Rezensionsessay: K. Hoyer: Diesseits der Mauer

Cover
Titel
Diesseits der Mauer. Eine neue Geschichte der DDR 1949–1990


Autor(en)
Hoyer, Katja
Erschienen
Anzahl Seiten
576 S.
Preis
€ 28,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jens Gieseke, Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam

Katja Hoyers „neue Geschichte der DDR“ hat in den Wochen seit ihrem Erscheinen einige Wellen geschlagen. Zunächst auf Englisch publiziert, erklomm die deutsche Ausgabe binnen kurzer Zeit die deutschen Bestsellerlisten. Hervorgehoben wird der unterhaltsame Stil der eingestreuten Porträts prominenter Akteure von Wolfgang Leonhard bis Egon Krenz, aber auch einer Reihe von weniger bekannten, als durchschnittliche DDR-Einwohner vorgestellten Personen. Aufsehen erregte Hoyer, weil sie beansprucht, ein weitreichendes Versäumnis der bislang erschienenen Darstellungen zur Geschichte der DDR zu beheben:

„Als die Deutsche Demokratische Republik am 3. Oktober 1990 buchstäblich über Nacht verschwand, verlor sie das Recht, ihre eigene Geschichte zu schreiben. Stattdessen war sie Geschichte geworden. Und Geschichte wird von Siegern geschrieben – auch die der DDR.“ (S. 20)

Dieser Start irritiert auf doppelte Weise: „Die DDR“ habe das Recht verloren, ihre „eigene Geschichte“ zu schreiben? Es ist zunächst nicht ganz klar, wen oder was Hoyer damit meint: Den geschichtsschreibenden Staat und seine Parteiführung? Die – nun ehemaligen – DDR-Historiker:innen? Den Teil der DDR-Bevölkerung, der – damals oder im Rückblick – gerne dort lebte? Und wer sind die geschichtsschreibenden „Sieger“ nach dem Ende der DDR – die Bundesrepublik mit ihren Enquetekommissionen und Gedenkstunden, die Historiker:innen, die über sie geforscht haben, die früheren Oppositionellen, die Nachgeborenen, die das Glück hatten, nicht in der Diktatur erwachsen zu werden? Hoyer lässt dies in der Schwebe, beansprucht aber für sich selbst: „Das Ergebnis ist eine neue Geschichte der DDR, die alle Facetten dieses verschwundenen Landes zeigt – von der großen Politik bis zum Alltagsleben.“ (S. 22)

Zunächst liefert Hoyer eine klassische Politikgeschichte, in der insbesondere die Weichenstellungen vom Kriegsende bis zum Mauerbau erläutert werden. Es werden einige Strukturen der SED-Diktatur, allen voran der Ausbau der Geheimpolizei und ein Teil ihrer Verfolgungspraktiken behandelt. Auch Schicksale wie das des 1962 im Mauerstreifen verblutenden Peter Fechter werden nicht übergangen, sondern ausgreifend dargestellt. Gleichwohl stolpern Leser:innen, die mit den Sachverhalten und deren Erforschung vertraut sind, immer wieder über Passagen, die auf eine nur oberflächliche Auseinandersetzung mit dem vorhandenen Wissen schließen lassen.

Kuriose Fehler (vor allem in der vorderen Hälfte des Buches) sind bereits aufgetan worden1, sie seien hier nicht wiederholt, aber einige hinzugefügt: Dem stets glatt rasierten SMAD-Offizier Sergej Tjulpanow einen Bart anzudichten, lässt sich noch als unwesentliche Flüchtigkeit übergehen (S. 102) – ob er hingegen tatsächlich ein „eigenständiger Akteur“ der Besatzungsmacht war, ist schon eine substantiellere Frage. Dem „DDR-Staatsfernsehen“, das mit seinem täglichen Zwei-Stunden-Programm zunächst nur einige Hundert Zuschauer erreichte, wird eine relevante Rolle in der Volkserhebung des 17. Juni 1953 zugeschrieben (S. 177). Die Umbenennung der Ost-Berliner Stalinallee (nebst Abbau des Denkmals für den sowjetischen Diktator) sowie Stalinstadts in Eisenhüttenstadt verlegt Hoyer vom 13. November 1961 in das Jahr 1956 (S. 198) und behauptet überdies fälschlicherweise, es habe sich bei dem neuen Namen Eisenhüttenstadt um eine Rückbenennung gehandelt (tatsächlich war 1952/53 für den neben dem Stahlwerk neu entstehenden Wohnbezirk von Fürstenberg/Oder kurzzeitig „Karl-Marx-Stadt“ in Planung).

Für den Kern ihrer alltagshistorischen Argumentation sind solche Fehlgriffe ebenso relevant, da sie zu fragwürdigen Schlussfolgerungen führen. So behauptet Hoyer, in den 1960er-Jahren hätten BRD- und DDR-Bürger:innen „per Gesetz“ gleich viel Anspruch auf jeweils mindestens 18 Tage Jahresurlaub gehabt. Ulbricht habe damit der „breiten Masse [...] ein unbeschwertes Urlaubsvergnügen“ ermöglicht (S. 249). Tatsächlich gab es seit 1961 in der DDR 12 Werktage Grundurlaub, seit 1967 dann 15 Werktage. Die 18 Tage kamen erst 1975 ins Spiel.2 Im sozialpolitischen Systemwettlauf, den die DDR-Werktätigen genau verfolgten, hinkte die DDR im Hinblick auf Arbeits- und Urlaubszeiten zu jeder Zeit der BRD deutlich hinterher. In den 1960er-Jahren waren es nie weniger als drei Tage Rückstand, und danach öffnete sich die Schere noch weiter, weil die Gewerkschaften im Westen jenseits der gesetzlichen Mindestregeln erhebliche Verbesserungen aushandelten. Von einer solchen Tarifhoheit konnten die DDR-Gewerkschaften nur träumen.

Intensiv beackerte Forschungskontroversen, wie jene um die Ziele und Strategien der sowjetischen Deutschlandpolitik, werden von Hoyer durch knappe Bemerkungen zu ihrer „richtigen“ Interpretation abgehandelt (die wiederum Wilfried Loth folgt, ohne Gegenargumente zu erwägen). Andere Sachverhalte werden dagegen als „höchst umstritten“ (S. 179) dargestellt, obwohl sie unter den damit befassten Fachleuten als geklärt gelten, wie etwa die Zahl von 55 Todesopfern während des Juni-Aufstands 1953 und seiner Niederschlagung.3 An solchen Stellen drängt sich der Eindruck auf, dass ihr apodiktischer Auftakt über die Siegerhistoriografie auch damit zusammenhängt, dass sie Zusammenfassungen des Forschungsstandes – wie etwa den DDR-Band des Gebhardt-Handbuchs der deutschen Geschichte aus der Feder von Michael F. Scholz – nicht zur Grundlage ihrer Darstellung gemacht hat.4 Häufig ist nur unverbindlich von „vielen Historikern“ die Rede, die diese oder jene Position einnehmen würden.

Ein wichtiges Anliegen in den politikgeschichtlichen Passagen ist es Hoyer, die führenden kommunistischen Funktionäre auch von ihrer menschlichen Seite zu zeigen. Ein solcher Blick wäre durchaus kompatibel mit einem Forschungsstrang, der etwa die Führungskreise der Kommunistischen Parteien als Patronage-Netzwerke begreift und sie nicht nur als Charaktermasken der Apparatherrschaft versteht. Doch der Autorin geht es darum, Stalin, Ulbricht oder Honecker aus einer Art Home-Story-Perspektive empathisch nahe zu kommen. Ausgiebig nutzt Hoyer dafür die Erinnerungen von Politbüromitgliedern, aber auch Kellnern sowie Leibärzten und -wächtern. Nicht zufällig stellen Memoiren und Biografien den Großteil ihres Literaturverzeichnisses. Sie geht über das Verträgliche hinaus, wenn sie ihre Leserschaft an Stalins angeblicher „Panik“ über die Deutschlandpolitik 1952 oder an der Erschöpfung Ulbrichts nach der für ihn anstrengenden Junikrise 1953 teilhaben lässt, von der er sich in einem Sanatorium nahe Moskau erholte. Auch für die „Gutenachtgeschichten“ des „liebevollen Vaters“ für seine Adoptivtochter Beate bleibt Raum, obwohl er – wie Hoyer schreibt – „zu viel“ arbeitete, um sich wirklich um sie zu kümmern (S. 182f.).

Den eigentlichen Kern des Buches bilden jedoch die eingestreuten mehreren Dutzend Kurzporträts einzelner Personen, die jeweils die Ausgangspunkte für das übergreifende Narrativ Hoyers bilden: dass es nämlich in der DDR-Gesellschaft eine relativ homogene, relativ unideologische und unpolitische sowie relativ zufriedene breite Mehrheit gab.

Für ihre Porträts stützt sich die Autorin zum einen auf selbst geführte Interviews, zum anderen auf publizierte Zeitzeugen-Videos sowie auf Erinnerungsbände aus Ostalgie-Verlagen, in denen frühere Funktionäre die „Republik der Werktätigen“ auferstehen lassen.5 In diesen Abschnitten betätigt sich Hoyer als einfühlende Erzählerin, aber implizite oder explizite methodische Überlegungen sind nicht zu erkennen – jenseits der knappen Absichtserklärung im Vorwort, sie wolle „eine Vielzahl ostdeutscher Stimmen zu Wort kommen“ (S. 22) lassen. Dazu ist einiges zu sagen: Die ostdeutschen Stimmen stammen (soweit dies dokumentiert wird) offenbar alle aus den 2000er-Jahren. Sie geben mithin lebendig Ausdruck davon, was Menschen heute aus verschiedenen Etappen ihres Lebens erinnern. Aber Hoyer vermeidet eine quellenkritische Analyse dieses Materials und hat auch von den Grundprinzipien lebensgeschichtlicher Oral-History-Arbeit keinen Gebrauch gemacht. Sie blendet damit die narrative Verarbeitung von Negativerfahrungen nach dem Ende der DDR und die offenkundige Entlastungsfunktion der Ich-Erzählungen etwa bei früheren MfS- und NVA-Offizieren aus.

Ausschließlich retrospektive Quellen zu verwenden und diese nicht mit zeitgenössischen Ego-Dokumenten und anderen Quellengattungen zusammenzubringen, ist als erheblicher handwerklicher Mangel einzustufen. Um ein Beispiel zu zitieren: Einem Band des Verlages „Bild und Heimat“ entnimmt die Autorin die Erzählung der Möbelfabrik-Mitarbeiterin Erika Krüger, einem „stolzen Mitglied“ ihrer Brigade, die in den 1970er- und 1980er-Jahren „unbeschwert“ ihren „zunehmend komfortabel“ gestalteten Alltag gelebt habe (S. 409f.). Sie sei, so heißt es dann, bei ihrer ersten Westreise 1988 in Oldenburg schockiert gewesen über weggeschmissene Lebensmittel in den Mülltonnen eines Supermarktes. Dies mag so gewesen sein, bedürfte aber einer Gewichtung gegenüber den zahlreichen zeitgenössischen, geradezu euphorischen Schilderungen des „Westerlebnisses“ nach der Reisewelle von hunderttausenden DDR-Einwohnern im Umfeld des Honecker-Besuches in Bonn 1987. Stattdessen bildet für Katja Hoyer nicht nur Empathie, sondern sogar eine Art verschmelzende Identifikation mit ihren Protagonist:innen den Kern ihrer Erzählposition. Diese geht so weit, dass sie paradoxerweise nur ausgesprochen selten wörtliche Zitate aus dem verwendeten Material präsentiert und damit eine kritische Interpretation verhindert.

Unreflektiert und suggestiv ist auch ihre „bunte“ Bildstrecke, die mit Kurztiteln wie „Wiederaufbau Berlins“ oder „Dorffest in Thüringen, um 1965“ jegliche Art von Einordnung zum zeitgenössischen Entstehungskontext vermissen lässt. Es dominieren Motive des Glücks: Von den 22 Bildern, die Personen in Alltagssituationen erfassen, zeigen 16 lachende oder zufrieden lächelnde Gesichter. Selbst der „Grenzschutz, 1980er-Jahre“ – also die Tötungsdrohung gegen Menschen, die die DDR verlassen wollen – wird mit dem Farbfoto eines besinnlich am Grenzpfosten seine Pausenzigarette rauchenden Soldaten im Tarnanzug mit Funkgerät und dezent verdeckter Maschinenpistole illustriert.

Die Ambition, die DDR-Gesellschaft aus ihrer Mitte heraus zu verstehen und nicht nur die Kammhöhen der Politikgeschichte abzuschreiten oder die widerständigen Minderheiten zu suchen, ist ein ebenso berechtigtes wie notwendiges Anliegen, mit denen sich zahlreiche Forscher:innen intensiv befasst haben. Doch all deren Konzepte und empirischen Befunde ignoriert Hoyer. Statt dessen behauptet sie, die „Wunden der Trennung“ seien nach 1990 noch zu frisch gewesen, um untersucht zu werden (S. 23). Ihre These lautet, dass eine Mehrheit der auf dem Territorium der DDR lebenden Deutschen zunächst zum Spielball äußerer Mächte (Hitler, Stalin, „die Amerikaner“, Ulbricht, die Stasi) geworden sei. Dieses Narrativ erinnert fatal an die Opfererzählungen der jungen Bundesrepublik, als „Hitlers“ Krieg, die alliierten Bombenteppiche, der Hunger der Nachkriegszeit und die Vertreibung aus dem Osten das Selbstbild dominierten. Die Mehrheit in der DDR habe sich dann jedoch dem Aufbau einer neuen Gesellschaft zugewandt, zwar nicht in erster Linie aus politischer Überzeugung, aber doch mit einer gewissen eigensinnig-unpolitischen Sympathie:

“Im Gegensatz zu vielen späteren Darstellungen war die vorherrschende Stimmung innerhalb der ostdeutschen Bevölkerung nicht von Ablehnung des Ulbricht’schen und Neid auf Adenauers System geprägt, sondern von Erleichterung und sogar Begeisterung. Die überwiegende Mehrheit derjenigen, die in der 1950er-Jahren in der DDR lebten, erinnerten sich an die Kriegsjahre, die Vertreibung aus Osteuropa, die Luftangriffe, die Vergewaltigungen, das Chaos und die Gefangenschaft als schreckliche Erlebnisse, die in starkem Kontrast zur Aufbruchstimmung der späten 1940er- und frühen 1950er-Jahre standen.“ (S. 219)

Sich der Mitte einer diktatorisch verfassten Gesellschaft zu widmen, stellt eine methodisch fordernde Aufgabe dar, denn es gibt für die Beurteilung von Mehrheits- und Minderheitsverhältnissen keine Gradmesser wie Wahlergebnisse oder eine kontinuierliche Gesellschaftsbeobachtung durch Medien, Demoskopie oder sozialwissenschaftliche Analysen. Leitbegriff der Betrachtungen von Hoyer ist die von Ulbricht angeblich durchgesetzte „klassenlose Gesellschaft“. Zwar wäre ein „charismatischerer Staatenlenker“ (S. 221) mit einem sozialdemokratischen Programm möglicherweise geschickter vorgegangen, so die Autorin, aber dies hätte nichts an der ökonomischen Lage der DDR vor dem Mauerbau und der Aussicht auf „wenig Luxus“ (S. 222) geändert:

„Eine klassenlose Gesellschaft verhindert per Definition einen überdurchschnittlich hohen Lebensstandard. Verlierer sind immer die Mittel- und Oberschicht, gleichgültig, ob Zensur und Unterdrückung oder Freiheit und Mäßigung herrschen. Die Tatsache, dass ein anderes Deutschland nur eine kurze Autofahrt oder, in Berlin, nur einen kurzen Spaziergang entfernt lag, hätte auf Facharbeiter, Akademiker, Intellektuelle und andere mit überdurchschnittlichem Einkommen eine große Anziehungskraft ausgeübt. Dies hätte zu einer Abwanderung von Fachkräften geführt, die vielleicht nicht ganz so drastisch, aber für die abgewürgte Wirtschaft der DDR auf lange Sicht ebenso verheerend gewesen wäre.“ (S. 222)

Im Rückblick auf Honeckers Wendung zur „Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik“ ab 1971 spitzt sie dieses Argument noch zu:

„Die Transformation der Gesellschaft unter Ulbricht, die auch eine nie da gewesene soziale Mobilität beinhaltete, war Bestandteil einer langfristigen Vision von der klassenlosen Gesellschaft, in der man am oberen Ende des wirtschaftlichen Spektrums freiwillig auf Luxus verzichtete, um am unteren Rand große Armut zu verhindern. [...] Honecker interpretierte materielle Wünsche dagegen als Kernelement von Unzufriedenheit und bemühte sich intensiv darum, diese in Form von partieller Verwestlichung zu befriedigen. Indem man Lkw-Ladungen amerikanischer Jeans beschaffte oder den Bürgern erlaubte, im Intershop Waschmittel aus dem Westen zu kaufen, wurde vor allem der Wunsch nach mehr geweckt und die Wahrnehmung der DDR als eine halbherzige Imitation des Westens – oder noch schlimmer: einer neidischen Zuschauerin – verschärft.“ (S. 417)

In einer unfreiwilligen Übernahme der paternalistischen SED-Sprache hält sie Honecker vor, er habe „Zweifel in den Köpfen der Menschen“ gesät – „eine klare Orientierung fehlte“ (S. 417). Die Rolle des „imaginary West“ (Alexej Yurchak), wie etwa die gut dokumentierte Begeisterung „vieler“ DDR-Bürger (um einen der Lieblingsbegriffe Hoyers aufzugreifen) für Willy Brandt als Hoffnungsträger zur Überwindung der Kontaktsperren Richtung Westdeutschland, oder die abendliche „teilnehmende Beobachtung“ via TV am Leben jenseits der Grenzen werden nicht als breit verankerte soziale Realitäten behandelt, denen sich Honeckers „Herrschaft als soziale Praxis“ (Lüdtke/Lindenberger) stellen musste. Stattdessen fungiert „der Westen“ als verführerische Ablenkung vom bescheidenen Glück.

Hoyer konstruiert eine soziale „Mitte“ der DDR-Gesellschaft, deren Subjekte seit den 1960er-Jahren politisch aufgeladene Wünsche wie Bewegungsfreiheit oder das Streben nach materiellen wie immateriellen Zukunftsperspektiven für sich und ihre Nachkommen kaum noch hatten. Aufbauend auf ihr Theorem der „klassenlosen Gesellschaft“ sieht Hoyer die breite Mehrheit der DDR-Bevölkerung als im wesentlichen homogene Gruppe an, die etwa die Unterscheidung von soziopolitisch definierten „Dienstklassen“ (Heike Solga) und Arbeiterschaft nicht kennt. Die gut dokumentierte Tendenz, dass die Angehörigen der sozialistischen Funktionseliten zugunsten ihrer Nachkommen die von Hoyer immer wieder gepriesenen Aufstiegskanäle verstopften, beachtet sie nicht. Auch der verbreitete Diskurs über legitime oder illegitime „Privilegien“ von Parteifunktionären und Reisekadern aller Couleur hat keinen Platz in ihrem DDR-Bild. Ihre „Mitte“ reicht mithin von MfS-Offizieren über Wirtschaftsfunktionäre bis zu Fabrikarbeiterinnen, wobei die notorisch an den Armutsrand der Arbeitsgesellschaft gedrängten Gruppen keinen Platz finden. So sucht man vergeblich etwa die Stimme von alten Menschen (meistens waren es Frauen), die von der kargen Mindestrente ihre letzten Lebensjahre bestreiten mussten.

An diese sozialhistorische (Fehl-)Diagnose schließt Hoyer ein Panorama von Haltungen an, das reich an Traditionsbeständen der deutschen Gesellschafts- und Mentalitätsgeschichte ist. Aufbauend auf die Rückblicke ihrer Protagonist:innen beschreibt Hoyer die Mentalität der Mehrheitsgesellschaft als im Kern unpolitisch. Die massive Wirkung von politischen Loyalitätsbekenntnissen auf persönliche Aufstiegs- und Lebenschancen, den Denunziationsdruck gegenüber Parteileitungen, FDJ-Funktionären oder der Geheimpolizei blendet sie aus und fällt damit hinter unser Wissen über die ambivalente Beschaffenheit des DDR-Alltagslebens weit zurück, wie sie etwa selbst in den Rückblicken des jeder „Siegerhistoriografie“ unverdächtigen Wolfgang Engler plastisch dargelegt werden, von Stefan Wolle oder Ilko-Sascha Kowalczuk ganz zu schweigen.6

Zur Mentalität des „unpolitischen“ Lebens unter der Diktatur kommt in Hoyers Erzählung eine zweite vertraute Komponente – das Glück der „Gemeinschaft“. Die Soldaten und Polizisten des neuen Staates hätten eine „feste Struktur der Zugehörigkeit und Gemeinschaft“ gesucht, „im Gegensatz zu dem, was sie als den leeren Konsum des Westens empfanden“ (S. 195). Beim Tausch der „braunen Hemden der Hitlerjugend gegen die blauen der FDJ [...] sehnten sich die Menschen nach dem Gemeinschaftsgefühl, das ihnen das sozialistische System bot“ (S. 220), heißt es etwa für die 1950er-Jahre.

Wo Hoyer für Einfühlung in die (Volks-?, Menschen-?)„Gemeinschaften“ wirbt, folgt sie auch deren Tendenz zur Ausgrenzung. Für Unordnung und Aufruhr hat sie wenig übrig. So streut sie in ihre längere Darstellung des 17. Juni 1953 schließlich ein: „Was als Ausdruck der Frustration der Arbeiterklasse begonnen hatte, mündete in ein heilloses Chaos, begleitet von Brandstiftungen, Plünderungen und Vandalismus.“ (S. 178) Den Prager Frühling 1968 charakterisiert sie – ohne auf das tatsächliche Aufblühen des politischen und kulturellen Lebens in der ČSSR einzugehen – historisch falsch als „Großdemonstrationen, Streiks und Unruhen“, während Ulbricht ein „relativ stabiles Ostdeutschland“ vorzuweisen gehabt habe (S. 315). Und zu Wolf Biermann hält sie suggestiv fest, dieser sei (wie auch der Pfarrer Oskar Brüsewitz, der sich 1976 im Protest gegen die Diktatur durch Selbstverbrennung das Leben nahm), aus „freien Stücken aus dem Westen in die DDR gekommen“, habe eine „schwierige Vergangenheit“ gehabt und sei „seelisch etwas vorbelastet“ gewesen. Er habe aus Naivität angenommen, „das Land besser machen“ und ein „breiteres Publikum“ erreichen zu können (alles S. 375). Abgesehen davon, dass Hoyer damit das Aufkommen eines Milieus junger Menschen übersieht, die sich kontrovers austauschen und ernst genommen werden wollten und dafür vor allem in Kirchengemeinden Raum fanden, lassen solche Konstrukte zur narrativen Ausgrenzung von „Sonderlingen“ der Opposition den Atem stocken.

Das gilt auch für Hoyers Kapitel zu den Arbeitsmigrant:innen aus Ländern des globalen Südens. Hoyer argumentiert, dass trotz solcher Regelungen wie dem Zwang zur sofortigen Ausreise (oder zur Abtreibung) bei Frauen im Fall einer Schwangerschaft die „heftige und einseitige Kritik“ der Rassismusforschung hier „unangebracht und geradezu absurd“ sei (S. 391). Rassistische Vorfälle werden von ihr als „Missverständnis“ (S. 387) auf Volksfesten subsumiert. Hier, wie auch an vielen anderen Stellen, schreibt Hoyer die Forschung zu den Kehrseiten des Glücks der Gemeinschaftlichkeit fälschlicherweise „westlichen Historikern“ auf ihrer Suche nach möglichst negativen Aspekten des Lebens in der DDR zu (S. 391).

Ihrem Narrativ folgend, hat es Katja Hoyer allerdings schwer, die (um es in ihrer Sprache zu sagen) „Unruhen“ von 1989, also den demokratischen Aufstand gegen die SED-Diktatur, historisch zu erklären. Die letzten Kapitel werden deshalb ausgesprochen widersprüchlich. Für Ende 1970er-Jahre konstatiert sie, die in die DDR hineingewachsene Generation habe sich „bequem und durchaus etwas träge eingerichtet“ (S. 415). Für die Mitte der 1980er-Jahre kommt sie zu dem Befund, dass sich die „meisten Ostdeutschen“ mit dem System arrangiert hätten, wenngleich „[v]ielen […] das Leben zu spießig oder zu provinziell“ geworden sei. „Viele“ seien in eine „komfortable, jedoch perspektivlose Lethargie“ verfallen (alle Zitate S. 473). Für die folgenden Jahre wiederum hält sie fest: „Obwohl die Mehrheit der Ostdeutschen 1988 weder die Abschaffung des Staates wünschte noch von einer baldigen Wiedervereinigung mit dem Westen träumte, war die Erwartung spürbar, dass die DDR ihre Politik modernisieren müsse.“ Und mit Blick auf die von der ostdeutschen Staatsführung abgelehnte sowjetische Reformpolitik folgt kurz darauf: „Die DDR war eine hoch gebildete, hoch qualifizierte und hoch politisierte Gesellschaft, die selbstbewusst und stolz auf ihre Errungenschaften war und sich weiterentwickeln wollte.“ (S. 488)

Eine zusammenhängende Argumentation lässt sich aus solchen nebulösen Urteilen nicht entwickeln. Zentrale Faktoren wie etwa die wachsende Ausreisebewegung, die aufgestaute Unzufriedenheit über die marode Wirtschaft mit ihren Versorgungsengpässen, der immer schärfer formulierte Unmut und schließlich die Mobilisierung für den Protest auf der Straße verschwinden dahinter. Ebenso konsequent wie paradox gipfelt dieser Abschnitt in der Schilderung ihres Familienbesuches auf dem Ost-Berliner Fernsehturm am Republikgeburtstag, also dem 7. Oktober 1989. Angesichts des von oben betrachteten „Miniaturchaos“ der Demonstranten im Umfeld des Palasts der Republik, die von knüppelnden Polizisten auseinandergetrieben werden, brachte ihr Vater, Berufsoffizier der Luftstreitkräfte in Strausberg, die Familie schnell nach Hause in Sicherheit: „Wie die meisten Ostdeutschen verspürte er keinen Drang, sich an den Demonstrationen in Berlin zu beteiligen.“ (S. 503) Und so zerfiel Hoyers DDR scheinbar ganz von selbst. Auf den folgenden Seiten kommt sie gleichsam protokollarisch an den Massendemonstrationen, dem Exodus nach der Grenzöffnung und schließlich dem Wahlergebnis vom 18. März 1990 nicht vorbei. Aber eine analytische Linie, irgendeine Art von Ursachenforschung für diese – in der Tat aus ihrer Perspektive gänzlich unerklärlichen - Wendungen bietet sie nicht an.

Was also bleibt? Wenn ein Buch einen solchen Verkaufserfolg hat und eine solche mediale Aufmerksamkeit auf sich zieht, dann ist es fraglos notwendig, sich damit genauer auseinanderzusetzen. Dies sei hiermit geschehen: Historiografisch ist Hoyers Buch ohne Belang und stellt methodisch und in seinen analytischen Befunden einen deutlichen Rückschritt dar. Es wäre vielleicht ehrlicher gewesen, es klar als subjektives Lesebuch einer Vertreterin der „Dritten Generation Ost“ auszuweisen, die sich bemüht, sich das Leben ihrer Elterngeneration anzueignen. Auch dann muss sich die Verfasserin allerdings vorwerfen lassen, so etwas wie eine verstehende Distanz gar nicht erst einzunehmen, sondern lediglich eine neue Spielart des Geschichtsrevisionismus hervorzubringen. Ganz in diesem Sinne empfiehlt sie den Nachgeborenen zum Schluss, „die deutsche Obsession der Vergangenheitsbewältigung abzuschütteln“ (S. 538).

Anmerkungen:
1 Vgl. insbesondere Franziska Kuschel, Einseitig, grotesk verkürzt, faktische Fehler – dieses DDR-Buch ist ein Ärgernis, in: Der Spiegel 20/2023, S. 38f.
2 Heike Wolter, „Ich harre aus im Land und geh, ihm fremd“. Die Geschichte des Tourismus in der DDR, Frankfurt am Main 2009, S. 75.
3 Vgl. Edda Ahrberg / Tobias Hollitzer / Hans-Hermann Hertle (Hrsg.), Die Toten des Volksaufstandes vom 17. Juni 1953, Münster 2004.
4 Michael F. Scholz, Die DDR 1949–1990, in: Gebhardt Handbuch der deutschen Geschichte. 10. völlig neu bearbeitete Auflage, Band 22, Stuttgart 2009, Abschnitt VII, S. 223–554.
5 So der Titel des von Hoyer verwendeten Bandes: [ohne Hrsg.,] Republik der Werktätigen. Alltag in den Betrieben der DDR, Berlin 2020.
6 Vgl. Wolfgang Engler / Jana Hensel, Wer wir sind. Die Erfahrung, ostdeutsch zu sein, Berlin 2018; sowie exemplarisch u.a.: Stefan Wolle, Die heile Welt der Diktatur. Alltag und Herrschaft in der DDR 1949–1989. Die große Trilogie zur DDR-Geschichte, Berlin 2013; Ilko-Sascha Kowalczuk, Stasi konkret. Überwachung und Repression in der DDR, München 2013, besonders das Kapitel zum Informantenwesen.