Mit ihrer Dissertation über den israelischen Staatspräsidenten Shimon Peres legt die israelische Historikerin Tamar Amar-Dahl eine politische Biographie vor, die zweifelsohne den einen oder anderen Widerspruch herausfordern wird. Diese Arbeit ist nämlich eine kritische Bilanz der politischen Laufbahn eines immer noch auf höchster Ebene aktiven Staatsmanns.
Die Autorin stellt sich die Aufgabe, mithilfe des methodischen Ansatzes der Vorstellungsgeschichte 1 die ungewöhnlich lange Laufbahn des „letzten Gründungsvaters“ (S. 9) Israels in die Politikgeschichte dieses Landes einzuordnen. Mit dem Ansatz sollen nicht im Sinne klassischer Biographieforschung die Lebensstationen eines Politikers zu einer in sich logischen Erzählung zusammengesetzt, sondern die politisch-inhaltlichen Grundpositionen eines Protagonisten vor dem Hintergrund historischer Entwicklungen dargestellt und dessen politische Handlungen verständlicher gemacht werden. Dies soll auf der Grundlage der zahlreichen von und über Peres veröffentlichten Schriften, Artikel, Reden und Interviews bewerkstelligt werden. Mittels eines ideologiekritischen Ansatzes sei das Ziel der Arbeit, die „Rätselhaftigkeit Peres’“ (S. 9), seine scheinbare Widersprüchlichkeit zwischen seiner Rolle als Vater und Verteidiger des israelischen Sicherheitsestablishments einerseits und seinem internationalen Image als Architekt des Oslo-Friedensprozesses andererseits, aufzulösen. Untersucht werden Peres’ Positionen zu Zionismus und Nation, seine Feindbilder, sein Demokratieverständnis, sowie sein Verhältnis zu Krieg und Frieden. Ihre Analyse versteht die Autorin indes als eine Art Streitgespräch: In der Einleitung warnt Amar-Dahl davor, „dass die Gesprächspartner dieser Untersuchung politisch unterschiedlich denken“ (S. 15), was zuweilen auch deutlich wird. Dennoch liegt hier zugleich eine Stärke, da Peres’ Lebenswerk erstmals in einer kritischen Biographie beurteilt wird.
Methodisch ist es der Autorin gelungen, den Ansatz der Vorstellungsgeschichte, dessen epistemologische Grenzen problematisiert werden, für die Geschichte des politischen Denkens Peres’ fruchtbar zu machen. Im ersten Kapitel wird Peres als überzeugter Zionist vorgestellt, dessen wichtigstes politisches Ziel immer in der Staatswerdung einer jüdischen Nation gelegen habe. Innerhalb des zionistischen Spektrums vertrete Peres den Zionismus Herzlscher Prägung. Theodor Herzls politische Konzeption, die sich mit Israels Gründung letztlich durchgesetzt habe, stellt die Autorin in den historischen Kontext des europäischen Nationalismusdiskurses des 19. und 20. Jahrhunderts und versteht sie als ein eurozentrisch-koloniales Projekt, das die Existenz der arabischen Bevölkerung im damaligen britischen Mandatsgebiet ignoriere. Kritisch ist hier anzumerken, dass die Darstellung des Zionismus vor 1948/49 etwas zu holzschnittartig erfolgt. Allein die Tatsache, dass hier die Shoah – welche für den Zionismus von großer Bedeutung war – einen sehr geringen Raum einnimmt, zeigt, dass der Text eher an die israelische Öffentlichkeit gerichtet ist, deren nationale Mythen die Autorin mit bewussten argumentativen Fokussierungen und Überbetonungen gleichsam im Visier hat. Ideologiekritisch betrachtet die Autorin allgemein den Nationalismus, mit dessen Hilfe auch der Nahostkonflikt, als israelisch-palästinensische Auseinandersetzung, gemeinhin ideologisch gerechtfertigt wird. Während sie allerdings herrschende israelische National- und Geschichtsmythen (Religion, Staat, Nation, Volk/Ethnie, Territorium als organisch-überhistorische Einheit) als konstitutive Bestandteile des Denkens bei Peres herausarbeitet, bleibt sie hinsichtlich der ideologischen Nationalnarrative auf palästinensischer bzw. arabischer Seite zu unkritisch. Zwar spricht sie einmal vom „palästinensischen Kollektiv“ (S. 42), zum Teil aber übernimmt die Autorin kritiklos Begriffe der palästinensisch-arabischen Geschichtsmythologie: So bezeichnet sie den 1948/49er Krieg als „palästinensische Katastrophe“ (S. 64) oder „Nakba“ (S. 85). Leider gelingt es ihr letztlich nicht, konsequent das national/ethnische Schema ‚Juden-Palästinenser’ aufzubrechen, obwohl Ansätze zur Kritik identitärer Nationalkollektive durchaus im Text angelegt sind.
Dessen ungeachtet scheint die ideologiekritische Einordnung der Gedankenwelt Peres’ in den Nationalismus nachvollziehbar. Besonders deutlich wird dies im gelungensten Kapitel über Peres’ Sicht auf die soziale Frage. Anhand der wenigen wirtschafts- und sozialpolitischen Aussagen des langjährigen Awoda-Politikers zeigt sich exemplarisch, wie sehr der nationale Diskurs von der Bildung und Vollendung eines jüdischen Nationalstaates in Abgrenzung zu den Nicht-Juden in Nahost und der Welt die Wahrnehmung und Problematisierung der sozialen Ungleichheit und demokratischen Defizite (arm-reich, Mann-Frau, Ashkenazim-Mizrachim etc.) in der israelischen Gesellschaft überlagert. Amar-Dahl kann die oftmals Unternehmer- und Eliten-freundliche Politik des ehemaligen Vizepräsidenten der Sozialistischen Internationalen und langjährigen Hauptakteurs der zionistischen Arbeiterbewegung, wie etwa die Quasi-Entmachtung der Histadrut und den radikalen Sozialabbau 1985, mithilfe seiner Vorstellungen von der Nation plausibel nachvollziehen. Sie findet Belege dafür, dass Shimon Peres sich von den theoretischen Grundlagen des Sozialismus, nämlich der Überzeugung von der klassenmäßigen Schichtung der Gesellschaft, distanzierte und vorzugsweise Kategorien wie Nation und Religion ins Zentrum rückte. Peres habe sich immer in der Tradition der sicherheitspolitisch orientierten zionistischen Linken gesehen; daraus seien sein geringes Interesse an und seine zeitweise „diffus“ (S. 186) anmutenden Äußerungen zur Wirtschafts- und Sozialpolitik zu erklären. Wirtschaftspolitisch verortet die Autorin Shimon Peres in der „liberalen bzw. neoliberalen“ (S. 191) Politik.
Die größte Aufmerksamkeit erhält in der gesamten Untersuchung Shimon Peres’ Glaube an den „Sicherheitsmythos“ (S. 301). An seinem Beispiel rekonstruiert die Autorin im fünften Kapitel die Genese dieses zentralen nationalen Mythos. Dabei kommt Peres sowohl die Rolle des Mit-Erfinders als auch Verteidigers dieser in Israel nach wie vor verbreiteten Auffassung zu, dass einzig eine möglichst wehrhafte jüdische Demokratie den Gefahren der nicht-jüdischen Außenwelt standhalten könne. Amar-Dahl dekonstruiert zuweilen die Alternativlosigkeit der Sicherheitsideologie, indem sie alternative politische Wege und Chancen in ihrer Erörterung vorstellt. In ideologiekritischer Art und Weise verdeutlicht die Autorin die Bedeutung des Sicherheitsdiskurses als „israelisch-jüdische Einheitsmatrize“ (S. 301), gleichsam als ideologischen Deckel auf den explosiven Spannungen innerhalb der israelischen Gesellschaft. Kritisch ist zu bemerken, dass die tatsächlichen historischen Bedrohungen der israelischen Gesellschaft, die seit 1948 den „Sicherheitsmythos“ zu bestätigen schienen, ein Stück weit unterbelichtet werden. Dennoch gelingt es der Autorin, Peres’ Rolle bei der ständigen Hochrüstung der israelischen Gesellschaft kritisch zu beleuchten. Seine Überzeugung von der alternativlosen Friedenssicherung durch militärische Abschreckung geht einher mit seiner fast ununterbrochenen Laufbahn als Sicherheitspolitiker: als Gründer und Verteidiger der Sicherheitsapparate, als Siedlungs- oder als Friedenspolitiker, der gleichwohl erobertes Territorium als Grundlage für Sicherheit versteht. Dem Leser/der Leserin wird hier zum Teil ein beklemmender Einblick in das Dilemma des „Sicherheitsmythos“ aufgezeigt. Besonders eindrucksvoll gelingt dies z.B. bei der Beschreibung des israelischen Alltages als „ziviler Militarismus“ (S. 221). Auch Peres’ Rolle im Osloer Friedensprozess, der nach Amar-Dahl nicht zuletzt auch an der Unfähigkeit der alten politischen, militärischen und wirtschaftlichen Eliten gescheitert sei, die Vorstellung von der ewigen Bedrohung des jüdischen Volkes aufzugeben, verdeutlicht das Dilemma. Leider bleibt hier die problematische Rolle der palästinensischen Eliten unerwähnt. Auch eine kurze Schilderung des historischen Ursprungs des „Sicherheitsmythos“, der ja ganz konkret-historischen Erfahrungen entsprungen war, hätte die Kritik etwas differenziert.
Trotz der genannten Kritikpunkte, die sich allerdings aus dem Kontext des Buches selbst erklären und es gerade deshalb lesenswert machen, legt Amar-Dahl hier eine analytische und faktenreiche Untersuchung vor, die einen Einblick in die israelische Zeitgeschichte ermöglicht und die Forschung nicht zuletzt aufgrund der Erschließung hebräischsprachiger Quellen zu neuen Fragestellungen anregt. Methodisch gelingt es der Autorin, die Vorstellungsgeschichte – die sie im Grunde als eine biographische Diskursgeschichte schreibt – plausibel auf die politische Biographie des „letzten Gründungsvaters“ Israels anzuwenden. Mittels einer ideologiekritischen Untersuchung einer zentralen politischen Figur ergibt sich ein aufschlussreicher Perspektivwechsel auf die Politikgeschichte Israels. Obschon in deutscher Sprache verfasst, scheint sich die Untersuchung engagiert in Grundsatzdebatten der israelischen Öffentlichkeit einzumischen, was die Chance eröffnet, einen intimeren Einblick in die israelische Gesellschaft zu bekommen. Dies birgt aber auch die Gefahr, dass die hier verwendeten innerisraelischen politischen Codes zu Missverständnissen im deutschsprachigen Nahost-Diskurs führen könnten. Der Text selbst aber legt vor allem Zeugnis ab über den innerisraelischen Konflikt zwischen dem alten Staatsestablishment und einer jüngeren Generation von Historiker/innen (oder Intellektuellen), die ihrer Nationalgeschichte kritisch gegenüberstehen.
Anmerkung:
1 Vgl. Hans-Werner Goetz, Vorstellungsgeschichte. Menschliche Vorstellungen und Meinungen als Dimension der Vergangenheit, in: Archiv für Kulturgeschichte 61 (1979), S. 253-271.