Während Erinnerungen von Zeitzeugen seit langem große Aufmerksamkeit genießen, sind Erinnerungen in Familien ein jüngerer Untersuchungsgegenstand. Nach den Studien von Angela Keppler wurden Formen und Funktionen des „Familiengedächtnisses“ in den letzten Jahren vor allem mit den Veröffentlichungen der Projektgruppe um Harald Welzer bekannt.1 Das Buch „Opa war kein Nazi“, in dem die wichtigsten Ergebnisse des Projekts zusammengefasst wurden, sorgte auch jenseits der fachinternen Diskussion für großes Aufsehen. Trotz gelegentlicher Kritik von geschichtswissenschaftlicher Seite ist diese Arbeit nach wie vor die zentrale Referenz, wenn es um familiäre Erinnerungen an die NS-Zeit geht.
Mit ihrer Dissertation möchte Iris Wachsmuth neue Blicke auf das Familiengedächtnis zum „Dritten Reich“ werfen, die über bisherige Ansätze hinausreichen. In Anlehnung an Gabriele Rosenthal und Fritz Schütze wählt sie dafür eine biografieanalytische Perspektive, in der sich unbewusste Prozesse der Weitergabe, Verdrängung oder Gesprächsblockaden erfassen lassen. Solche Konflikte und Übertragungsprobleme seien sehr viel verbreiteter, als bisherige Studien suggerierten. „Das Fehlen expliziter innerfamiliärer Vergangenheitsdiskurse“ (S. 17), so lautet eine Ausgangsthese Wachsmuths, sei die Regel, die Tendenz zur Heroisierung und Viktimisierung, die bislang als Charakteristikum des Familiengedächtnisses gilt, eher die Ausnahme. Diesen Befund entwickelt sie anhand von Interviews mit fünf Familien aus West- und Ostdeutschland. Dabei kann Wachsmuth zeigen, dass es zwischen den Generationen zur Delegation unbewusster „Familienaufträge“ kommen kann, wenn die Zeitzeugengeneration beispielsweise über Erlebnisse schweigt und Kinder oder Enkelkinder „deren Schicksal […] bekannt machen“ wollen, was Wachsmuth als „unbewusst transformative Bearbeitung“ versteht (S. 72). Häufig seien auch Konflikte zwischen den Generationen zu beobachten, die sich auf Emanzipationsbestrebungen der Nachgeborenen zurückführen ließen – so im Fall der Tochter einer Zeitzeugin, die ihre Lebensgeschichte „als Selbstfindungsprozess zwischen Ablösung vom Elternhaus bzw. von der Mutter und Berufsfindung erzählt“ (S. 116).
Insofern sind es nicht nur Erfahrungen aus der NS-Zeit, sondern ebenso spätere Ereignisse oder Erlebnisse der Nachgeborenen, die dem Familiengedächtnis starke Impulse geben. Am Beispiel der „abgebrochenen Berufskarriere“ (S. 140) der Tochter einer Zeitzeugin macht Wachsmuth deutlich, wie das Erzählen der Familiengeschichte den Bedürfnissen der Kinder gehorchen und zu einem Austragungsfeld familiärer Konflikte geraten kann. Im Familiengedächtnis, so lassen sich diese Beobachtungen zusammenfassen, dominiert also keineswegs jener versöhnliche Erinnerungs-Konsens, der bislang als Voraussetzung transgenerationaler Tradierungsprozesse verstanden worden ist. Gleichwohl bleibt zu fragen, inwiefern dieses Ergebnis auf das Vorgehen der Studie zurückzuführen ist. Während bisherige Arbeiten zum Familiengedächtnis einen Schwerpunkt auf die Auswertung von Familien- und Gruppeninterviews gelegt haben, beschränkt sich Wachsmuth auf die Analyse von Einzelinterviews, die mit drei Generationen (Zeitzeuge, Kind und Enkelkind) geführt wurden. In diesen Interviews dürften der Druck zur Konsensbildung und damit auch das Bedürfnis zur Heroisierung oder Viktimisierung der Zeitzeugen sehr viel geringer sein als in gemeinsamen „Tischgesprächen“.
Zwei weitere Schwerpunkte setzt der Band mit der Erforschung milieu- und geschlechtsspezifischer Einflussfaktoren. Während in bisherigen Studien das Augenmerk beim Ost-West-Vergleich auf politische und erinnerungskulturelle Unterschiede zwischen Bundesrepublik und DDR gelegt wurde, stößt Wachsmuth auf zusätzliche Einflussfaktoren. Das „ungleiche Verhältnis zwischen Ost- und Westdeutschland“ (S. 201), das beispielsweise für den Sohn eines Zeitzeugen ein zentrales Erinnerungsmotiv ist, macht sich für Befragte aus der ehemaligen DDR oft an materiellen Dingen fest. In einer anderen ostdeutschen Familie ist der „Deutungs- und Handlungsrahmen“ der Erinnerung „bestimmt durch den ökonomischen Lebensstandard und Status im jeweiligen System“ (S. 163). Für die Forschung sind solche Beobachtungen insofern bemerkenswert, weil sie stärker als bisher materielle Faktoren als Erinnerungsrahmen in den Mittelpunkt rücken.
Geschlechtsspezifische Motive wirken sich vor allem auf die Weitergabe von Erinnerungen aus. „Identifikations-, Projektions- und Abgrenzungsverhältnisse“ zwischen den Generationen (S. 291) beruhen häufig auf Geschlechterbeziehungen. Ob sich die Familiengeschichte an einem „Konkurrenzverhältnis“ oder an einer „emotionalen Nachbearbeitung“ entfaltet (S. 292), ist nicht zuletzt davon abhängig, ob Frauen oder Männer mit Töchtern bzw. Söhnen über die NS-Zeit sprechen. Während für dieses Verhältnis von „gender and memory“ bereits einige Forschungen vorliegen, erkundet Wachsmuth noch einen weiteren, bislang vernachlässigten Erinnerungsrahmen: Religiosität und Konfessionalität. In zwei der von ihr befragten Familien spielt der Glaube eine entscheidende Rolle für die Ausbildung einer „konfessionell eingebundenen Familiengeschichte“ (S. 276) und damit für die Weitergabe spezifischer Narrative. So kann sie am Beispiel eines Befragten nachweisen, dass Zeitzeugen in ihrer Religiosität eine „Strategie der Schuldbearbeitung“ (S. 229) finden und dass dies von Kindern und Enkelkindern aufgegriffen werden kann.
Iris Wachsmuth schlägt also einige neue Schneisen in das Dickicht der familiären Erinnerungen. Einen gemischten Eindruck hinterlässt allerdings der betont aufklärerische Tenor in einigen Kapiteln. Wachsmuths Plädoyer für eine Befreiung des Individuums aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit, für eine Auseinandersetzung mit Familienerinnerungen im Dienste von Demokratiefähigkeit und politischer Bildung ist pädagogisch zweifellos ehrenwert. Dennoch steht dieser etwas plakative Appell im Kontrast zu ihrer Auseinandersetzung mit den Quellen, wie man mit Erleichterung feststellt. Denn Wachsmuth gelingt eine differenzierte Analyse familiärer Erinnerungen, die wegen der umfangreichen Belege aus den Interviews stets nachvollziehbar bleibt und einige neue Anstöße gibt.
Anmerkung:
1 Angela Keppler, Tischgespräche. Über Formen kommunikativer Vergemeinschaftung am Beispiel der Konversation in Familien, Frankfurt am Main 1994; Harald Welzer / Sabine Moller / Karoline Tschuggnall, „Opa war kein Nazi“. Nationalsozialismus und Holocaust im Familiengedächtnis, Frankfurt am Main 2002; vgl. dazu auch die Rezension von Isabel Heinemann: <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/ZG-2002-127> (21.12.2009).