Die Geschichte der topographischen Vermessung des Russischen Reiches im Langen 19. Jahrhundert ist der Gegenstand von Martin Jeskes Studie. Ab Ende des 18. Jahrhunderts war es für alle europäischen Staaten essentiell, über genaue topographische Kenntnisse der von ihnen beanspruchten Territorien zu verfügen, um so den imperialen beziehungsweise nationalen Machtanspruch gegen innen und außen zu sichern. Eine moderne staatliche Ordnung verlangte nach Eindeutigkeit; Zwischenräume und Übergangszonen wichen klar definierten zwischenstaatlichen Grenzen. Das Innere wiederum musste für eine moderne Regierung lesbar gemacht werden.1 Jeskes Studie zeichnet die Geschichte der sich aus dieser Notwendigkeit ergebenden Territorialisierung Russlands nach. Es geht ihm nicht nur darum, Karten als historische Quellen nutzbar zu machen, sondern auch umfassende Transferprozesse zwischen West und Ost im Feld der Kartographie und Geodäsie herauszustellen. Karten sind eine eigenständige Quellengattung mit spezifischer Sprache, Symbolik, Metaphorik und gleichzeitig auch anschauliche Machtprojektionen, die ein bestimmtes Raumbild produzieren beziehungsweise reproduzieren (S. 16f.).
Der untersuchte Zeitraum von 1797 bis 1919 spiegelt die führende Rolle des Karten-Depots in St. Petersburg (ab 1812 Militär-Topographisches Depot) wider, das eine koordinierende Stellung bei der kartographischen Erfassung des Russischen Reiches einnahm (S. 43-46). Ab Ende des 18. Jahrhunderts wurden europäische Imperien in klaren territorialen Begriffen gedacht und verwaltet. Weshalb aber das Russische Reich an dieser Aufgabe gescheitert und wie es mit diesem Scheitern umgegangen ist, versucht Jeske in seiner Studie herauszuarbeiten.
Im ersten Teil stehen die Akteure und Strukturen im Fokus, die sich um eine topographische Erfassung des Riesenreiches bemüht haben. Neben dem Kartendepot in St. Petersburg, gehören dazu auch Akteure wie Friedrich Georg Wilhelm Struve (1793-1864), der sich zunächst an der Universität Dorpat und später an der Sternwarte von Pulkovo in der Nähe von St. Petersburg in erster Reihe für eine exakte trigonometrische Erfassung des europäischen Teils engagierte. Eine exakte Vermessung von Längen- und Breitengraden und des Erdkörpers an sich stellte eine notwendige Voraussetzung einer topographischen Landesaufnahme dar. Nur so konnten Distanzen einer gekrümmten Oberfläche auf einer zweidimensionalen Karte zuverlässig berechnet und wiedergegeben werden. Die Transferprozesse liefen nicht nur in West-Ost Richtung. So haben die astronomischen Messungen der russischen Geodäten neben solchen aus Westeuropa und den Amerikas entscheidend dazu beigetragen, die Gestalt der Erde annähernd exakt zu berechnen (S. 74-85).
Innerhalb der imperialen Elite tobte eine Auseinandersetzung, welchen primären Zweck die topographische Erfassung erfüllen sollte. Auf der einen Seite setzte sich die Armeeführung dafür ein, die Grenzregionen im Westen und im Südwesten prioritär zu erfassen, um gegen potentielle Invasionen gewappnet zu sein. Auf der anderen Seite machten sich die zivilen Ministerien dafür stark, den europäischen Teil des Reiches flächendeckend zu vermessen, um die Entwicklung, insbesondere die Ausbeutung von Bodenschätzen aber auch die Produktivität in der Landwirtschaft voranzubringen. Letztlich hat die Armeeführung in diesem Interessenkonflikt oft die Oberhand behalten, so dass nur die westlichen Teile des Reiches genau erfasst und die angefertigten Karten aktuell gehalten wurden, während die zentralrussischen Gebiete um Moskau mit Hilfe von Kartenkompilationen aus der vorangegangenen Generalvermessung der Landgüter nur in einem großen Maßstab und dazu oft noch fehlerhaft erfasst wurden (S. 356).
Die Konkurrenz zwischen verschiedenen imperialen Institutionen hat wesentlich dazu beigetragen, dass die topographische Erfassung des gesamten europäischen Teils Russlands mit Ausnahme der Grenzregionen zu den konkurrierenden Imperien im Westen und Südwesten scheiterte. Mangelnde Koordination, Geheimhaltung und Doppelungen haben das ihrige dazu beigetragen. Während des Ersten Weltkriegs ergriffene Initiativen kamen zu spät (S. 168ff.). Die stark begrenzt eingesetzten imperialen Ressourcen führten dazu, dass das Ziel einer einheitlichen topographisch-kartographischen Erfassung des europäischen Teils im Laufe des Langen 19. Jahrhunderts zunächst erschwert, dann verhindert und schließlich ganz aufgegeben wurde (S. 155). In einem Zeitalter, in dem genaue Karten auch als „Waffen“ galten, wirkte sich dies negativ auf die Möglichkeiten der strategischen Planung und taktischen Umsetzung im Krimkrieg (1853-1856) aber auch später im Ersten Weltkrieg aus (S. 270, 338 und 367f.).
Im zweiten Teil seiner Studie stellt Jeske fünf verschiedene Kartenprojekte vor, welche die Raumbilder des Russischen Reiches zwischen 1799 und 1919 wesentlich geprägt haben. Dies sind die Hundertblatt-Karte (gedruckt zwischen 1799 und 1816), die Schubert-Karte (1826–1840), die Specialcharte von Livland (veröffentlicht 1839), die Drei-Werst-Karte (gedruckt zwischen 1846 und 1917) sowie die Strel’bickij-Karte (gedruckt zwischen 1865 und 1917). Außer die Specialcharte von Livland, die von der Livländischen gemeinnützigen und ökonomischen Societät in seltener Kooperation mit anderen führenden imperialen Institutionen herausgegeben wurde, standen alle übrigen Kartenprojekte unter der Regie der Armeeführung und des Militär-Topographischen Depots in St. Petersburg. Das bedeutet, dass die wesentlichen Initiativen zur kartographischen Erfassung Russlands unter der Regie der Armee erfolgten. Aspekte zur wirtschaftlichen Entwicklung des Landes spielten nur eine untergeordnete Rolle. Zivile Akteure mussten deshalb etwa bei der Suche nach Bodenschätzen auf für sie ungeeigneten Kartenmaterialien zurückgreifen.
In ihrem als Standardwerk zu betrachtenden Buch „Russia’s Empires“ verstehen Ronald Suny und Valerie Kivelson die russische Geschichte als Folge von imperialen Gebilden, die sich jeweils ihrer politischen Umwelt angepasst haben2. Jeske leuchtet einen entscheidenden Aspekt zur Transformation vom Russischen Reich zur Sowjetunion aus, als die Kategorie Nationalität eine staatstragende Bedeutung erlangte. Er kommt zum Schluss, dass „die Kosten des imperialen Machtanspruches nicht nur die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit [überstiegen] […]. Wie andere Imperien der Weltgeschichte, erscheint auch das Zarenreich als ‚Geisel des Territoriums‘. In dieser Hinsicht trifft auch die These vom ‚imperial overstretch‘ zu, wonach ein Reich von der Größe des Russländischen Imperiums mit den begrenzten Ressourcen eines relativ rückständigen Landes nicht (mehr) erfolgreich regiert werden konnte.“ (S. 382) Damit bestätigt er auch, was Catherine Gibson in „Geography and Nationhood“ am Beispiel des Baltikums hervorhebt, dass nämlich die Produktion von Karten das Verständnis von Staatlichkeit in breiten Bevölkerungsschichten im Laufe des Langen 19. Jahrhunderts entscheidend geprägt und dann die politische Neugestaltung nach dem Ersten Weltkrieg bestimmt haben3.
Ein formaler Kritikpunkt an der Studie ist, dass Doppelungen hätten vermieden (z. B. S. 351 und 355) und die Darstellung ohne inhaltlichen Verlust hätte gestrafft werden können. Auf einer analytischen Ebene nimmt Jeske an, dass Karten als Repräsentation des „Imperiums“ gelesen werden können. Mit der Specialcharte von Livland liefert Jeske ein Beispiel, wie sich die baltendeutsche Adelselite das Reich auf den Raum von Livland imaginierte (S. 317), während auf den übrigen Karten Gesichtspunkte der Armeeführung dominierten. Diese divergierenden Raumgestaltungen hätten deshalb eine Chance geboten, die imperialen Eliten unter dem Blickwinkel der Kooperation und Konkurrenz zu beleuchten. Ferner ist es schade, dass sich die Studie auf den westlichen Teil des Reiches beschränkt. Ein Kapitel zur kartographischen Erfassung der imperialen Expansion in Zentralasien in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hätte dies noch in einen weiteren, einen kolonialen, Kontext zu setzen vermocht. Diese genannten Punkte tun aber dem überaus positiven Gesamteindruck keinen Abbruch. Jeskes Band wird für die weitere Forschung insbesondere aufgrund der meisterhaft gelungenen Kartenabbildungen ein unabdingbares Hilfsmittel darstellen. Jeskes Studie stellt neben dem Werk von Gibson ein Grundlagenwerk für alle dar, die sich mit dem östlichen Europa aus einer raumgeschichtlichen Perspektive auseinandersetzen wollen. Es bietet äußerst hilfreiche Ansätze, wie man Karten aus dem Russischen Reich lesen, verstehen und interpretieren kann.
Anmerkungen:
1 James C. Scott, Seeing Like a State. How Certain Schemes to Improve the Human Condition Have Failed, New Haven 1998, S. 53-71.
2 Valerie A. Kivelson / Ronald G. Suny, Russia’s Empires, New York 2017, bes. S. 15-16 und 279.
3 Catherine H. Gibson, Geographies of Nationhood. Cartography, Science, and Society in the Russian Imperial Baltic, London 2022, S. 173-175.