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Titel
Nazis am Nil. Die westdeutsch-ägyptischen Beziehungen der Nachkriegszeit im Schatten des Nationalsozialismus


Autor(en)
Becker, Ulrike
Erschienen
Göttingen 2024: V&R unipress
Anzahl Seiten
765 S.
Preis
€ 90,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Albrecht Hagemann, Detmold

Dem etwas luftigen Titel „Nazis am Nil“ liegt die Dissertation Ulrike Beckers mit dem Titel „‚Unsere Nazis in Ägypten‘. Westdeutsch-ägyptische Beziehungen zwischen 1951 und 1965 im Spannungsfeld von Neuanfang und nationalsozialistischer Kontinuität“ zugrunde, mit der die Autorin im September 2020 an der Universität Jena promoviert wurde. Das Zitat stammt dabei von Bundeskanzler Konrad Adenauer – es fiel am 11. Juni 1953 in einem Gespräch mit dem (inoffiziellen) israelischen Botschafter Felix Shinnar über die deutsche Militärberatergruppe in Ägypten (S. 77).1

Nach einer ausführlichen Einleitung mit rund 60 Seiten breitet die Autorin ihre Forschungsergebnisse, die sich nicht zuletzt auch in einem beeindruckenden Anmerkungsapparat widerspiegeln, in fünf weiteren Hauptkapiteln aus. Im zweiten Kapitel geht es um die (west-)deutsche Militärberatergruppe in Ägypten und ihr Verhältnis zur Bundesregierung. Die Arbeit der Militärberater ging auf eine Einladung des ägyptischen Königs Faruk zurück, die der ehemalige SS-Wehrwirtschaftsführer Wilhelm Voss im März 1951 mit einem ersten Besuch in Kairo beantwortete. Die Tätigkeit der deutschen Berater wird ebenso thematisiert wie die Rolle einzelner Persönlichkeiten mit ihrem häufig nationalsozialistischen Hintergrund. Dabei kommt insbesondere Voss eine Führungsfunktion zu, dessen Verhältnis zur ägyptischen Regierung zunehmend von Spannungen geprägt war. „Er ist ein Lügner, und Sie können mich zitieren“, urteilte Präsident Nasser über Voss in der Spätphase von dessen Wirken am Nil.2 Deutsche Wirtschaftsinteressen im Ägypten der Nachkriegszeit, Rüstungsgeschäfte des nordafrikanischen Landes mit der Bundesrepublik und Konflikte mit Großbritannien wegen der militärischen Präsenz Londons in der Suezkanalzone bilden weitere Schwerpunkte des ersten Kapitels.

„Nazis am Nil als Imageproblem für die Bundesregierung“ ist das dritte Kapitel überschrieben. Einzelaspekte betreffen hier vor allem die Tätigkeit flüchtiger Nationalsozialisten bei den Pyramiden. Zu erwähnen sind in diesem Zusammenhang etwa Generalmajor Otto Ernst Remer, der antisemitische Propagandist Johann von Leers, der KZ-Arzt Hans Eisele sowie der Offenburger Studienrat Ludwig Zind, der allerdings erst in der jungen Bundesrepublik als rabiater Antisemit aufgefallen war.

Das vierte Kapitel widmet sich den Versuchen der ägyptischen Regierung, mit Hilfe deutscher und österreichischer Fachleute eine eigene Flugzeug- und Raketenindustrie aufzubauen. Dabei war der Flugzeugbau unter der Leitung von Willy Messerschmitt eindeutig militärisch ausgerichtet, während die Raketenkonstrukteure nicht müde wurden, zu behaupten, es gehe ihnen um eine rein zivile Nutzung. Allein die öffentliche Erklärung Präsident Nassers nach einem Probeschießen im Jahre 1962, die Raketen könnten bis südlich von Beirut fliegen – und damit auch Israel erreichen –, strafte diese Behauptung Lügen. Die Autorin setzt sich intensiv mit den Motiven der Experten für ihr Engagement in Ägypten auseinander. Zu Recht weist sie deren Selbstdarstellung zurück, wonach sie als reine Technokraten ohne politische Ziele am Nil tätig seien. Dies war in einem Land, das direkt an seinen Erzfeind Israel grenzte, schlicht nicht möglich. Viele der Experten hatten einen nationalsozialistischen Hintergrund, der ihre Empathie für den jüdischen Staat nicht gerade förderte. Interessant ist die Beobachtung, dass sich vor allem unter den prominenteren Raketenkonstrukteuren eine Reihe Sudetendeutscher befand – man denke an Eugen Sänger, Hans Kleinwächter, Wolfgang Pilz –, die als Heimatvertriebene zweifellos Sympathien für die Palästinenser hegten. Zumindest Kleinwächter hat dies in einem Zeitungsinterview bestätigt (vgl. S. 396). Zur Motivlage wird man nach den Recherchen Beckers fraglos auch die üppige Entlohnung aus der Schatulle Präsident Nassers und das anfängliche Fehlen adäquater Beschäftigungsmöglichkeiten in der Heimat zählen dürfen. Von dem zeitgenössischen britischen Autor Terence Prittie stammt schließlich die pikante These, die angeblich ungelösten Steuerungsprobleme bei den Raketen seien von den Experten nur vorgeschoben worden, um ihnen in Ägypten eine attraktive Tätigkeit ad calendas graecas zu sichern.3

Die vor allem seit Ende 1962 mit einer Pressekampagne gestartete, harsche öffentliche Reaktion Israels auf die deutsche Expertentätigkeit am Nil wird von der Autorin insofern ein wenig oberflächlich behandelt, als sie die zum Teil gewaltsamen Maßnahmen israelischer Sicherheitsorgane im Rahmen der Aktion „Damokles“ gegen die Experten ungeprüft einer schriftlichen Übersicht entnimmt, die im März 1963 Gegenstand einer Sitzung des Bundeskabinetts war. Zumindest das Resultat der dort an erster Stelle aufgeführten Aktion, der Absturz eines Kleinflugzeugs am Teutoburger Wald Anfang Juli 1962 mit zwei Todesopfern, dürfte mit großer Wahrscheinlichkeit nicht auf das Konto der Israelis gehen.4 Auch das ungeklärte Verschwinden Heinz Krugs, des Hauptorganisators der ägyptischen Raketenentwicklung mit Sitz zunächst in Stuttgart und dann in München, gibt bis heute Rätsel auf. Dass sich in Israel im Laufe der Zeit die Gemüter auch wieder beruhigen konnten, zeigt eine von österreichischer Seite kolportierte Äußerung des damaligen stellvertretenden israelischen Ministerpräsidenten Abba Eban im Jahr 1965, es wäre „ungeschickt“, „Herrn NASSER durch die Anwerbung oder Beseitigung der österreichischen Experten daran zu hindern, sein Geld zum Fenster hinauszuschmeißen. Es sei doch viel besser, er fabriziere schlechte Flugzeuge im Lande und verblute sich dabei finanziell“, als dass er „gute im Ausland kaufe“.5

Im Mittelpunkt des fünften Kapitels steht das Luxemburger Abkommen von 1952 über westdeutsche Entschädigungszahlungen an Israel. Eindrucksvoll analysiert die Autorin hier die „erste antiisraelische Kampagne der Nachkriegszeit“ (S. 7, S. 463). Deutsche Geschäftsleute mit nationalsozialistischer Vergangenheit und wirtschaftlichen Interessen in der arabischen Welt agitierten ebenso gegen das Abkommen und seine Ratifizierung im Bundestag wie arabische Diplomaten, die häufig ihre Studienzeit im „Dritten Reich“ verbracht hatten. Es war vor allem der Mufti Amin el-Husseini, der als Bewunderer Hitlers und Apologet des Nationalsozialismus von Kairo aus in der Bundesrepublik Stimmung gegen das Abkommen machte und mit dem Gerede vom „Weltzionismus“ entscheidend zur anhaltenden Vergiftung des Klimas zwischen Israel und der arabischen Welt beitrug.

Das sechste Kapitel thematisiert die Wahrnehmung Israels als „Störfaktor“ der bundesdeutschen Beziehungen zu Ägypten. Ein Netzwerk aus ägyptischen, arabischen und deutschen Unterstützern des Nationalsozialismus machte in der Nachkriegszeit sowohl in Kairo wie auch in Westdeutschland Front gegen den jüdischen Staat, so Becker. Relativ breiten Raum nimmt in diesem Kapitel eine „Fallstudie“ ein, in der es um Wilhelm Melchers geht, den Leiter des Nahost-Referats im Auswärtigen Amt (AA) des „Dritten Reiches“. Für Becker ist Melchers, der in Bonn am Wiederaufbau des Auswärtigen Dienstes beteiligt war, ein typischer Vertreter jener Diplomaten, die nach 1945 behaupteten, das AA habe sich von der NS-Ideologie weitgehend freigehalten. Tatsächlich jedoch hatte sich der Vortragende Legationsrat Melchers frühzeitig dafür eingesetzt, dass den deutschen Juden der Fluchtweg nach Palästina versperrt wurde. Melchers hat bei Becker einen weiteren Auftritt in ihrer ebenfalls recht umfangreichen Analyse der Istanbuler Konferenz vom April 1956, auf der sich Vertreter des Bonner AA und westdeutsche Nahost-Botschafter zu einem Meinungsaustausch angesichts des wachsenden sowjetischen Einflusses in der arabischen Welt trafen. In Istanbul gelang es nicht zuletzt Melchers, eine weitere Annäherung Bonns an Israel zu verhindern, indem die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zu dem jüdischen Staat abgelehnt wurde. Auch die deutschen Militärberater am Nil nutzten ihre Position, um das Luxemburger Abkommen zu bekämpfen. Die Gegenmaßnahmen seitens des Auswärtigen Amtes waren eher lau, was nicht zuletzt der starken Gruppe der „Arabisten“ an der Koblenzer Straße und der Schwäche des pro-israelischen Lagers im dortigen AA geschuldet war. Neben Bundeskanzler Adenauer war es laut Becker vor allem der Vorsitzende der Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit, Franz Böhm (CDU), der sich nachdrücklich hinter das Abkommen stellte. Entschiedene sozialdemokratische Befürworter waren Erich Ollenhauer sowie der Widerstandskämpfer und Journalist Rudolf Küstermeier.

Insgesamt gelingt Ulrike Becker ein überzeugendes, außerordentlich detailreiches und abgewogenes Bild der Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Ägypten bis Mitte der 1960er-Jahre. Sie legt eindrucksvoll dar, wie die westdeutschen Beziehungen zu Ägypten in der frühen Nachkriegszeit von Akteuren beherrscht wurden, die „in ihren mentalen Orientierungen und Überzeugungen“ von der Erbschaft des Nationalsozialismus geprägt waren (Fazit, S. 685). Das galt nach ihren Befunden für die Diplomaten, aber auch für nichtstaatliche Akteure. Ehemalige Nationalsozialisten mit geschäftlichen Interessen am Nil agitierten gegen Entschädigungszahlungen und gegen jegliche Zusammenarbeit mit Israel, womit sie Resonanz und nicht selten Zustimmung fanden. Als Desiderate künftiger Forschungen sieht Becker stichwortartig folgende Punkte: den tatsächlichen Einfluss der ehemaligen Nationalsozialisten auf die Politik Kairos; die konkrete Motivlage auf ägyptischer Seite und auf Seiten der Arabischen Liga für die Beschäftigung von NS-Belasteten; schließlich die Einbeziehung arabischer Quellen.

Anmerkungen:
1 Shinnar (1905–1985) leitete die israelische Delegation bei den Verhandlungen über das Luxemburger „Wiedergutmachungsabkommen“ und die daraus hervorgehende Handelsvertretung („Israel-Mission“) im Rang eines Botschafters. Er war 1934 aus Deutschland nach Palästina geflüchtet.
2 Geheim, privat, persönlich, in: Spiegel, 30.06.1954, S. 5–6, hier S. 6, https://www.spiegel.de/politik/geheim-privat-persoenlich-a-49a21d85-0002-0001-0000-000028956868 (11.03.2024).
3 Terence Prittie, Eshkol of Israel. The Man and the Nation, London 1969; hier nach Niels Hansen, Aus dem Schatten der Katastrophe. Die deutsch-israelischen Beziehungen in der Ära Konrad Adenauer und David Ben Gurion. Ein dokumentierter Bericht. Mit einem Geleitwort von Shimon Peres, Düsseldorf 2002, S. 644.
4 Vgl. dazu den Versuch einer Beweisführung in dem Buch des Rezensenten: Albrecht Hagemann, Die Straße der Störche. Deutsche und österreichische Militärexpertise in Syrien und Ägypten und die Antwort Israels (1947–1967), Darmstadt 2023, S. 342–349.
5 Vgl. Thomas Riegler, Agenten, Wissenschaftler und „Todesstrahlen“: Zur Rolle österreichischer Akteure in Nassers Rüstungsprogramm (1958–1969), in: Journal for Intelligence, Propaganda and Security Studies 8,2 (2014), S. 44–72, hier S. 55, https://thomasriegler.files.wordpress.com/2016/08/agenten_wissenschaftler_und_todesstrahle.pdf (11.03.2024).

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