Die Flut an Büchern, die sich selbst mit dem Begriff „Biographie“ schmücken, ist unüberschaubar. Tag für Tag erscheinen in Deutschland dutzende Werke, die sich in dieses literarische Genre einordnen lassen. Wie keine andere literarische Gattung spiegelt die Biographie die Bandbreite schriftstellerischen Schaffens von Arbeiten mit höchstem wissenschaftlichen Anspruch in den unterschiedlichsten Disziplinen, mehr oder weniger anspruchsvoller Belletristik, populärwissenschaftlichen Arbeiten bis hin zu trivialen Groschenromanen.
Gleichzeitig sind biographische Erzähl- und Darstellungsformen heute multimedial: Sie begegnen uns nicht nur in klassischen monographischen Biographien, sondern auch in Dokumentar- und Spielfilmen, im Fernsehen, in der Musik, im Rundfunk, im Printjournalismus und in den neuen Medien. Und sie sind ein weltweites Phänomen. Kurz, kaum etwas fasziniert die Menschen offensichtlich so, wie das zumeist als „außergewöhnlich“ im positiven oder negativen Sinne erachtete Leben anderer Menschen. In der deutschsprachigen Wissenschaft ist ein Trend „zurück zur Biographie“, gewissermaßen als Gegenreaktion zum lange vorherrschenden strukturalistischen Ansatz, als ernstzunehmende Methode zu beobachten.
Betrachtet man nur dieses wissenschaftlich ernstzunehmende Segment des Biographiebooms, so sind Biographien heute weit mehr als „Lebensbeschreibungen“ mehr oder weniger prominenter Menschen. Von der Geschichtswissenschaft über die Literatur-, Musik- und Religionswissenschaft bis zur Soziologie, der Erziehungswissenschaft und den Gender Studies haben sich Fragestellungen, Methoden und Darstellungsformen etabliert, die der Vielschichtigkeit des gemeinen Untersuchungsgegenstandes – der Illustration und der Analyse des menschlichen Lebens und Schaffens in seinem gesellschaftlichen Kontext – ermöglichen.
Nimmt man neben der Interdisziplinarität die internationalen Einflüsse in der biographischen Forschung in den Blick, so läuft man endgültig Gefahr, den Überblick über die verschiedenen wissenschaftstheoretischen Ansätze, methodischen Schulen, Traditionen und Analyseinstrumente zu verlieren. Diese Gefahr zu bannen, ist das Ziel des 2009 von Christian Klein herausgegebenen, in seiner Aktualität in deutscher Sprache einmaligen Biographie-Handbuchs. Mehr als vierzig Autoren unternehmen den Versuch, dem Leser auf rund 450 Seiten einen umfassenden und möglichst einfachen Einstieg in dieses weite Forschungsfeld zu ermöglichen. Das selbst gesteckte Ziel dabei lautet: Das Handbuch möchte „möglichst viele der Zugänge und Wege kartographisch erfassen, um so einen Überblick zu liefern und Orientierung zu ermöglichen“ (S. XIII). Um es vorweg zu nehmen: Der Band erreicht dieses Ziel sowohl in seinem klugen Aufbau als auch inhaltlich.
Bereits der erste Abschnitt geht äußerst intelligent mit der seit Jahrhunderten scharf debattierten Gretchenfrage der biographischen Forschung um, was der Kern der Biographie eigentlich sei und was sie (wissenschaftlich) zu leisten im Stande ist. Statt sich auf eine Definition zu verengen, handeln die Autoren einzelne Merkmale biographischen Schaffens ab, von der Begriffsherkunft über die Gattungsfrage, die Referentialität, die Narrativität, die Fiktionalität und Faktizität, die Poetizität, die Biographiewürdigkeit (also die Frage, welche Person bzw. Personengruppe überhaupt eine biographische Würdigung „verdient“) bis hin zum Spannungsfeld zwischen Autobiographie und Biographie. Dieser letzte, sehr lesenswerte Abschnitt von Michaela Holdenried, entschädigt für den begründeten Entschluss der Herausgeber, die Sonderform der Autobiographie im weiteren Verlauf des Bandes weitestgehend auszuklammern.
Die zwei folgenden Kapitel beschäftigen sich mit der Rezeption und Kommunikation der Biographie. Während das Kapitel „Zentrale Fragen und Funktionen“ sich damit auseinandersetzt, welchen Nutzen verschiedene Rezipienten und Rezipientengruppen aus der Konsultation biographischer Medien haben, stellt der Abschnitt „Formen und Erzählweisen“ breit, aber keineswegs oberflächlich die verschiedenen Formen der Biographik dar, aufgeteilt nach literarischer, wissenschaftlicher, populärer und fiktionaler Form. Gleichzeitig wird die gesamte Medienvielfalt der Biographik in eigenen Abschnitten, so zum Beispiel zu audiovisuellen oder intermedialen Werken, gewürdigt.
Das recht kurze, weitgehend vom Herausgeber selbst verfasste vierte Kapitel unternimmt den Versuch „Kategorien für die Analyse von Biographien zu entwickeln“ (S. XIV), aufgeteilt in die drei Ebenen „Kontext“, „Handlung“ und „Darstellungsfragen“.
Die Kapitel fünf und sechs befassen sich in bester Handbuchmanier zum einen mit der historischen Entwicklung der Biographie von der Antike bis ins 20. Jahrhundert – allerdings mit einem quantitativen Übergewicht auf die letzten 300 Jahre –, zum anderen mit den regionalen Entwicklungssträngen. Dabei beleuchtet das geographisch strukturierte sechste Kapitel nicht nur die deutsche, französische, italienische, britische und US-amerikanische Biographik, sondern auch die dem breiten Publikum wohl weniger bekannten spanischen, skandinavischen und russisch/sowjetischen Entwicklungslinien. Andere Kulturräume bleiben jedoch unberücksichtigt.
Der rund 80 Seiten starke siebte Abschnitt stellt dann die biographische Methode in den Mittelpunkt, aufgeteilt in die verschiedenen Disziplinen. Hierbei ist besonders hervorzuheben, dass auch kleinere Fachzweige, wie die Postcolonial Studies, die Musikwissenschaft oder die Jewish Studies ebenso Berücksichtigung finden, wie die Medizin/Psychologie, die den klassischen geisteswissenschaftlichen Bogen des Abschnittes so deutlich erweitern. Der Band greift damit den, seit gut zehn Jahren herrschenden Trend zur interdisziplinären Biographieforschung auf und verdeutlicht Anknüpfungspunkte zwischen den Disziplinen ebenso wie konträr laufende methodische Ansätze.
Manche Interpretationen zum streitbaren Thema Biographik als Methode bleiben dabei der Meinung des jeweiligen Autors geschuldet und sind durchaus diskutierbar. So plädiert Wolfram Pyta in seinem Abschnitt zur biographischen Methode in der Geschichtswissenschaft für eine möglichst weitreichende Befreiung von methodischen Zwängen, weil er gerade darin die besondere Stärke der Biographie sieht. Diese Ansicht des Verfassers der jüngsten rund 1100 Seiten starken Hindenburg-Biographie, ist in der theorieaffinen und generell biographiekritischen deutschen Geschichtswissenschaft umstritten. Der Verweis auf konträre Forschungsmeinungen sowie deren kritische Reflexion lässt aber solche streitbaren inhaltlichen Positionierungen der Autoren zu.
Ein großer Gewinn für junge Wissenschaftler, die sich dem biographischen Arbeiten nähern, ist das letzte Kapitel. Als praxisnahe Arbeitshilfe im besten Wortsinn beleuchtet es beispielsweise konzeptionelle Fragen der Manuskriptgestaltung, die Quellenauswahl und -analyse, die Frage der Illustrationsauswahl, aber auch juristische und ökonomische Fragen des Biographieschreibens, um nur einige der angesprochenen „handwerklichen“ Aspekte zu nennen.
Das „Handbuch Biographie“ kann auch aufgrund der traditionell professionellen Aufmachung des Metzlerverlags überzeugen. Die Länge der einzelnen Abschnitte erlaubt kursorisches zielgerichtetes Lesen ebenso, wie die innerhalb des Textes vorhandenen Querverweise durch Pfeilsymbole auf, Thema relevante Passagen in anderen Kapiteln. Gleichzeitig ist das Werk trotz der vielen Autoren auch als Gesamtband gut durchzulesen, ohne dass der Eindruck eines Nebeneinanderstehens einzelner Lexikonbeiträge entsteht. Naturgemäß muss es zu Redundanzen kommen, beispielsweise in den chronologischen, methodischen und regionalen Passagen. Diese Wiederholungen dürften für den sich einlesenden Neuling in der biographischen Forschung sicherlich sinnvoll sein. Jeder Abschnitt endet ferner mit einer Auswahl weiterführender Literatur, die bibliographisch den Forschungsstand wiedergibt und somit das weitere Eintauchen in einzelne Aspekte des biographischen Arbeitens ermöglicht. Zudem ist das ausführliche und ebenfalls mit Querverweisen arbeitende Sachregister hervorzuheben, welches durch ein separates Namensregister ergänzt wird. Leserfreundliche Fußnoten runden dieses gelungene Bild ab.
Lesern, die sich fundiert in die Methodik, Theorie und Erscheinungsformen der Biographie einlesen möchten, aber auch solchen, die sich einen speziellen Aspekt der biographischen Forschung erschließen möchten, kann nur zur Lektüre geraten werden. Zwar kann der Band nicht jede Fachdiskussion erschöpfend behandeln und nicht jeden Einzelaspekt bis ins letzte Detail erarbeiten; das will er aber auch nicht leisten. Das „Handbuch Biographie“ trägt seinen Namen also völlig zu Recht und darf als erste Wahl bei der einführenden Beschäftigung mit dem Thema Biographik für den deutschsprachigen Raum gelten.