Cover
Titel
China and Russia. Four Centuries of Conflict and Concord


Autor(en)
Snow, Philip
Erschienen
Anzahl Seiten
603 S.
Preis
€ 32,65
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Eva-Maria Stolberg, Bochum

Der China-Experte Philip Snow1 präsentiert in seinem 600 Seiten starken Buch eine Synthese der russisch-chinesischen Beziehungen von den Anfängen im 17. Jahrhundert bis ins 21. Jahrhundert. Die acht Kapitel folgen keinen thematischen Schwerpunkten, sondern sind chronologisch geordnet. Der Autor bietet einen gelungenen Querschnitt der Bereiche Diplomatie, Politik, Wirtschaft sowie Alltagsgeschichte. Ebenso nimmt der Autor eine Einordnung der bilateralen Beziehungen in die Weltpolitik vor, insbesondere in ihrem Verhältnis zu den europäischen Großmächten und den USA. In überzeugender Weise kombiniert Snow Makro- und Mikrogeschichte miteinander. Dafür hat der Autor Quellen aus russischen, chinesischen und britischen Archiven sowie eine Vielzahl von Tagebüchern, Erinnerungen und Zeitungsberichten ausgewertet.

Einführend widmet sich Snow der russischen Eroberung und Kolonialisierung Sibiriens im 16. Jahrhundert, die schließlich zur ersten Kontaktaufnahme mit dem Reich der Mitte führte. Die russischen Kenntnisse über Innerasien und China waren zu dieser Zeit rudimentär. Bei der Anbahnung erster diplomatischer und handelspolitischer Kontakte war die russische Seite auf die Zusammenarbeit zentralasiatischer und mongolischer Vermittler angewiesen. Die Unkenntnis diplomatisch-höfischer Etikette am chinesischen Hof führte vor 1689 immer wieder zum Scheitern der Missionen. Snow elaboriert die diplomatischen Praktiken zwischen den sich in der frühen Neuzeit formierenden Imperien Russland und China und den dazwischen geschalteten nomadischen Stammesgesellschaften Innerasiens, die zu der besonderen Komplexität beitrugen. Hier stellt sich bereits heraus, dass die Hauptbedingung von Diplomatie in der Anerkennung von Grenzen liegt, die durch die Weite des Raumes und die Existenz nomadischer Ethnien erschwert wurde.

Es folgt ein Kapitel über die Beziehungen in der Zeit vom Vertrag von Nerčinsk (1689) bis in die 1830er-Jahre. Snow beschreibt, wie der Vertrag von Nerčinsk bis ins frühe 19. Jahrhundert mit seiner Grenzregelung das Fundament der russisch-chinesischen Beziehungen darstellte. Snow hebt hervor, dass die Diplomatie unter Zar Peter dem Großen an Professionalität gewann. Die russische Seite schenkte den protokollarischen Abläufen, die ab Ende des 18. Jahrhunderts zunehmend standardisiert wurden, besondere Beachtung, sodass die diplomatischen und handelspolitischen Missionen erfolgreicher verliefen als in der Frühzeit der russisch-chinesischen Beziehungen. Unter dem Eindruck des Merkantilismus wurden die Kenntnisse über das Reich der Mitte professionalisiert, auch nahm in dieser Zeit die wissenschaftliche Beschäftigung mit China zu. Systematik, Effizienz und Professionalität waren die Leitlinien. Insgesamt begegneten sich die beiden Mächte in dieser Epoche, die Snow treffend mit „The Great Equilibrium“ bezeichnet, auf Augenhöhe.

Auf „The Great Equilibrium“ folgte die Erosion des Vertragssystems von Nerčinsk durch den in der Mitte des 19. Jahrhunderts aufkommenden russischen Imperialismus in Ostasien. Es war die Zeit der „Ungleichen Verträge“, die mit der Aushebelung der staatlichen Souveränität Chinas ein asymmetrisches Machtverhältnis begründeten. Vor dem Hintergrund imperialer Konkurrenz mit anderen europäischen Mächten, insbesondere im Schatten des britischen Opiumkrieges erfolgte die russische Annexion des Amurgebietes. Auch in der nordwestlichen Region des Qing-Reiches, in Xinjiang, verstärkte das Zarenreich seinen geo- und handelspolitischen Einfluss. Snow legt die vielfältigen Souveränitätseingriffe in die chinesische Politik, Verwaltung und den Handel dar. Dabei griff das Zarenreich zu zwei Mitteln: der Unterstützung von ethnischen Minderheiten, sowie dem Bau von Eisenbahnen zur militärischen und wirtschaftlichen Durchdringung der chinesischen Peripherie.2 Diese Demütigung sollte bis weit über das Ende des Zarenreiches – bis ins 20. Jahrhundert – das bilaterale Verhältnis belasten. Gleichzeitig weist Snow auf das Dilemma imperialer Großreiche wie Russland und China hin, denen sozialer Reformstau und eine unflexible autokratische Herrschaftsform zum Verhängnis wurden. Die alten Regime gingen in den Revolutionen von 1911 und 1917 unter. Der Imperialismus beschleunigte dabei die Zerfallsprozesse, in denen zudem die Zentrifugalkräfte der nach Autonomie strebenden Randgebiete eingriffen.

„Lighthouse of the Mind’s Sea” thematisiert den Eintritt der neuen Ideologien des 20. Jahrhunderts in das politische, soziale und mentale Vakuum, das die Großreiche hinterlassen hatten: der Kommunismus und der Nationalismus. Durch die Revolution von 1917 wurde in Russland die soziale Frage in den Vordergrund gestellt, in der chinesischen Revolution von 1911 die Frage nach der nationalen Identität, die sich in dem Streben nach Souveränität äußerte. In beiden Ländern wurden in der Intelligenzia die politischen und sozialen Ursachen für den Zerfall der Imperien analysiert und debattiert. Es war die Suche nach einer Neuorientierung. Die beiden Revolutionen und die Entstehung der republikanischen Staatsform boten den Anlass, das bilaterale Verhältnis neu auszutarieren. Durch die Annullierung der ungleichen Verträge erkannte die sowjetische Regierung die territoriale Integrität Chinas an. Wie Snow erläutert, stellte sie mit ihrer Kominternpolitik die innere Souveränität Chinas in Frage.

Die Unterstützung zweier konträrer politischer Parteien, der Nationalisten (Guomindang) auf der einen Seite und der Kommunisten auf der anderen Seite, wurde zu einer Belastungsprobe für das sowjetisch-chinesische Verhältnis. Das Doppelspiel der Sowjetunion entfremdete die politischen Führungspersönlichkeiten des republikanischen China, Sun Yatsen, Chiang Kaishek und Mao Zedong. Ihnen ging es – ungeachtet ihrer politischen Differenzen – um die Souveränität Chinas, um Chinas eigenen Weg in die Moderne. Sowohl Nationalisten als auch Kommunisten waren sich einig in ihrem Vorwurf, die Sowjetunion betreibe einen „roten Imperialismus“. Tatsächlich knüpfte Stalin mit seinem Beharren auf eine sowjetische Sonderstellung an Chinas nördlicher Peripherie (Xinjiang, Mandschurei), die sich in wirtschaftlicher Kontrolle äußerte, an die geostrategischen Ziele des Zarenreiches an. So zielte die sowjetische Politik unter Stalin in den Jahren 1927–1949 auf eine erneute Asymmetrie zugunsten der Sowjetunion ab. Mit Hilfe sowjetischer Berater wurden in der Volksrepublik China nach 1949 staatliche, wirtschaftliche und militärische Strukturen aufgebaut. In der Landwirtschaft, der Industrie und im Bildungssektor wie auch in der Justiz diente die Sowjetunion als Modell. Trotz persönlicher Differenzen zwischen Mao und Stalin, ungeachtet des asymmetrischen Machtverhältnisses, galt der Stalinismus als effizient und daher nachahmenswert.3 Er war eine Schablone für Maos Herrschaftssicherung und Personenkult.

Mit Nikita Chruščev und seiner Abkehr vom Stalinismus trat ein Wandel in die sowjetisch-chinesischen Beziehungen ein. Die Sonderrechte in den nordchinesischen Grenzgebieten wurden kompensationslos aufgegeben. Die späten 1950er-Jahre führten zu einer zunehmenden Abgrenzung Pekings vom bisherigen Vorbild Sowjetunion: Auf der Konferenz von Bandung schlug die VR China mit der Annäherung an die blockfreien Staaten Indien und Indonesien eine eigenständige Außenpolitik ein, ein Beitritt zum Warschauer Pakt wurde abgelehnt. Die Entstalinisierung und die Verurteilung des Personenkultes in der Sowjetunion rüttelten an den Fundamenten des Maoismus und führten zu einer weiteren Entfremdung zwischen den beiden kommunistischen Nachbarn, die sich im Jahr 1969 mit dem Ussuri-Konflikt militärisch zuspitzte. Snow zeigt auf, dass nach Stalins Tod die Führungsrolle der Sowjetunion im Weltkommunismus nicht mehr unangefochten sein sollte und dieser Wandel wurde bis zum Untergang der Sowjetunion 1991 maßgeblich vom zunehmenden Selbstbewusstsein der VR China bestimmt. Innenpolitisch hatte Mao mit dem „Großen Sprung nach Vorn“, der Volkskommunenbewegung und der „Großen Kulturrevolution“ dem chinesischen Kommunismus einen eigenen, vom sowjetischen Modell unabhängigen Stempel aufgedrückt. Nach Snow waren die Epochen des Stalinismus und Maoismus die turbulentesten Phasen im sowjetisch-chinesischen Verhältnis.

Die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zu den USA 1972, die Wirtschaftsreformen unter Deng Xiaoping in den späten 1970er-Jahren, die Ablehnung der von Michail Gorbačev betriebenen politischen Öffnung in der Sowjetunion und die gewaltsame Niederschlagung der Studentendemonstrationen auf dem Tiananmen 1989 verdeutlichten erneut den eigenständigen Kurs in der chinesischen Außen- und Innenpolitik. Das Buch schließt mit der Entwicklung einer strategischen Partnerschaft zwischen dem postsowjetischen Russland und der VR China seit dem Zerfall der Sowjetunion bis zur Ära Putin. Seit Putin spielt die Affinität zweier autoritärer, antiwestlich eingestellter Staaten eine bedeutende Rolle. Der Autoritarismus und die Ablehnung der westlichen Werteordnung sind der gemeinsame Nenner, der die Partnerschaft erhält.

Insgesamt bietet Philip Snow eine lesenswerte und kompetente Synthese der russisch-chinesischen Beziehungen, die von einer Asymmetrie bestimmt waren, einem Wechselspiel von Dominanz und Partnerschaft. Snow besitzt eine profunde Kenntnis der Sekundärliteratur, allerdings vermisst die Rezensentin eine Auseinandersetzung mit den Urteilen dieser Literatur. Denn der Autor legt eine Synthese des bisherigen Forschungsstandes vor, ohne eigene, neue Thesen zu entwickeln. Dies wäre durch das Setzen von thematischen Schwerpunkten möglich gewesen. Dennoch ist Snows kompakte Synthese zu würdigen und als Standardwerk zu betrachten.

Anmerkungen:
1 Philip Snow, The Star Raft. China’s Encounter with Africa, New York 1988; ders., The Fall of Hong Kong, New Haven 2003.
2 Owen Lattimore, Pivot of Asia. Sinkiang and Inner Asian frontiers of China and Russia, New York 1975; Sören Urbansky, Kolonialer Wettstreit. Russland, China, Japan und die Ostchinesische Eisenbahn, Frankfurt am Main 2008.
3 Eva-Maria Stolberg, Stalin und die chinesischen Kommunisten, 1945–1953. Eine Studie zur Entstehungsgeschichte der sowjetisch-chinesischen Beziehungen vor dem Hintergrund des Kalten Krieges, Stuttgart 1997.

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