„Der Kardinal von Lothringen sollte […] ein Faß voll Wasser schlucken müssen. Nur er und sein Haus sind die Urheber alles Unheils in Frankreich. Sie verraten das Königreich an Philipp von Spanien, damit er sie auf den Thron setzt. Sie ganz allein machen uns Protestanten verhaßt beim König und dem Volk.“ Dieses Verdikt, das Heinrich Mann dem jungen Henri de Navarre, dem zukünftigen König von Frankreich und Helden seines historischen Romans, in den Mund legt, ist symptomatisch für die weitverbreiteten Vorurteile gegen die Guise.1 Sie gelten gemeinhin als intrigante Verschwörer, ultra-katholische Falken und skrupellose Machiavellisten. Weder in der populären Geschichtskultur noch in der historischen Fachwelt besitzt das lothringische Adelsgeschlecht einen allzu guten Leumund. Dies zu ändern, hat sich der an der University of York lehrende Historiker Stuart Carroll mit seiner neuen Monographie zur Aufgabe gemacht.
Carroll zufolge beruht der schlechte Ruf der Guise in erster Linie auf den Zuschreibungen konfessionell voreingenommener Kommentatoren und Historiographen. Für sie waren die Guise entweder Märtyrer oder Mörder, also Helden oder Feinde des wahren Glaubens. Mit diesen Vorurteilen möchte Carroll aufräumen und die Geschichte des Hauses neu erzählen, diesmal jedoch sine ira et studio. Ohnehin lohne sich eine Beschäftigung mit den Guise aus drei weiteren Gründen: Zum einen könnten auf diese Weise bisher kaum beachtete Aspekte der anglo-französischen Beziehungen in den Blick genommen werden. Mithin lasse sich beispielsweise das Schicksal Maria Stuarts nur dann vollständig erfassen, wenn auch auf ihre Verwandtschaft mit den Guise und deren politische Ambitionen außerhalb Frankreichs eingegangen werde. Zum anderen verkörpere dieses Adelsgeschlecht die tiefgreifenden Veränderungen, die Europa im 16. Jahrhundert durchmachte. Indem es nämlich die Guise verstanden, die neuen Druckmedien strategisch einzusetzen und die religiösen Überzeugungen weiter Teile der Bevölkerung gezielt zu manipulieren, setzten sie sich erfolgreich an die Spitze der katholischen Bewegung. Dadurch konnten sie nicht nur ihre dynastischen Interessen verfolgen, sondern auch die Valois-Monarchie zu Fall bringen. Schließlich sei es angesichts der heutigen religiösen Fundamentalismen an der Zeit, sich erneut mit den Guise und der europäischen Geschichte konfessionell motivierter Gewalt auseinanderzusetzen. Warum allerdings eine Zuwendung zur Epoche der Glaubenskämpfe für ein Verständnis oder gar die Lösung gegenwärtiger Konflikte von Nutzen sein kann, führt Carroll nicht weiter aus. Stattdessen scheut er nicht davor zurück, durch Vergleiche mit aktuellen Geschehnissen einen Bezug zwischen seinem Gegenstand und der Lebenswelt der Leserinnen und Leser herzustellen.
In zwölf Kapiteln, einem Intermezzo und einem Epilog zeichnet der Autor die Geschichte des lothringischen Adelsgeschlechts nach, wobei er aber einen Schwerpunkt auf die zweite Hälfte des 16. Jahrhunderts legt. Seine Erzählung beginnt Carroll mit einem Paukenschlag: dem Massaker von Wassy 1562, bei dem die Truppen des Herzogs von Guise mehrere Dutzend Protestanten töteten und das als Auslöser für die Französischen Religionskriege gilt. Im Gegensatz zu den meisten historiographischen Darstellungen erklärt Carroll dieses Schlüsselereignis nicht mit konfessionellen Feindschaften. Franz von Guise habe ein Blutvergießen weder beabsichtigt noch gewollt; ihm sei es lediglich um die Wiederherstellung seiner Autorität als Herrscher gegangen. Die Eskalation des Konflikts müsse daher als Verkettung unglücklicher Umstände gedeutet werden.
Daraufhin wendet Carroll sich Claude de Lorraine zu, dem ersten Herzog von Guise, und beschreibt die Anfänge der Dynastie unter der Herrschaft Franz’ I. und Heinrichs II. von Frankreich. Für den Aufstieg des Adelshauses waren Carrolls Überzeugung nach nicht nur individuelle Verdienste ausschlaggebend, sondern auch ein hohes Maß an Familiensolidarität, ein geschickter Ausbau der Kirchenpfründe und ein umfangreiches System der Patronage. Anschließend folgt eine chronologische Erzählung; kaum ein wichtiges Ereignis der französischen Geschichte des 16. Jahrhunderts wird ausgelassen. Dabei gelingt es Carroll, sowohl die Handlungen seiner Akteure als auch die Konjunkturen ihres Einflusses bei Hofe mit dem politischen, sozialen und kulturellen Kontext zu verbinden. Vor diesem Hintergrund wird insbesondere deutlich, warum eine Entfremdung zwischen der Krone und den Guise eine Hinwendung zu außerfranzösischen Mächten zur Folge hatte. Es lag im dynastischen Interesse der Guise, auf eine Invasion Englands zu dringen, zugleich ein Bündnis mit dem König von Spanien einzugehen und die Position der Krone zu schwächen. In diesem Sinne ist es folgerichtig, wenn Carrolls Darstellung gleich mit einem doppelten Ende schließt, nämlich dem der Valois durch das Attentat auf Heinrich III. 1589 und dem der Guise rund 85 Jahre später.
Den argumentativen Dreh- und Angelpunkt der Erzählung bildet das sechste Kapitel, das den Titel „The Cardinal’s Compromise“ trägt. Hier führt Carroll eindrucksvoll vor Augen, warum es ein fataler Fehler ist, Ereignisse im Licht späterer Entwicklungen zu bewerten. Auf die Guise bezogen heißt das konkret, dass die Rolle, die sie als Alliierte und Klienten Philipps II. oder als Anführer der Katholischen Liga spielten, nicht auf die Zeit vor dem Ausbruch des Ersten Religionskriegs übertragen werden darf. Indem er an ältere Forschungen anknüpft, kann Carroll zeigen, dass Charles, der Kardinal von Lothringen, einen religiösen Kompromiss favorisierte. Im Sinne einer via media sei es ihm darum gegangen, auf der Grundlage einer Gallikanischen Kirche einen Ausgleich zwischen den Konfessionsparteien herbeizuführen. Als Ausgangspunkt hierfür sollte die Augsburger Konfession dienen. Der Kardinal von Lothringen muss also zunächst den humanistisch-erasmianisch gesinnten Politiques zugerechnet werden. Erst als nach dem Massaker von Wassy und dem Ausbruch des Ersten Religionskriegs eine via media nicht mehr praktikabel schien, rückte die Familie von einer Politik des Ausgleichs ab. Im Verlauf des Konzils von Trient gab Charles schließlich sein gallikanisches Programm zugunsten des Römischen Katholizismus’ auf. Carroll betont damit zweierlei: Zum einen sei für die Guise die Politik ausschlaggebend gewesen, nicht die Religion. Und zum anderen sei die Katastrophe des Bürgerkriegs letzten Endes das Ergebnis eines Scheiterns der moderaten, auf einen Kompromiss setzenden Mittelpartei. Die Guise sollten daher vor allem als Akteure verstanden werden, die sich anders als ihre adligen Standesgenossen konfessioneller Standpunkte gezielt bedienten, um von möglichst vielen Anhängern bei der Verfolgung ihrer politischen Ziele Unterstützung zu erhalten.
Carroll untermauert diese Thesen mit zahlreichen Quellenbelegen, die er umsichtig auswertet. Wünschenswert wäre es jedoch gewesen, wenn er sich auch in den übrigen Teilen ebenso kritisch mit seinen Quellen auseinandergesetzt hätte. Allzu bereitwillig folgt er wiederholt dem Urteil seiner Gewährsmänner, wie Brantôme oder du Thou, wenn diese scheinbar interessante Einsichten oder anschauliche Details beisteuern können. Dass solche Anekdoten gemeinhin aus einem bestimmten Interesse berichtet werden und dass sie unser Bild von den Guise maßgeblich formen, übergeht Carroll stillschweigend. Dadurch läuft er Gefahr, in Widerspruch zu seinem anfangs formulierten Anspruch zu geraten, die Familiengeschichte der Guise jenseits konfessioneller Vorurteile darzustellen. Offensichtlich wird dies bereits am Spannung erzeugenden Titel des Buches „Martyrs and Murderers“. Anstatt seine eigenen Erkenntnisse in eine ähnlich griffige Formel zu gießen, übernimmt Carroll die Zuschreibungen und Kategorien seiner Vorgänger. Eine simple Überführung des parteiischen Entweder-oder in ein vermeintlich neutrales Sowohl-als-auch wird aber seinem eigentlichen Ergebnis nicht gerecht. Denn Carrolls Leistung besteht mitnichten darin zu zeigen, dass die Guise Märtyrer und Mörder waren. Vielmehr erscheinen die Guise als selbstbewusste Vertreter des europäisch agierenden Hochadels, die in erster Linie auf die Wahrung ihrer dynastischen Interessen bedacht waren.
Stuart Carroll ist zweifelsohne ein begnadeter Erzähler, der sich stets einer eingängigen, anschaulichen Sprache bedient. Dass er auch als ein intimer Kenner der französischen Geschichte des 16. Jahrhunderts gelten darf, davon legt sein neuestes Buch ein beredtes Zeugnis ab. Seine Geschichte der Guise ist jedoch nicht nur verdienstvoll, weil sie eine Synthese des bisherigen Forschungsstandes bietet und mitunter darüber hinausgeht. Sie gibt auch Anlass, sich wieder verstärkt mit der Geschichte dieses Adelsgeschlechtes zu beschäftigen und insbesondere das Studium der einschlägigen Quellen zu vertiefen. Zugleich regt sie dazu an, weiter darüber nachzudenken, welche Bedeutung wissenschaftlichen wie nichtwissenschaftlichen Erzählungen für unser Verständnis der Vergangenheit zukommt.
Anmerkung:
1 Heinrich Mann, Die Jugend des Königs Henri Quatre. Roman, in: Peter-Paul Schneider (Hrsg.): Heinrich Mann, Gesammelte Werke in Einzelbänden, Frankfurt am Main 2006, S. 76.