P. Purtschert u.a. (Hrsg.): Gouvernementalität und Sicherheit

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Titel
Gouvernementalität und Sicherheit. Zeitdiagnostische Beiträge im Anschluss an Foucault


Herausgeber
Purtschert, Patricia; Meyer, Katrin; Winter, Yves
Anzahl Seiten
260 S.
Preis
25,80 €
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Barbara Lüthi, Geschichte 19. und 20. Jahrhundert, Universität Basel

Mitte des 17. Jahrhunderts entwickelte sich Thomas Hobbes “Leviathan” im europäischen Kontext zu einer Art von Sinnbild jener Staatsgewalt, die auf der Anerkennung aller Betroffenen beruhte. Diese Staatsgewalt sollte den Untertanen inmitten der Wirren der Religions- und schließlich des Dreißigjährigen Krieges Sicherheit und die Gewährleistung des Friedens garantieren. Die Sicherheitsgarantie entsprang in diesem Sinne einer sanktionsfähigen Zwangsgewalt. Wie aber ist Sicherheit gegenwärtig zu denken und wie ist sie heute mit Staat und Bevölkerung verknüpft? Die Herausgeber/innen Katrin Meyer, Patricia Purtschert und Yves Winter widmen sich im vorliegenden Band zu “Gouvernementalität und Sicherheit” diesen Fragen und verstehen Sicherheit als einen Leitbegriff der Gegenwart und als Leittechnik liberaler Staatlichkeit. Anknüpfend an Michel Foucaults Gouvernementalitätstheorie widersprechen sie der Vorstellung eines radikalen Bruches durch die Ereignisse des 11. September 2001, gemäß der sich die Sicherheitsfrage zur zentralen Herausforderung der Politik herausgebildet habe. Sie fragen vielmehr nach den “Verschiebungen” und “Resignifizierungen” des gegenwärtigen Sicherheitsverständnisses, das dem liberalen Staat immer schon inhärent gewesen sei (S. 8). Die von Foucault skizzierten Untersuchungen zur “Geschichte der Gouvernementalität” liefern den konzeptuellen Rahmen der vorliegenden Analysen. Während in der bisherigen Literatur zur Sicherheit der Fokus vor allem auf der Analyse der Subjektivierungsformen als Bedingung und Effekt gouvernementaler Regierung lag, steht vorliegend vor allem die Frage nach einer “staatlichen Regierungstechnik” von Sicherheit im Vordergrund.

Zwei komplementäre Aspekte leiten das Erkenntnisinteresse der internationalen Autorenschaft: Erstens wird ausgehend von Foucaults Konzept der Gouvernementalität eine “Diagnostik der Gegenwart” erstellt werden, zweitens stellt die Analyse der Sicherheitsgesellschaft den Ausgangspunkt für eine “kritische Re-Lektüre Foucaults” und eine “Revision seiner Machttypologie von Souveränität, Disziplin und Regierung” dar. Vor allem aber interessiert, inwieweit Foucaults Sicherheitskonzept in Bezug auf die Analyse der gegenwärtigen Sicherheitsregimes sich als tragfähig erweist und inwiefern es zu revidieren wäre (S. 17).

Während die einzelnen Beiträge von einer Reihe von Fragen angeleitet werden, besitzt die von Foucault zu Beginn seiner Vorlesungen im Januar 1978 im Collége de France aufgeworfene Frage, was denn überhaupt unter Sicherheit verstanden werden könne, noch immer Aktualität. Die Offenheit seines Sicherheitsbegriffs lässt für die Beantwortung dieser Frage viel Raum und spiegelt sich auch in der Vielfalt der sehr leserlichen Beiträge etwa zur Folter in demokratischen Rechtsstaaten (Susanne Krasmann), zu Bioterrorismus in Europa (Filippa Lentzos/Nikolas Rose), zur Neudefinition sozialer Sicherheit unter geschlechterspezifischer Perspektive (Katharina Pühl), zur neoliberalen Umgestaltung im postkolonialen Kontext Indiens und dem Einfluss der Religion (Katherine Lemons), zur Beleuchtung des Begriffs der Sicherheit im Rahmen einer Analytik der Gouvernmentalität (Sven Opitz) und zum liberalen Dilemma im Verhältnis von Sicherheit und Freiheit (Alex Demirović). Auf eine kleine Auswahl der Texte sei im Folgenden ausführlicher hingewiesen.

Während in der gegenwärtigen Literatur für das 20. Jahrhundert eine Entwicklung von “neuen Kriegen” im Sinne von Änderungen gesellschaftlicher Natur und eines grundlegenden Wandels in der politischen Ökonomie der Kriege mit der Erweiterung ihrer Wirkungsräume konstatiert wird, fokussiert der Beitrag des Politikwissenschaftlers Yves Winter auf die Frage, wie Kriege in der Begrifflichkeit einer neoliberalen politischen Rationalität zu denken sind. Die kennzeichnenden Merkmale der neuen Kriege (Privatisierung, Individualisierung usw.) legten es nahe, diese unter dem Blickwinkel der Gouvernementalität zu betrachten. Deutlich wird, dass mit der Entstaatlichung und Privatisierung der neuen Kriege sich deren politische Ökonomie und Motivationsstruktur wandle: Gewalt werde kommerzialisiert und von privaten Kriegsunternehmen verwaltet, es sei eine globale Deregulierung des Krieges zu beobachten und ebenso seien die neuen Kriege von einer Sicherheitsrationalität geprägt. In diesem Zusammenhang seien neue Legitimierungsstrategien zu erkennen: Das Sicherheitsbedürfnis werde nicht mehr durch ein “Gleichgewicht der Mächte” abgedeckt, sondern es erhebe Anspruch auf die “globale Fahndung potenzieller Bedrohungen” sowie deren “Verfolgung und prophylaktischer Stilllegung” (S. 67). Die Reorganisation von Gewaltformen sei, so der Autor, Teil einer radikal asymmetrisierten (Un-)Sicherheitsordnung, in der sich globale Unsicherheits- und Herrschaftsstrukturen in verzerrter Sicherheits- und Risikoverteilung niederschlagen.

Die zivilgesellschaftliche Beteiligung an den staatlichen Sicherheitspolitiken und der antiterroristische Sicherheitsdiskurs der Schweiz der 1970er-Jahre stehen im Zentrum des Beitrages der Historikerin Dominique Grisard. Insbesondere thematisiert sie die Zusammenarbeit von staatlichen Behörden und Staatsbürger/innen sowie die Subjekte und Verhaltensweisen, die von der Schweizer Zivilbevölkerung, aber auch der Presse, Politikern und Wirtschaftsunternehmern mit Terrorismus in Verbindung gebracht wurden. Die Medienberichterstattung, politischen Debatten, staatlichen Maßnahmen, wirtschaftlichen Rationalitäten und Bürgerinitiativen waren, so eine ihrer Thesen, für den damaligen antiterroristischen Sicherheitsdiskurs ebenso konstitutiv wie der Terrorakt selbst (S. 175). Das entscheidende Kriterium der Foucaultschen Machtanalyse sei es, die Sicherheitspraktiken einzelner Bürgerinnen und Bürger in diskursiven Ereignissen zu verorten. Nicht deren Motivationen, sondern die Verschiebung des Blicks auf die Bedingungen der Thematisierung von Sicherheit und Terrorismus in ihrer Verbindung zu anderen Aussagen bieten dabei den spezifischen Erkenntnisgewinn. Zivilgesellschaft und Staat zusammenzudenken ist eines der wesentlichen Anliegen der Autorin. Von Bedeutung sei die Wechselbeziehung zwischen Sicherheitstechnik und der Bevölkerung, die zugleich als Objekt und Subjekt dieser Sicherheitsmechanismen funktioniere, was heißt, dass die Bürger/innen zugleich Produzent/innen wie auch die Zielgruppe von Sicherheit sind. Die historischen Quellen verdeutlichen, dass es offensichtlich keines repressiven Staates bedurfte, da zahlreiche Menschen auch ohne staatliche Weisung “Sicherheitsverantwortung” übernahmen. Rechtsbürgerliche Kreise und Medien formulierten zeitgleich “Sicherheitsimperative”, die integrale Bestandteile der Regierungsrationalität des “Othering” darstellten.

Der Beitrag der Philosophinnen Katrin Meyer und Patricia Purtschert fokussiert auf das für die europäische Migrationspolitik prägende Moment des “Migrationsmanagement”. Die irreguläre Migration führen sie darin exemplarisch für eine aktuelle Form des gouvernementalen Sicherheitsregimes an. “Lenkung” und “Regulierung” erweisen sich in diesem Kontext als die Zauberworte. In diesem Szenario mutierten auch Migrantinnen und Migranten zu wirtschaftlichen Akteuren und figurierten als “Selbstunternehmer/innen”, die ihr “Humankapital” im Rahmen des Möglichen effizient einsetzten und in ihr eigenes “Geschäft” – die Migration – investierten (S. 154). Mit der Verlagerung von Entscheidungen an die Migranten rationalisiere sich das Migrationsmanagement als Regierungsform und erweise sich damit als typisch beschriebene Logik der Gouvernmentalität. Zugleich würden bedeutende Anteile der staatlichen finanziellen Lasten an die Regierten ausgelagert. Ziel der international koordinierten und über “Anreizsysteme” entwickelten Migrationssteuerung sei es, das Feld der Handlungsmöglichkeiten “proaktiv” zu strukturieren, und Interessen, Handlungen und Märkte zu generieren, die sich selbsttätig reproduzierten. Die Aufnahme respektive Ablehnung von Migrantinnen und Migranten erschienen damit als bestmögliche Regulierungen, welche es erlaube, die ökonomischen Prozesse in ihrer Natürlichkeit zu belassen. Ausgeblendet würden damit die historischen und politischen Bedingungen einer “globalen Apartheid” (Anthony Richmond). In der Logik des Migrationsmanagements erweise sich die Unterscheidung zwischen ir-/regulären Migrant/innen als zentral. Diese habe auch radikale Konsequenzen für die Betroffenen (von Freiheitsentzug bis zur Verweigerung von Sozialhilfemaßnahmen). Es entwickele sich aber auch ein Paradox: einerseits wird die Regulation der Migration an flexiblen (ökonomischen) Kriterien ausgerichtet, andererseits basiere die Repression irregulärer Migrantinnen und Migranten auf legalistischen Argumenten. Auf Foucaults Thesen übertragen heißt dies konkret, dass sich einerseits die gouvernementale Regierung durchsetzt, die andererseits wiederum eingeschränkt wird durch den Anteil “souveräner” Herrschaft. Eine der Pointen der Autorinnen ist, dass sich im zeitgenössischen Migrationsmanagement sanfte Regulierung und souveräne Gewalt verschränken. Erkennbar ist aber auch die Grenze der gouvernementalen Regierungslogik: Ziel ist es nicht, irreguläre Migrant/innen längerfristig biopolitisch verwalten zu können, sondern sie als “Nicht-Bevölkerung” zum Verschwinden zu bringen.

Gerade am Beispiel des letzten Beitrags zeigt sich ein weiteres Desiderat für die Forschung: Wünschenswert wäre zuweilen eine stärkere empirische Verdichtung der in dem Band angedeuteten “eigensinnigen” Handlungsformen von Menschen, die durchaus – auch angesichts des hier skizzierten gouvernmentalen Politikstils von Steuerung und Regulierung – ihr ökonomisches und soziales Potenzial zu ihren Gunsten einsetzen. Denn Sicherheit wird nicht allein diskursiv über die großen Produzenten der Medien, Wissenschaften, Politik oder über Institutionen hergestellt; “wirklich” wird sie zu allererst in der alltäglichen Lebenspraxis. Solche Beispiele könnten den überschüssigen, nicht staatlich zu regulierenden Anteil von Migrationsbewegungen einfangen – ohne damit eine Autonomie behaupten oder den Migrierenden eine Aura der Widerständigkeit verleihen zu wollen.1 Auch würde eine stärkere Historisierung verdeutlichen, dass etwa “Migrationsmanagement” im Sinne einer Steuerung keineswegs ein völlig neues Phänomen darstellt.2 Dadurch würde sich auch nochmals in einem differenzierteren Licht die Frage stellen, was denn wirklich neu ist an den gegenwärtigen gouvernmentalen Sicherheitsregimes.

Insgesamt regen die Vielfalt des Bandes und die vertiefte methodisch-theoretische Auseinandersetzung mit der Gouvernmentalitätstheorie Foucaults zum Weiterdenken an und verleihen der Sicherheitsthematik wie auch der Frage nach dem Wandel politischer Souveränität neue Einsichten. Als besonders erfreulich erweist sich der Blick über Europa hinaus.

Anmerkungen:
1 Siehe etwa Martina Benz / Helen Schwenken, Jenseits von Autonomie und Kontrolle: Migration als eigensinnige Praxis, in: PROKLA. Zeitschrift für kritische Sozialwissenschaft, 35,3 (2005), S. 363-377.
2 Siehe beispielsweise Adam M. McKeown, Melancholy Order: Asian Migration and the Globalization of Borders, New York 2008.

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