Wer sich mit der Geschichte der sogenannten Reichspogromnacht vom 9. zum 10. November 1938 zu befassen beginnt und dabei den Fokus auf die Synagogen legt, wird feststellen – vielleicht mit einiger Irritation –, dass viele dieser Gebäude die (versuchten) Zerstörungen zunächst überstanden hatten: mehr oder weniger vollständig oder als Ruinen. Während letztere besonders in der zweiten Hälfte der 1950er-Jahre sowohl in der Bundesrepublik als auch in der DDR abgetragen wurden, gestaltet sich der Umgang mit erhaltenen Synagogen komplexer, nicht nur, weil ihr Abriss in allen Nachkriegsjahrzehnten stattfand, manchmal sogar noch in der Gegenwart stattfindet. Für ihren Erhalt dagegen war eine Nach- oder Umnutzung notwendig. Dabei wurden vor allem seit den 1980er-Jahren zunehmend Fragen nach deren „Angemessenheit“ und/oder dem weiteren Umgang mit einem jüdischen Kulturerbe gestellt. Denn dass erhaltene Synagogen wieder von jüdischen Gemeinden genutzt werden konnten, blieb insgesamt die Ausnahme.
In den 1980er-Jahren begann die Architektin Thea Altaras (1924–2004) erstmals den Umgang mit erhaltenen Synagogen im Bundesland Hessen zu dokumentieren1; eine bis dahin einmalige Forschung, nicht nur in ihrem Umfang und ihrer Tiefe, sondern bereits vor dem Hintergrund, dass die aus Zagreb stammende, seit den 1960er-Jahren in der Bundesrepublik lebende jüdische Autorin der Geschichte dieser Baugattung nach 1945 überhaupt nachging und dabei zeigte, dass die systematische Zerstörung keineswegs mit dem November 1938 endete. Der Medienwissenschaftler und Germanist Peter Seibert legt nun eine Publikation vor, die sich diesem Thema nicht nur in dem geographisch größeren Raum der heutigen Bundesrepublik widmet, sondern zugleich verschiedene erinnerungspolitische und -kulturelle Fragen behandelt. Der Veröffentlichung gingen, so lassen Umfang und Auswahl der laut Ortsverzeichnis rund 650 Städte und Dörfer vermuten, jahrelange Recherchen und beeindruckend akribische Sammlungen voraus. Bedauerlicherweise wurde darauf verzichtet, die verwendeten Archivquellen sowohl in Form von Fußnoten als auch im Anhang darzustellen. Vermutlich traf Seibert diese Entscheidung, weil er keine „akademisch-wissenschaftliche Arbeit“ vorlegen wollte, sondern seine Publikation „eher als politische Arbeit intendiert“ (S. 17). Für eine tatsächliche Nachvollziehbarkeit seiner detaillierten Darstellungen verwundert diese Auslassung trotzdem, zumal sie weiteren Forschungen eine gute Grundlage vorenthält.
Einleitend stellt Seibert die Aussparung jüdischen Kulturerbes anhand des „Handbuchs der deutschen Kunstdenkmäler“ (begründet von Georg Dehio) dar und widmet sich den rechtlichen Versuchen einer Aufarbeitung in den ersten Nachkriegsjahren unter anderem anhand von Restitutionen sowie (versuchten) juristischen Verfahren gegen Verantwortliche der Novemberpogrome. Anschließend bietet er zum einen die chronologische Darstellung des konkreten Umgangs mit den materiellen Resten vormaliger jüdischer Gegenwart. Sie reicht von den „Abräumarbeiten in der Nachkriegszeit“ (Kapitel 4) zu den „Neue[n] Baustellen – neue[n] Paradigmen?“ (Kapitel 14), also den aktuellen Rekonstruktionsbestrebungen für zerstörte Synagogen im Besonderen in Berlin und Hamburg. Zum anderen bildet Seibert inhaltliche Schwerpunkte, die nur bedingt dieser zeitlichen Ordnung folgen. So gibt es Abschnitte zu „Gedenktafeln“ (Kapitel 11) – mit Schwerpunkt auf den 1970er- und 1980er-Jahren – und zu „Musealisierungen“ (Kapitel 15) mit einem generelleren Überblick zur Ausstellung jüdischer Geschichte und Religion unter anderem in der Zeit vor 1938. Es finden sich aber auch ein Abschnitt (Kapitel 10: „‚Dunkelblum‘ – Störungen der Totenruhe“) zu jüdischen Friedhöfen, ihren Schändungen nach 1945, den Zerstörungen und Überbauungen sowie ein Teil zur DDR (Kapitel 7: „Deutsch-demokratische Verantwortungslosigkeit“).
Dabei sind die Entwicklungen innerhalb der einzelnen Beispiele mehrheitlich nur in ihren wesentlichen Punkten skizziert – die schiere Zahl der Orte lässt es bereits ahnen. So entsteht ein oft beklemmend dichter Überblick, der die Leserin etwa im Kapitel 6 („Synagogenrecycling“) immer wieder fassungslos macht und dabei gleichzeitig verdeutlicht, dass ein geschichtsvergessener Umgang mit jüdischem Architekturerbe die Regel, nicht die Ausnahme war. Einzelnen Städten sind längere Passagen und manchmal sogar Kapitel gewidmet, etwa West-Berlin und dem Abriss seiner vielen Synagogenruinen (Kapitel 8) besonders in der zweiten Hälfte der 1950er-Jahre oder Kassel und Bonn. Als „Exkurse“ von anderen unterschieden (Kapitel 12), wendet sich Seibert für diese beiden Städte zwei Denkmälern jenseits einer Erinnerung an die zerstörten Synagogen zu: für Kassel dem Anfang der 1950er-Jahre errichteten Mahnmal für die Opfer des Faschismus, „Den Vernichteten“, und für Bonn der Geschichte des „Bundesehrenmals“, einer bronzenen, 1964 zunächst an der Freitreppe des Akademischen Museums angebrachten, „Den Opfern der Kriege und der Gewaltherrschaft“ gewidmeten Tafel, die 1980 dann auf den Bonner Nordfriedhof verlegt und in direkter Nähe eines großen Holzkreuzes aufgestellt wurde. Obwohl mit beiden Beispielen Aspekte einer Ausgrenzung der Erinnerung an den Holocaust und/oder an die jüdische Geschichte einer Stadt in die Publikation eingebracht sind: Sie bleiben zu unverbunden, um als Beiträge für ein komplexes Bild verstanden werden zu können. Dagegen deutet ein umfangreich bebildertes Kapitel zur Synagoge in der hessischen Stadt Dieburg sowie den Phasen ihrer Umnutzung und 1988 schließlich erfolgten Zerstörung an, wie lohnend es ist, auch den Geschichten des Umgangs mit jüdischem Erbe in kleineren Städten detaillierter nachzugehen; ein Ansatz, den man sich für eine größere Zahl von Orten gewünscht hätte. Allerdings sollen dem Buch mit Blick auf seine Fülle die Leerstellen und Auslassungen nicht vorgeworfen werden. Auffällig ist es aus meiner Sicht dennoch, dass Seibert die Geschichte unter anderem der frühen Denkmäler ausgesprochen fragmentarisch darstellt. Es fehlt eine systematische Analyse und Einordnung, mit der sich die Entwicklungen einer auf die historischen Orte der Synagogen bezogenen Erinnerungskultur genauer nachvollziehen ließen.
Insgesamt sind Peter Seiberts Ausführungen keine nüchternen Berichte – vielmehr merkt man dem Text an sehr vielen Stellen deutlich das Unverständnis des Autors über Entwicklungen und Entscheidungen an. Das wundert nicht: Wer je versucht hat, sich für die beiden deutschen Nachkriegsgesellschaften den Umgang mit dem gebauten jüdischen Erbe anhand von Beispielen vor Augen zu führen, oder wer sich je ernsthaft mit den verharmlosenden, banalisierenden, täterlosen Inschriften auf Erinnerungszeichen beschäftigt hat, dem oder der kann es nur schwerfallen, die Ergebnisse in einem distanzierten, leidenschaftslosen Ton weiterzugeben. Zugleich aber ist die eingangs des Buches formulierte Grundannahme unverständlich, dass man von „der Nachkriegsgesellschaft einen ‚sensiblen‘ Umgang mit den baulichen Relikten der jüdischen Kultur“ hätte erwarten können, nachdem der postnazistischen Gesellschaft „das ganze Ausmaß des Genozids bekannt“ und die „Auslöschung des Landjudentums offenkundig wurde“ (S. 8). Warum hätten die nichtjüdischen Deutschen, nachdem sie sich auf unterschiedliche Weisen an der Ausgrenzung, Vertreibung und Ermordung der Jüdinnen und Juden in ihren Nachbarschaften und darüber hinaus beteiligt hatten, ein Interesse am Schutz und einer Sichtbarmachung der erhaltenen baulichen Reste besitzen sollen? Die heutigen Möglichkeiten, sich kritisch mit diesen Entwicklungen auseinandersetzen zu können, sowie die weitgehende Anerkennung jüdischen Erbes sind Ergebnisse von langen, komplexen Aushandlungsprozessen, kritischen Debatten und einer sich erst in der Folge verändernden Erinnerungskultur.
Anmerkung:
1 Die Dokumentation besitzt eine eigene Veröffentlichungsgeschichte. Vgl. zunächst: Thea Altaras, Synagogen in Hessen – Was geschah seit 1945?, Königstein im Taunus 1988. Vgl. dann als 2., erweiterte Auflage: dies., Das jüdische rituelle Tauchbad und: Synagogen in Hessen – Was geschah seit 1945? Teil II, Königstein im Taunus 1994. Vgl. schließlich als aktualisierte und erweiterte Neuausgabe, aus dem Nachlass von Altaras hrsg. von Gabriele Klempert und Hans-Curt Köster: Thea Altaras, Synagogen und jüdische rituelle Tauchbäder in Hessen – Was geschah seit 1945? Eine Dokumentation und Analyse aus allen 264 hessischen Orten, deren Synagogenbauten die Pogromnacht 1938 und den Zweiten Weltkrieg überstanden. 276 architektonische Beschreibungen und Bauhistorien, Königstein im Taunus 2007.