J. Hürter u.a. (Hrsg.): Die bleiernen Jahre

Cover
Titel
Die bleiernen Jahre. Staat und Terrorismus in der Bundesrepublik Deutschland und Italien 1969-1982


Herausgeber
Hürter, Johannes; Rusconi, Gian Enrico
Reihe
Zeitgeschichte im Gespräch 9
Erschienen
München 2010: Oldenbourg Verlag
Anzahl Seiten
128 S.
Preis
€ 16,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Petra Terhoeven, Seminar für Mittlere und Neuere Geschichte, Georg-August-Universität Göttingen

In letzter Zeit hat der wiederholt vorgebrachte Appell zugunsten einer Entprovinzialisierung der Forschungen zum deutschen Linksterrorismus verstärkt Beachtung gefunden. Davon zeugt auch die hier vorliegende, unter der Federführung von Johannes Hürter und Gian Enrico Rusconi entstandene deutsch-italienische Gemeinschaftsproduktion. Tatsächlich bietet sich Italien als Bezugsobjekt komparativ oder beziehungsgeschichtlich angelegter Terrorismusstudien aus deutscher Perspektive besonders an. Als einziges europäisches Land neben der Bundesrepublik war auch Italien mit einem nicht ethnisch, sondern sozialrevolutionär motivierten Terrorismus bedeutenden Ausmaßes konfrontiert, der aus Teilen der Protestbewegungen der späten 1960er-Jahre erwachsen war. Die Gründe für diese Parallelentwicklung lagen nicht zuletzt in spezifischen Legitimationsdefiziten der beiden jungen Demokratien, die aus der faschistischen bzw. nationalsozialistischen Vergangenheit und dem jeweiligen Modus ihrer ‚Bewältigung‘ resultierten. Im italienischen Fall gehörte dazu auch eine – in ihrer Bedeutung von der Forschung unterschiedlich hoch veranschlagte – Komplizenschaft von Teilen des Staatsapparats mit neofaschistischen Kräften, deren verbrecherische Anschläge zwischen 1969 und 1984 allein 199 Todesopfer und eine große Zahl teilweise schwer verletzter Personen forderten. Diese die ‚linke‘ Gewalt deutlich überbietende Destruktivität besitzt im deutschen Kontext kein Pendant – nördlich der Alpen wurde die Staatsmacht eher symbolisch mit den Menschheitsverbrechen der NS-Vergangenheit in Verbindung gebracht, zunehmend aber auch mit den Horrorszenarien des Orwell'schen Kontroll- und Überwachungsstaates.

Vor dem Hintergrund dieser von Parallelen und Divergenzen gekennzeichneten ‚shared history‘ veranstalteten das Münchner Institut für Zeitgeschichte und das Italienisch-Deutsche Historische Institut der Fondazione Bruno Kessler im Mai 2008 in Trient ein deutsch-italienisches Expertentreffen, bei dem die Antworten gegenübergestellt wurden, mit denen man in beiden Ländern auf die terroristische Herausforderung der 1970er- und 1980er-Jahre reagierte. Im Mittelpunkt des Interesses stand der Staat als Akteur – ein Staat, der, wie in den letzten Jahren immer deutlicher herausgearbeitet worden ist, mitnichten als der übermächtige Leviathan zu betrachten ist, zu dem er von seinen gewaltbereiten Gegnern stilisiert wurde. In der Praxis trat ‚der Staat‘ nicht als Monolith, sondern vielmehr als ein in vielfältige Instanzen und Kompetenzebenen zerfallendes, sich oftmals selbst blockierendes Konglomerat widersprüchlicher Partikularinteressen in Erscheinung, dem durch die Konfrontation mit dem Terrorismus ein für alle Beteiligten schmerzhafter Lernprozess aufgezwungen wurde.

In Trient äußerten sich jeweils ein deutscher und ein italienischer Kenner der Materie in fünf Themenblöcken zu den Aspekten Regierung/Parlament, Polizei, Justiz, Öffentlichkeit und Staatsverständnis im jeweiligen nationalen Kontext. Allein Tobias Hof hat sich mit einem Beitrag zur Anti-Terrorismus-Politik in Italien sowie einem weiteren Beitrag zum Turiner Maxi-Prozess gegen die Gründergeneration der Roten Brigaden auf das Terrain des ‚anderen‘ Landes gewagt; im zweiten Fall handelt es sich um eine stark überarbeitete Fassung des eindrucksvollen, auf der Tagung vorgetragenen Zeitzeugenberichts des verantwortlichen Untersuchungsrichters Giancarlo Caselli. Die übrigen in Trient präsentierten zehn Vorträge wurden allesamt in geringfügig veränderter Form in das nun vorliegende Bändchen übernommen.

Dank des detaillierten Tagungsberichts von Sabine Bergstermann erscheint deshalb an dieser Stelle eine ausführlichere Inhaltsangabe der einzelnen Beiträge entbehrlich.1 Stattdessen möchte die Rezensentin ihren Bedenken hinsichtlich des für die Publikation gewählten Formats Ausdruck verleihen. (Das vielversprechende Konzept sowie die hohe Qualität einzelner Beiträge – besonders lesenswert auf deutscher Seite die Aufsätze von Matthias Dahlke und Stephan Scheiper, auf italienischer derjenige von Vladimiro Satta – bleiben davon unberührt.) So angemessen sich auf den gerade einmal 120 Textseiten der Reihe „Zeitgeschichte im Gespräch“ beispielsweise die verschiedenen Aspekte der deutsch-italienischen Beziehungen seit 1989/90 in 13 kurzen Essays abbilden ließen – wie 2008 ebenfalls zur Dokumentation einer Trientiner Tagung derselben Veranstalter geschehen2 –, so unbefriedigend erscheint dieses Vorgehen unterm Strich hinsichtlich des ungleich komplexeren Themas Terrorismusbekämpfung, da es unvermeidlich zu Oberflächlichkeiten und Verkürzungen führen muss.

Problematisch ist vor allem der durch die Dichte der Beiträge und den notwendigerweise knappen Anmerkungsapparat erzeugte Eindruck, es bestehe hinsichtlich der vorgenommenen Wertungen und Urteile in der Forschung ein Konsens. Diesen kann es schon deshalb nicht geben, da die Historisierung des Untersuchungszeitraumes unter der gewählten Fragestellung noch in den Anfängen steckt. Das gilt vor allem für Italien, wo fundierteren Aussagen zum Staatshandeln durch die nach wie vor schwierige Quellenlage noch engere Grenzen gesetzt sind als in der Bundesrepublik. So darf man auf die in Kürze als Buch erscheinende Dissertation von Tobias Hof gespannt sein, wo er Gelegenheit haben wird, seine – mit Verlaub – gewagte These näher auszuführen und argumentativ zu belegen, „das Feindbild Terrorismus und die unerwartete Standhaftigkeit des traditionell als schwach angesehenen Staates“ hätten „gerade in den schwierigen Jahren 1976 bis 1982 die Kluft zwischen Gesellschaft und Staat“ überbrückt und das politische System „vorübergehend gestärkt“ (S. 28).3 Für denjenigen, der die italienische Diskussion um das politische Erbe des fraglichen Jahrzehnts kennt und um das dauerhaft ambivalente Image der Protagonisten weiß – allen voran Andreottis und Cossigas –, hinterlassen solche Aussagen mehr Fragen als Antworten. Hofs Bemerkung, der Linksterrorismus sei von der italienischen Politik „in eine Eskalation gezwungen“ worden, die diesem schließlich „die nötige Unterstützung raubte“ (ebd.), erscheint angesichts der insgesamt 145 Todesopfer, die der Staat nicht zu schützen vermochte, mindestens missverständlich.

Vor allem aber haben die Herausgeber durch den Verzicht auf eine angemessene Einleitung die Chance vergeben, sich an der – zugegebenermaßen nicht ganz leichten – vergleichenden Interpretation der präsentierten Thesen zu versuchen oder auch nur die Richtung vorzugeben, in die sich vergleichendes Fragen sinnvollerweise zu bewegen hätte. Die in Johannes Hürters Beitrag vorgeschlagene Differenzierung zwischen ‚aktiven‘ und ‚reaktiven‘ Politikmustern als Bewertungskriterium staatlichen Handelns scheint kaum für den ganzen Band tragfähig zu sein, zumal die verschiedenen Autoren offenbar Unterschiedliches mit diesen Begriffen verbinden. Hatte die Tagung in Trient durch die vor Ort lebhaft genutzte Möglichkeit kritischen Nachfragens sowie eine deutsch-italienisch besetzte Podiumsdiskussion durchaus Gelegenheit dazu geboten, die beiden nationalen Wege zueinander in Beziehung zu setzen, beschränken sich die Herausgeber in ihrer Vorbemerkung nun knapp darauf, mit der Veröffentlichung für zukünftige Forschungen „Perspektiven und Probleme auf[zu]zeigen, mit denen sich ein solcher Vergleich auseinanderzusetzen hätte“ (S. 8). Nicht nur vergleichende, sondern auch transnationale Überlegungen blendet der Band im Übrigen konsequent aus. Kulturgeschichtliche Fragestellungen – etwa hinsichtlich des eingangs skizzierten ‚Bildes‘ vom Staat und den daraus folgenden Konsequenzen – werden allein in Hanno Balz' mediengeschichtlichem Beitrag aufgegriffen. Damit vermag der Band unterm Strich zwar das große Potenzial seines Themas deutlich zu machen – genutzt hat er es aufgrund der selbstauferlegten Beschränkungen aber insgesamt zu wenig.

Anmerkungen:
1 <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/tagungsberichte/id=2134> (27.9.2010).
2 Gian Enrico Rusconi / Thomas Schlemmer / Hans Woller (Hrsg.), Schleichende Entfremdung? Deutschland und Italien nach dem Fall der Mauer, München 2007; vgl. auch meine Besprechung in: Quellen und Forschungen aus italienischen Archiven und Bibliotheken 88 (2008), S. 773-775; online unter <http://www.perspectivia.net/content/publikationen/qfiab/88-2008/0588-0847> (27.9.2010).
3 Tobias Hof, Staat und Terrorismus in Italien 1969–1982, München 2010.

Redaktion
Veröffentlicht am
Redaktionell betreut durch