Der Autor des vorliegenden Bandes war von 2004 bis 2021 Inhaber der „Professur für Westfälische und Vergleichende Landesgeschichte (13. bis 18. Jahrhundert)“ an der damals noch so genannten Westfälischen Wilhelms-Universität zu Münster. Das Buch beruht auf Freitags stark erweiterter Abschiedsvorlesung und ist zugleich eine Synthese seiner 1986 einsetzenden wissenschaftlichen Beschäftigung mit der vorindustriellen Geschichte Westfalens (S. 9). Das Werk bietet einen grob chronologisch angelegten Überblick über die Entwicklung des „Alten Westfalen“. Es behandelt den Zeitraum vom 7. Jahrhundert bis zum Reichsdeputationshauptschluss von 1803 (S. 12). Allerdings steht dabei nicht Gesamtwestfalen im Vordergrund, sondern die Vielzahl seiner Räume, Städte, Lande und Territorien (S. 12, 14). Die Darstellung ist im Wesentlichen an zentralen Themen und Strukturen ausgerichtet, die über die Epochen hinweg verfolgt werden. Dazu zählen neben der politischen Ereignis-, Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte vornehmlich Aspekte der Geschichte der (vollberechtigten wie der Minder-) Städte, der ländlichen Gesellschaft, von Kirche und Frömmigkeit, des Alltags, der Wirtschaft sowie der Ideen (etwa im Kontext von Reformation und Aufklärung, S. 19, 603). Originell ist die Berücksichtigung der subjektiven Vorstellungen von der räumlichen Situation Westfalens (Mental-mapping, S. 12–15) sowie von Selbstzuschreibungen und Stereotypen (vermeintlicher) westfälischer Eigenschaften (S. 15–18).
Die gewaltige Stoffmenge, die Werner Freitag verarbeitet, ist in vierzehn Kapitel gegliedert. Nach der Einleitung, in der er seine Motivation sowie die Anlage des Buchs beschreibt (Kap. I, S. 9–25), widmet sich der Verfasser in fünf Kapiteln dem Mittelalter von der sächsischen Zeit bis zum Ende des „langen 15. Jahrhunderts“ um 1530/50 (Kap. II–VI, S. 27–292). Darin kommen die frühmittelalterlichen „Sachsen im Westen“ (S. 27–42) ebenso zur Sprache wie etwa die Christianisierung und die Errichtung der westfälischen Bistümer (S. 43–62), die Stadtentwicklung (S. 84–97, 140–148, 231–258), Wege zur Ständegesellschaft (S. 105–108), die Wurzeln und Anfänge der Territorialisierung (S. 113–140, 211–223), Veränderungen auf dem Land (S. 67–74, 172–180, 223–231) oder die Konturierung Westfalens als Sakrallandschaft (S. 97–105, 180–195, 258–275). Die Frühe Neuzeit bis 1803 erfordert mehr Raum (S. 293–648): Die Einführung der Reformation (Kap. VII, S. 293–348), die Ausbildung konfessioneller Kulturen und die „innere Staatsbildung“ (VIII, S. 349–409), die Organisation der brandenburgisch-preußischen Provinzen (IX, S. 411–472), die Entwicklung der Städte (X, S. 473–501) und die „Dynamik […] auf dem Land“ (XI, S. 503–552), die Bewältigung von Krisen durch die „Knappheitsgesellschaft“ (XII, S. 553–601), die Wirkung der Aufklärung auf das Denken und Handeln der Westfalen gegen Ende des 18. Jahrhunderts (XIII, S. 603–646) sowie schließlich das Ende des Alten Westfalen (XIV, S. 647 f.) – all das wird auf etwas mehr als 350 Seiten dargestellt.
Gesamtschauen der westfälischen Geschichte aus einer Feder gab es auch zuvor schon; die beiden jüngsten von Wilhelm Kohl und Harm Klueting stammen aus den 1990er-Jahren.1 Werner Freitag schreibt seinen Überblick allerdings aus dezidiert subjektiver Perspektive: Ausdrücklich will er „seine“ Geschichte Westfalens präsentieren (S. 10, 18). Diese Absicht prägt das Buch. So hebt Freitag hervor: „Die von mir erstellte Westfälische Geschichte ist eingebettet in allgemeine Entwicklungen, Prozesse und Strukturen und nutzt dementsprechende Meistererzählungen. Doch es gilt nicht nur die Widerspiegelungen dieser Strukturen und Brüche in den Grenzen Westfalens zu betrachten, sondern auch und gerade das Spezifische Westfalens und seiner Subregionen zu entdecken“ (S. 19). Allerdings schränkt Freitag ein: „Keineswegs möchte ich aber mit diesem Buch eine westfälische Identität konstruieren – ich bin also kein westfälischer Geschichtsbaumeister, sondern ich verstehe meine Synthese als ein Angebot, wohl wissend, dass zukünftige Darstellungen zur westfälischen Geschichte andere Schwerpunkte setzen werden“ (S. 20).
Angesichts der Fülle der auf rund 650 Seiten ausgebreiteten Fakten, Thesen und Deutungen können hier nur einzelne Aspekte und Eigenarten des voluminösen Werks angesprochen werden. So ist Werner Freitags Stil flüssig und überwiegend gut lesbar. Der Autor wandelt freilich auf dem schmalen Grat zwischen dem sprachlichen Erscheinungsbild eines wissenschaftlichen Handbuchs und einer populären Überblicksdarstellung. Gelegentlich scheinen „Regieanweisungen“ des Vorlesungstyposkripts stehengeblieben zu sein (S. 39 oder 264). Etwas störend ist auch das immer wieder begegnende und unentschlossen wirkende Abwechseln von erster und dritter Person in der Darstellung (etwa S. 296). Gewöhnungsbedürftig erscheinen überdies „Ego-Einsprengsel“ wie eingestreute Reminiszenzen an die Studentenzeit des Verfassers (S. 411) oder Verweise auf Lesefrüchte bei Karl May (S. 37) und Astrid Lindgren (S. 577).2
Das Werk berücksichtigt Forschungsliteratur bis zum Jahr 2021 (so S. 595 Anm. 1) und bezieht darüber hinaus vereinzelt auch noch Erkenntnisse des Jahres 2022 ein (S. 112 mit Anm. 86). Jüngere Forschungsmeinungen, etwa zur Identifizierung der durch den sogenannten Cappenberger Kopf dargestellten Person oder zur Beurteilung der zisterziensischen Leistung bei der Urbarmachung von Land in Westfalen, finden in Freitags Buch ihre Berücksichtigung.3 Dass angesichts des beschränkten Raums und der ohnehin großen Anzahl der Titel, die in den Endnoten zu den einzelnen Kapiteln genannt werden, gelegentlich einschlägige Werke nicht erwähnt werden, ist nachvollziehbar.4
Bemerkenswert ist, wie geschickt der Historiker Werner Freitag neben Texten auch archäologische Quellen (S. 31 Abb. 1), Baudenkmäler (S. 61 Abb. 6a–d) und Werke der bildenden Kunst (S. 55 Abb. 4, S. 259–262) einzubeziehen und weiterführend zu deuten weiß. Die Verbindung von Darstellung und Bebilderung ist oft vorzüglich (S. 170–172 mit Abb. 24), zumal der Autor die Abbildungen durch ausführliche Beschreibungen immer wieder bestens zum Sprechen bringt (S. 228 Abb. 32, S. 456 Abb. 57, S. 517 Abb. 73). Manche der insgesamt 84 zumeist farbigen Abbildungen werden freilich arg klein wiedergegeben (S. 68 Abb. 7, S. 369 Abb. 48, S. 497 Abb. 68). Aussagekräftige Quellenzitate sind leider vergleichsweise selten (etwa S. 178); quellenkundliche Informationen werden den Texten nur sparsam beigegeben (S. 34–37).
Hervorzuheben ist die große Vielfalt der im Opus magnum behandelten Aspekte. Besonders in den alltags-, religions-, ideen-, mentalitäts- und kulturgeschichtlichen Abschnitten geht Freitag über frühere Überblicksdarstellungen weit hinaus. In der Deutung frömmigkeits-, mentalitäts- und ideengeschichtlicher Sachverhalte ist der Autor stark (S. 456–459, S. 603). Dabei erfahren sowohl die katholische Kirche als auch der preußische Verwaltungs- und Militärstaat eine auffallend positive Darstellung. Die kulturwissenschaftlich inspirierte Frage nach dem Sinn von (religiösen) Ritualen und Repräsentationsformen und deren Beantwortung liegt dem Autor offensichtlich (S. 454–462). Demgegenüber tritt die politische Ereignisgeschichte zurück: Informationen zum Dreißigjährigen Krieg etwa entdeckt man – neben vielem anderen – lediglich in Kapitel XII, 2 „Kriegserfahrungen“ (S. 559–570). Rechtsgeschichtliche Gesichtspunkte werden gleichsam nebenbei miterledigt (S. 117–122), und die historiographie- oder literaturgeschichtlichen Leistungen westfälischer Autoren finden nur am Rand Erwähnung (S. 16 f.).
Gut ist freilich, dass Freitag in den Kapiteln en passant viele schwierige Wörter wie z.B. Weichbild (S. 128) oder Kirchspiel (S. 504, 532) erläutert. Hin und wieder führt der Wunsch, Sachverhalte verständlich darzustellen, zu begrifflichen Unschärfen, beispielsweise wenn Freitag schreibt, dass der Patronatsherr den Pfarrer „ernannte“ (S. 181), anstatt kirchenrechtlich korrekt zu formulieren, dass der Patronatsherr befugt war, dem zuständigen Kirchenoberen einen Kandidaten rechtsverbindlich vorzuschlagen (zu „präsentieren“).5 Gerade wenn es um einzelne Menschen, Ereignisse, Strukturen, Begriffe und Wörter geht, vermisst man entsprechende (Personen- wie Sach-) Indizes schmerzlich. Erschlossen ist das Buch lediglich durch einen Ortsindex.
Das Opus bietet eine ungeheure Menge an Informationen zu Westfalen, die gut strukturiert, anschaulich erläutert und zumeist plausibel gedeutet geboten werden. So ist das Werk insgesamt äußerst lehrreich und anregend – und das nicht allein im Hinblick auf die behandelte Region. Es erweist sich darüber hinaus auch als eine strukturorientierte Einführung in die Geschichte des Mittelalters und der Frühen Neuzeit, die das Allgemeine an westfälischen Beispielen bestens veranschaulicht (S. 105–108, 116–140 oder 159–172).
Anmerkungen:
1 Wilhelm Kohl, Kleine Westfälische Geschichte, Düsseldorf 1994; Harm Klueting, Geschichte Westfalens. Das Land zwischen Rhein und Weser vom 8. bis zum 20. Jahrhundert, Paderborn 1998.
2 S. 37: „Die Ähnlichkeiten der Versammlung in Marklo mit unserem von Karl May geprägten Bild einer Stammesversammlung sind offensichtlich“; S. 577: „Die Armenhäuser waren klein und einfach – sie erinnern den Autor dieses Buches an das von Astrid Lindgren beschriebene Armenhaus von Lönneberga“.
3 Zum sogenannte Cappenberger Barbarossakopf: Dargestellt wird aller Wahrscheinlichkeit nach nicht Kaiser Friedrich I. Barbarossa, sondern vielmehr der Evangelist Johannes, S. 104. Zur Leistung der Zisterzienser: „Allerdings ist es eine Mär, dass die Zisterzienser in Westfalen in großem Stil bisher nicht genutztes Land urbar machten“, S. 184.
4 Beispielsweise vermisst der Rezensent Hinweise auf: Matthias Springer, Die Sachsen, Stuttgart 2004 (zu S. 34–39), jüngere Literatur zu Heinrich dem Löwen (S. 113), etwa von Johannes Fried / Otto Gerhard Oexle (Hrsg.), Heinrich der Löwe. Herrschaft und Repräsentation (Vorträge und Forschungen 57), Stuttgart 2003 und Joachim Ehlers, Heinrich der Löwe, München 2008, oder zu Levold von Northof (S. 117) Stefan Pätzold, „Immer ein warmherziger Förderer der Grafschaft Mark“: Levold von Northof, in: Der Märker 60 (2011), S. 12–27.
5 Nach Herbert Kalb, Art. „Patronat“, in: Lexikon für Theologie und Kirche 7 (2000), Sp. 1482.