum Mittelalter, wie beide Autor:innen in der Einleitung einräumen – der jeweiligen epochalen Herangehensweise geschuldet – im Aufbau von denen zur Neuzeit leicht unterscheiden (S. 10), folgen alle Darstellungen einer gemeinsamen Leitlinie: Die einzelnen Schlüsselgestalten werden in einen biographisch-sozialen, netzwerklichen und zugleich gesamtgesellschaftlichen Kontext eingeordnet, um am Ende Aussagen bezüglich ihres „Vermächtnisses“ hinsichtlich Spaniens zu treffen.
Kenner:innen der Iberischen Halbinsel begegnen im Kontext der einzelnen biographischen Abrisse zahlreichen bekannten Ereignissen aus der spanischen Geschichte, wenngleich sie durch den gewählten Zugang in einem anderen Licht erscheinen. So werden fast beiläufig die großen Entwicklungslinien abgeschritten: die erste Welle der Christianisierung und das durchaus von Konflikten geprägte „Nebeneinander“ verschiedener Kulturen, die Ankunft der arabischen Eroberer 711 auf der Iberischen Halbinsel und die Errichtung der Kalifen- und Taifenreiche, der Aufstieg Kastiliens im 11. Jahrhundert beim zeitgleichen Einfall der Almoraviden, die die Taifenreiche nach und nach eroberten und dort ihre eigene Herrschaft etablierten. Weiterhin: die Reconquista, die Unabhängigkeit Portugals, die Wurzeln heutiger Separatistenbewegungen – vor allem im Hinblick auf Katalonien; die Bedeutung der spanischen Inquisition sowie die Entdeckung Amerikas – der Aufstieg Spaniens zur Weltmacht. Nicht zuletzt werden die verschiedenen Bürgerkriege des 19. und 20. Jahrhunderts (u. a. Karlistenkriege) oder die „Generation ‘98“ thematisiert – hier Sinnbild für den Verfall der spanischen Weltmacht. Der Name spielt auf die im Jahr 1898 erfolgte, desaströse Niederlage Spaniens im Spanisch-Amerikanischen Krieg, den daraus resultierenden Verlust der Kolonien und die folgende angespannte soziale und politische Situation in Spanien an.
Ebenso wird das Wirken anderer Reiche beziehungsweise später Nationen (zum Beispiel das Heilige Römische Reich, Frankreich oder England) in Bezug auf Spanien, wie auch der Einfluss des Letzteren innerhalb Europas immer wieder thematisiert: Neben den diversen kriegerischen Auseinandersetzungen bekannt geworden ist dabei die Republikgründung der Niederlande im 17. Jahrhundert, die in der Literatur (wie auch hier) fälschlicherweise immer wieder als gezielter „Aufstand“ mit dem Ziel der Erlangung der Unabhängigkeit von der spanischen Krone dargestellt wird („Achtzigjähriger Krieg“). Stattdessen handelte es sich um verschiedene Auseinandersetzungen, die im Süden der Lage Landen2 begannen, sich in der gesamten Region ausbreiteten und im weiteren Verlauf in unterschiedlicher Intensität durch ganz verschiedene, oft wechselnde und mit differenten Zielen agierende Akteure getragen wurden.3 Aschmanns Skizzierung Philipps II. (1527–98) stellt im Kontext der „Lage Landen-Forschung“ hier eine willkommene Aufarbeitung der Literatur beziehungsweise „Meistererzählungen“ rund um diesen spanischen König dar, der eine der zentralen Figuren im Zusammenhang dieser Auseinandersetzungen und Revolten war. Die später folgende Biographie von Gaspar de Guzmán (1587–1645) verdeutlicht außerdem, dass zeitversetzt, aber hinsichtlich der Ereignisse in den Lage Landen doch zeitnah analoge Revolten auch auf der Iberischen Halbinsel, vor allem in Katalonien (1640), stattfanden, die sich zum Teil auf einen ähnlichen Ursprung wie die in den Lage Landen zurückführen lassen: auf zum Beispiel ständig wachsende Kriegsabgaben, demoralisierte Soldaten, Einschränkungen im Handel etc. Gerade die Revolten in Katalonien zeigen, wie sehr Spaniens „Führungsstil“ doch mitverantwortlich für die jeweiligen lokalen, ablehnenden Wahrnehmungen der „kastilischen“ Politik war.
Das Verdienst vorliegender Monographie liegt vor allem in der Betonung des persönlich-individuellen Faktors über das konkrete Wirken einzelner Akteure, der epochenübergreifend nicht nur einmal klare Gestalt in Form konkreter Auswirkungen annimmt. Dabei zeigen nicht nur die eigenen Forschungen der Rezensentin, zum Beispiel im Kontext der fränkischen Mainorte Marktsteft und Aschaffenburg beziehungsweise die Untersuchungen rund um öffentliche Einrichtungen und natürliche Ressourcennutzung4, wie wichtig auch die Berücksichtigung einzelner Persönlichkeiten und ihrer Sozialisation, inklusive der um sie herum etablierten beziehungsweise auch fehlenden Netzwerke ist. Es ist nun immer der Mensch, der am Ende durch individuelle Entscheidungen und Verhaltensweisen die Geschichte bestimmt. Geschichte als Ergebnis eines menschlichen Wirkens allein als Spielball gesellschaftlicher Umstände zu verstehen, greift daher zu kurz. Trotzdem zeigt gerade die Darstellung zu Isabella II., dass sich verselbstständigende Netzwerke im Kontext gesellschaftlich etablierter oder auch sich verändernder Strukturen über „den Kopf einzelner Akteure hinweg“ zweifellos gleichfalls eine zentrale Rolle spielen. Im gleichen Jahr 2022 wie die vorliegende Publikation erschienen, unterstreicht diese Erkenntnis nicht zuletzt eindrucksvoll auch die Monographie von Ian Kershaw, der unter dem Titel „Der Mensch und die Macht“ die europäische Geschichte des 20. Jahrhunderts anhand ausgewählter Akteure erzählt. Von ergänzendem Interesse in Bezug auf die weitere Kontextualisierung von Aschmanns Artikel zu Franco und Ibárruni dürften Kershaws Kapitel zu Lenin, Stalin und Franco sein.5
So gelingt den Autor:Innen hier im Gegensatz zu den üblichen Darstellungen auf eine unterhaltende Art und Weise die Aufdeckung chronologisch langer Verbindungslinien, die für die historische Entwicklung der Iberischen Halbinsel zentral sind. Durch teilweise zeitliche Überschneidungen der verschiedenen Viten (ein größerer Zeitsprung entsteht für die Neuzeit nur zwischen Gaspar de Guzmán und Francisco de Goya) erscheint die Erzählung insgesamt dicht; generationsübergreifende Verflechtungen werden sichtbar. Die hier ausgewählten Schlüsselfiguren repräsentieren dabei die diversen Ereignisse und Verflechtungen zum Teil aus ganz verschiedenen gesellschaftlichen Positionen heraus, denn längst nicht alle Akteure entstammen der königlichen Familie.
Dabei scheint die Auswahl einer gewissen Willkür zu gehorchen. Wer jedoch schon einmal selbst Studien biographischer Natur oder gar vergleichender Art (zum Beispiel Städtevergleiche, regionale Studien etc.) betrieben hat, weiß nur zu genau, dass es für jede Auswahl in der Regel sehr gute Gründe gibt, was allerdings viele Kolleg:innen (bedauerlicherweise) nicht davon abhält, im Kontext von Vorträgen oder auch Rezensionen immer wieder vehement in die gleiche „Kerbe zu hauen“. Wie Herbers und Aschmann – scheinbar um diese „Kerbe“ wohlwissend – zurecht schreiben (S. 13f.), hätte naturgemäß die Auswahl der Schlüsselgestalten auch andere Akteure in den Vordergrund rücken können. Aus der Zusammenstellung wird jedoch deutlich, dass sich ein umfassendes und komplexes Bild Spaniens ergibt, das durch die dortige religiös-politische und multiherrschaftliche Vielfalt geprägt ist und auch heute noch aufgrund der einstigen Herrschaftsstrukturen starke regionale Strukturen aufweist. Seine Geschichte wird so epochenübergreifend mittelst sowohl Akteuren aus den diversen Kulturen und Religionen (Muslime, Christen, Juden) als auch aus den verschiedenen Regionen Spaniens (etwa Andalusien, Katalonien, Galicien, Baskenland) analysiert. Dennoch ist zu hoffen, dass die Autor:innen ihre Ankündigung umsetzen (S. 13), langfristig einen zweiten Band mit weiteren „Schlüsselfiguren“ auf den Markt zu bringen.
Anmerkungen:
1 Epochenübergreifende Standardwerke (Auswahl): Walther L. Bernecker, Spanische Geschichte. Von der Reconquista bis heute, Darmstadt 2002; Klaus-Jörg Ruhl, Spanien. Portugal. Die Geschichte Spaniens und Portugals zum Nachschlagen, 4. Aufl., Freiburg i. Br. 1998; Peer Schmidt (Hrsg.), Kleine Geschichte Spaniens, 3. Aufl, Bonn 2005.
2 Lage Landen: Teile des französischen Département Nord, der Benelux- sowie Rhein-Maas-Raum.
3 Vgl. dazu etwa aus niederländischer Perspektive Simon Groenveld, Facetten van der Tachtigjarige Oorlog. Twaalf artikelen over de periode 1559–1652, Hilversum 2018, sowie aus deutscher Sicht Lina Schröder, „Das Wasser ist so tief, dass auch große Schiffe anlegen können.“ Die Topographie als Katalysator für die Stadtentwicklung in den Lage Landen, in: Wolfgang Wüst / Klaus Wolf, Die süddeutsche Städtelandschaft – ein interregionaler Vergleich, Berlin 2021, S. 509–570.
4 Zu Letzterem siehe Lina Schröder / Wolfgang Bühling, Herrschaftlicher Anspruch und öffentlicher Nutzen. Die Rolle (städtischer) Einrichtungen und natürlicher Ressourcen im epochenübergreifenden Vergleich, Würzburg 2023.
5 Ian Kershaw, Der Mensch und die Macht. Über Erbauer und Zerstörer Europas im 20. Jahrhundert, München 2022.