Es scheint Segen und Fluch gleichermaßen zu sein, wenn eine sehr gute Untersuchung auf ein hochgradig interessiertes Fachpublikum trifft, aus dessen Kreis bereitwillig ein entsprechend kompetenter Rezensent heraustritt, um eine umfassende, wunderbar eingängig zu lesende Buchkritik zu verfassen – eben so geschehen im vorliegenden Fall: Es geht um die Monographie Felix Zimmermanns, die den Titel „Virtuelle Wirklichkeiten. Atmosphärisches im Digitalen Spiel“ trägt und just als 592 Seiten starke, minimal für die Veröffentlichung überarbeitete Dissertationsfassung an der Philosophischen Fakultät der Universität zu Köln im Büchner-Verlag erschienen ist.
Noch bevor ich auch nur mit der Lektüre dieser Veröffentlichung beginnen konnte, veröffentliche der geschätzte Kollege Sascha Pöhlmann seine Besprechung in der Zeitschrift für Computerspielforschung Paidia und kommt dabei – ohne meinen absoluten Hinweis schmälern zu wollen, jene als interessierte/r Historiker/in wie Digitalspielforscher/in unbedingt zu lesen – zu demselben Schluss: „Zimmermann legt mit diesem Werk eine umfassende, durchdachte und zugänglich geschriebene Konzeptualisierung vor […].“1
Zimmermanns Arbeit ist, so könnte man es rahmen, innerhalb der geschichtswissenschaftlichen Digitalspielforschung (oder den Digital Game Studies) zu verorten. Letztere versteht sich als ein interdisziplinäres Forschungsfeld, welches das Kulturartefakt digitales Spiel, die Praxis des Spielens selbst als Play Studies sowie die Untersuchung einer weiteren digitalen Spielökosphäre, in etwa der Digital Game Design Studies oder Digital Game Production Studies, ins Zentrum des Erkenntnisinteresses stellt und welches sich seit den späten 1990er- und frühen 2000er-Jahren zunehmend institutionalisiert, sich aber bisher nicht so recht als eigenständige Disziplin im deutschsprachigen Raum etablieren konnte (oder: wollte). Die geistes- und sozialwissenschaftliche Forschung hat von Anfang an eine große Rolle in der Entwicklung der Digital Game Studies gespielt und dies gilt auch für die Geschichtswissenschaft – so ist meiner Meinung dem Urteil der Historikerin Franziska Ascher recht zu geben, wenn sie festhält: „Eine Auseinandersetzung mit Mittelalterdarstellungen in Computerspielen von Seiten der Geschichtswissenschaft darf als mittlerweile etablierter Teilbereich der Game Studies gelten.“2
An dieser Stelle schließt sich gewissermaßen ein Kreis, denn sowohl Felix Zimmermann als auch die eben zitierte Franziska Ascher sind Teil des Arbeitskreises Geschichtswissenschaft und Digitale Spiele, der im Dezember 2015 ins Leben gerufen wurde. Dessen Bedeutung ist offensichtlich für Zimmermann und sein Schaffen; so urteilt er bereits in der Danksagung seiner Untersuchung: „Wär ich nicht Mitglied beim AKGWDS geworden, würde es dieses Buch hier nicht geben.“ (S. 5) Ebenso bedeutsam erscheint jedoch die finanzielle Förderung durch das Stipendium der a.r.t.e.s. Graduate School for the Humanities Cologne – aufgrund des bereits angesprochenen Status der Digitalspielforschung ist es für interessierte Nachwuchsforscher:innen in diesem Feld in der Regel äußerst herausfordernd, eine nachhaltige Finanzierung zu sichern. In gewisser Weise ist es daher bezeichnend, dass der Autor nach seiner Dissertation seinen Arbeitsbereich in die Bundeszentrale für politische Bildung verlegte, wo er nun als Referent für Games-Kultur, politische Bildung und Extremismus wirkt – die „gläserne Decke“ nach der Dissertation in den Digital Game Studies ist eher als schusssicheres Glas denn Zuckerglas zu verstehen.
Es ist konsequent, wenn Zimmermann bereits im Titel durch die Großschreibung des Mediums – „Digitales Spiel“ – anzeigt, dass man diese innerhalb der Community Digitalspielforschung-affiner Historiker/innen als erstens neue historische Form, zweitens als einen Untersuchungsgegenstand und schließlich drittens als eigene Untersuchungsinstrumente begreift.3 Im Zentrum der Arbeit steht die eingehende Digitalspielanalyse (sowohl Inhalte, Produktion als auch Rezeption sind inkludiert) dreier Titel – Anno 1800 (2019), Assassin’s Creed Syndicate (2015) und Dishonored: Die Maske des Zorns (2012), was das geschulte Auge aus zwei Gründen sofort besonders erfreut: Zum einen werden hier unterschiedliche Spielgenres (auch wenn der Genrebegriff als solcher durchaus umstritten ist) in den Blick genommen: Aufbauspiel, Action-Adventure und Immersive Sim. Alleine schon grundsätzlich ist eine solche Vielfalt zu begrüßen, da sie in Untersuchungen im Feld der digitalen Spielforschung (immer noch) nicht als selbstverständlich vorausgesetzt werden kann. Diese Auswahl hat zur Folge, dass durch die Genre-Unterschiede Zimmermann seinen Blick in etwa auf unterschiedliche Spielmechaniken und -systeme richten kann. Während im Aufbauspiel oft Zivilisationen spielerisch aufgebaut und (oftmals aus der Vogelperspektive) durch Raum und Zeit geführt werden sollen, steuert man die Protagonist:innen in Action-Adventure und Immersive Sims, in denen eine sehr große spielerische Freiheit angeboten wird, um Spielziele zu erreichen, oftmals aus der eigenen Perspektive, der first person view oder etwas versetzt über ihre Schulter hinweg, was eine andere Art der Immersion hervorruft. Zum anderen umfasst der Untersuchungszeitraum damit beinahe zehn Jahre, was in der Entwicklung und im Design digitaler Spiele oftmals bereits eine nicht zu unterschätzende Zeitspanne darstellt.
Als zentralen Begriff setzt Zimmermann in seiner Arbeit dabei den Begriff der Atmosphäre und löst damit in gewisser Weise eine Forderung ein, die von Christian Huberts und Sebastian Standke bereits vor annähernd zehn Jahren in ihrem Digital-Game-Studies-Sammelband Zwischen/Welten in der Einleitung aufgestellt wurde: „In Zukunft sollte ein Wissen um die Ästhetik der Atmosphäre […] ebenso zum selbstverständlichen Instrumentarium für die Analyse der Ästhetik von Computerspielen gehören […].“4 Es ist allerdings nicht nötig, in vergangene und aktuelle akademische Fachdiskurse zu blicken – der Atmosphärenbegriff wird auch abseits zum Beispiel in der Digitalspielfachpresse, bei streamenden Influencer/innen auf Videoplattformen wie Twitch oder YouTube oder als Digitalspielmarketingbegriff in Pressemitteilungen oder auf Digitalspielbeschreibungen in Onlineplattformen wie Steam beziehungsweise auf mittlerweile beinahe ältlich anmutenden Verpackungsrückseiten häufig benutzt, ohne genauer darauf einzugehen, was damit gemeint ist: Was genau zeichnet eine „spannende“, „packende“ oder „stimmige“ Atmosphäre aus? Wie wird sie transportiert? Nehmen unterschiedliche Spieler/innen sie in verschiedener Art und Weise wahr?
In seiner systematischen Annäherung stellt Zimmermann die Grundthese auf, dass „historisierende Digitale Spiele einen vermeintlich unmittelbaren, erlebnisorientierten Zugang zur Vergangenheit anbieten“ (S. 18) und führt schließlich im Anschluss der Untersuchung diverser Heuristiken in den drei Digitalspielen den Begriff der Vergangenheitsatmosphäre ein, den er als „ganzheitliche, leiblich gespürte, vergangen scheinende, allerdings nicht vergangene Wirklichkeit einer Relation zwischen einem wahrnehmenden Subjekt und dessen Umgebung“ (S. 492) beschreibt und an die Forderung koppelt, „atmosphärische Kompetenzen“ (S. 507) zu entwickeln. Dies wiederum wird zurecht von Pöhlmann in seiner Besprechung im Kontext einer generell wünschenswerten stärkeren Herausbildung wie Beachtung einer ludic literacy verortet. Dennoch: Zimmermanns These und dessen Entwicklung wirkt vor allem auch deshalb so überzeugend, da sie einen grundsätzlichen Befreiungsschlag in der beizeiten wenig systematischen Diskussion rund um den Atmosphärenbegriff darstellt. Zu wünschen ist daher, dass die hohe Anschlussfähigkeit der Untersuchung auf viele weitere Digitalspieltitel in der Zukunft fortgeführt und -getragen wird.
Ohne den Geist einer Vergangenheitsatmosphäre an dieser Stelle beschwören zu müssen, soll abschließend auf die erfreuliche Arbeitsweise und Einbindung der Digitalspielforschungs-Gemeinschaft durch Felix Zimmermann abschließend hingewiesen werden: Auf Twitter konnte man nicht nur einigermaßen regelmäßig erfahren, wie weit fortgeschritten die Arbeit ist, sondern Zimmermann stellte – wenn ich mich recht entsinne – auch immer wieder sehr grundsätzliche Fragen im Rahmen seiner Forschung zur Debatte, was ich persönlich als gemeinschaftsstärkenden Diskurs innerhalb der Digital Game Studies wahrnahm und ihre Sichtbarkeit erhöhte. Zusammengenommen handelt es sich um eine beeindruckende Untersuchung, auf die sich Digitalspielforscher:innen mit Sicherheit in Zukunft oftmals in ihren Arbeiten berufen werden – selbstredend gilt dies auch für Zeit- oder Kulturhistoriker:innen, welche sich für den Forschungsgegenstand digitales Spiel interessieren.
Anmerkungen:
1 Sascha Pöhlmann, Rezension zu: Felix Zimmermann, Virtuelle Wirklichkeiten. Atmosphärisches Vergangenheitserleben im Digitalen Spiel, Marburg 2023, in: Paidia. Zeitschrift für Computerspielforschung, < https://paidia.de/rezension-virtuelle-wirklichkeiten-atmosphaerisches-vergangenheitserleben-im-digitalen-spiel/> (05.07.2023).
2 Franziska Ascher / Thomas Müller, Vom ‚Wigalois‘ zum ‚Witcher‘ – Mediävistische Zugänge zum Computerspiel, in: Paidia. Zeitschrift für Computerspielforschung, <https://paidia.de/sonderausgabe-mediaevistische-zugaenge-zum-computerspiel/> (05.07.2023).
3 Arbeitskreis Geschichtswissenschaft und Digitale Spiele, Manifest für geschichtswissenschaftliches Arbeiten mit Digitalen Spielen. Update-Version 1.1, in: Arbeitskreis Geschichtswissenschaft und Digitale Spiele, < https://gespielt.hypotheses.org/manifest_v1-1> (05.07.2023).
4 Christian Huberts / Sebastian Standke (Hrsg.), Zwischen/Welten. Atmosphären im Computerspiel, Glückstadt 2014, S. 13.