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Titel
Werner Conze. Ein deutscher Historiker im 20. Jahrhundert


Autor(en)
Dunkhase, Jan Eike
Reihe
Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 194
Erschienen
Göttingen 2010: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
378 S.
Preis
€ 39,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christoph Nonn, Historisches Seminar, Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf

Seit auf dem Frankfurter Historikertag 1998 die nationalsozialistische Vergangenheit deutscher Geschichtsschreibung innerhalb wie außerhalb der Zunft für Furore gesorgt hat, ist der Name Werner Conze für einen Streit gut. Diejenigen, die 1998 vor allem Conze und Theodor Schieder wegen ihrer Tätigkeit vor 1945 angriffen, wurden damals etwa von Hans-Ulrich Wehler und Jürgen Kocka kritisiert, sie würden die Aufgabe des Staatsanwalts mit derjenigen des Historikers verwechseln. Wehler und Kocka wiederum warf man im Gegenzug vor, mit Conze und Schieder ihre geistigen Ziehväter zu verteidigen. Ein Echo dieser Debatte ging noch der Publikation von Jan Eike Dunkhases Conze-Biographie voraus: Als Dunkhases Doktorvater Kocka die Arbeit seines Schülers im „Merkur“ mit Vorschusslorbeeren bedachte, spottete die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ über „Spinnen in Netzwerken“. Süffisant fragte dort Alexander Cammann, wann wohl die Biographie Kockas, der zu den „von Conze geförderten Nachwuchshistorikern“ gehört habe, durch eine von Dunkhase vergebene Dissertation „kollegial“ erforscht werde.1

Dass Lehrer-Schüler-Beziehungen in der Geschichte der Geschichtswissenschaft von beträchtlicher Bedeutung waren und sind, ist offensichtlich. Dass sie allerdings zumindest im Fall der Biographie eines geistigen „Großvaters“ keineswegs zu einer kritiklosen „Würdigung“ führen müssen, illustriert Dunkhases Buch über Conze nachdrücklich. Dieses Buch steht zwar wie sein Autor deutlich erkennbar in einer sozialhistorischen Tradition. Doch es ist alles andere als eine Apologie – eher das Gegenteil. Denn gerade Conzes sorgsames Vermeiden des Nationalsozialismus und besonders der nationalsozialistischen Judenverfolgung als Thema der Geschichtsschreibung nach 1945 bildet bei Dunkhase den archimedischen Punkt der Darstellung.

Wie schon Thomas Etzemüller in einer früheren Dissertation über Werner Conze2 oder auch Jan Eckel in einer Studie zu Hans Rothfels3 nähert sich Dunkhase seinem Untersuchungsobjekt mit kritischer Distanz. Anders als Etzemüller, der Conze eher als Beispiel für einen bestimmten kollektiven „Denkstil“ betrachtete, will Dunkhase freilich die „biographischen Eigenheiten Conzes“ herausarbeiten (S. 11). Anders auch als Eckel, der die Geschichtsschreibung von Conzes Mentor Rothfels konstruktivistisch deutete, betont Dunkhase mit Heinrich August Winkler die „Wirklichkeit jenseits der Geschichte der Geschichtswissenschaft“. Die „Rückbindung der Froschperspektive des Historikers an die ihn umgebende Gesellschaft“ sei „von erheblichem Wert für die historische Vogelschau“ (S. 8). Darin liegt eine methodische Parallele zu Christoph Cornelißens Biographie über Gerhard Ritter4, von der Dunkhase sich wegen ihrer chronologisch-linearen Darstellungsform freilich abgrenzt: Er spricht sich stattdessen für einen multiperspektivischen Zugang aus, „ähnlich einer mehrdimensionalen Fotocollage“ (S. 10).

Ganz ohne Chronologie geht es zunächst doch nicht. In den ersten drei Kapiteln skizziert der Autor nacheinander Conzes Elternhaus, Kindheit und seine Prägung durch die Deutsch-Akademische Gildenschaft als Student; dann „Lehrmeister und Lehrstätten“ des Studiums in den frühen 1930er-Jahren; schließlich Conzes Tätigkeit zwischen 1933 und 1945. Die judenfeindlichen Äußerungen des jungen Historikers interpretiert Dunkhase (gegen Götz Aly und Ingo Haar) nicht als Nachweis direkter Verantwortlichkeit für die „Endlösung“, sondern (mit Dan Diner) eher als Beispiel für einen „Sickerprozess nationalsozialistischer Weltanschauung“ (S. 54).

Dunkhases Hauptinteresse gilt allerdings Conzes Leben und Arbeit nach 1945. Dieser Epoche, in der Conze unvergleichlich einflussreicher war als davor, sind gut drei Viertel des Buches gewidmet.5 Zunächst steht im vierten Kapitel der Hochschullehrer und öffentliche Mensch im Mittelpunkt: Conzes Etablierung als Ordinarius in Heidelberg, die (Wieder-)Begründung einer bürgerlichen Existenz und die Rolle im Umfeld von „1968“. Anschließend wird die „Sozialgeschichte der industriellen Welt“ des Heidelberger Historikers als Ausdruck eines politisch entradikalisierten Konservatismus charakterisiert. Diese Grundeinstellung habe auch Conzes Nationsverständnis nach 1945 geprägt. Die Ostverträge habe er allerdings weniger aus außenpolitischer Überzeugung abgelehnt als aus innen-, vor allem hochschulpolitischer Taktik.

In den letzten beiden Kapiteln geht es schließlich um das zeithistorische Werk des Protagonisten – und noch mehr um dessen Lücken. Conzes nach 1945 entstandene Arbeiten zu zeitgeschichtlichen Themen bezeichnet Dunkhase als typische „Opfergeschichten“. Ob in einem Buch über seine eigene Wehrmachtsdivision, ob in der unter Theodor Schieders Leitung bearbeiteten „Dokumentation der Vertreibung der Deutschen aus Ost-Mitteleuropa“, ob in späteren Beiträgen zu dem anfangs sorgfältig umschifften Komplex des Verhältnisses von deutscher Bevölkerung und Nationalsozialismus – immer wurden die Grenzen zwischen Deutschen und „Nazis“ deutlich gezogen. Antiparlamentarische und antidemokratische Affekte der bürgerlichen Eliten, zu deren Nachwuchs er in den frühen 1930er-Jahren selbst gehört hatte, thematisierte Conze dagegen kaum. Die Judenverfolgung bildete für ihn laut Dunkhase schließlich vollends die „Leerstelle“ seiner Geschichtsdarstellung.

Das Buch hat viele Stärken; der überschaubare Umfang gehört dazu. Zur Lesefreundlichkeit trägt ebenso bei, dass der Autor auf den Ausweis von Gelehrsamkeit durch renommierendes Theoretisieren und name-dropping im Text verzichtet, während er durch seine Begrifflichkeit und im umfangreichen Anmerkungsteil sehr wohl zeigt, wie gut er den Forschungsstand und die relevanten Diskussionen kennt.

Wie schon Reinhart Koselleck sieht Dunkhase in Conzes Wirken eine Mischung von „Tradition und Innovation“: in der struktur- und sozialhistorischen Modernisierung der Volksgeschichte, die freilich eine Tendenz zur Negation individueller Verantwortung besaß, in der begriffsgeschichtlichen Reflexion des traditionellen Historismus sowie im „fortschrittlichen Rückschritt“ von der „Volksgemeinschaft“ zum altliberalen, pflichtbetonten, aber immerhin westernisierten „Ideal des Steinschen Gemeindebürgers“ (S. 258). Darüber hinaus betont Dunkhase jedoch vor allem die „Kontinuitätssicherung“ als zentrale Absicht Conzes, die sich besonders in dem bruchlosen Festhalten an einem positiven Nationsverständnis als zentralem Orientierungsrahmen seiner historiographischen Arbeit manifestierte. Die daraus resultierende Externalisierung des Nationalsozialismus und insbesondere der Judenverfolgung führte zu einem „nationalapologetischen“ Geschichtsbild. Dieses war zwar bis Ende der 1960er-Jahre generell dominant, aber nicht alternativlos, wie Dunkhase abschließend knapp mit dem Hinweis auf die von Fritz Fischer losgetretene „Stellvertreterdiskussion“ über die Julikrise 1914 belegt.

Wohl zu Recht sieht der Autor in Conzes Wirken ein Beispiel für den „Schatten“, der auf die allzu glatte Interpretation der westdeutschen Entwicklung seit 1945 als Erfolgsgeschichte falle (S. 261). Durch die Absage an eine lineare Erzählstruktur gelingt es Dunkhase, Teilaspekte von Conzes Leben und vor allem seiner historiographischen Produktion vorzüglich herauszuarbeiten. Für den „linearen“ Leser ergeben sich aus der Gliederung des Buches indes gelegentlich ermüdende Redundanzen. Zudem gehen Interdependenzen, wie zum Beispiel zwischen Conzes Erfahrung von „1968“ und seiner Haltung zu den Ostverträgen, in der Darstellung etwas unter. Die einer fotografischen Optik nachempfundenen biografischen Perspektiven zeigen vor allem die Immobilität der Hauptfigur scharf, während die umgebende Welt trotz gegenteiliger sozialhistorischer Absichtserklärungen etwas unfokussiert bleibt. Die Studenten, die Schüler des akademischen Lehrers, die Kollegen und Zeitgenossen Conzes – von ihnen gibt es in dieser bewusst konzise gehaltenen Darstellung bestenfalls Schnappschüsse. Doch es gehört zu den zahlreichen Verdiensten von Jan Eike Dunkhases profunder Studie, auch auf die noch ungeöffneten Seiten des Fotoalbums neugierig zu machen.

Anmerkungen:
1 Alexander Cammann, Verfall der Kritik: Lobe deine Schüler, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 30.1.2009, auch online unter <http://www.faz.net/s/RubC3FFBF288EDC421F93E22EFA74003C4D/Doc~E9570B3DBE24B4653A212A22E3FE159E4~ATpl~Ecommon~Scontent.html> (25.5.2010).
2 Thomas Etzemüller, Sozialgeschichte als politische Geschichte. Werner Conze und die Neuorientierung der westdeutschen Geschichtswissenschaft nach 1945, München 2001 (vgl. Manfred Hettling: Rezension zu: Etzemüller, Thomas: Sozialgeschichte als politische Geschichte. Werner Conze und die Neuorientierung der westdeutschen Geschichtswissenschaft nach 1945. München 2001, in: H-Soz-u-Kult, 03.12.2002, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/id=813>).
3 Jan Eckel, Hans Rothfels. Eine intellektuelle Biographie im 20. Jahrhundert, Göttingen 2005 (vgl. Mathias Beer: Rezension zu: Eckel, Jan: Hans Rothfels. Eine intellektuelle Biographie im 20. Jahrhundert. Göttingen 2005, in: H-Soz-u-Kult, 03.05.2006, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2006-2-078>).
4 Christoph Cornelißen, Gerhard Ritter. Geschichtswissenschaft und Politik im 20. Jahrhundert, Düsseldorf 2001 (vgl. Thomas Etzemüller: Rezension zu: Cornelißen, Christoph: Gerhard Ritter. Geschichtswissenschaft und Politik im 20. Jahrhundert. Düsseldorf 2001, in: H-Soz-u-Kult, 24.05.2002, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/TM-2002-008>).
5 Unangemessen selektiv ist daher die Rezension von Rainer Blasius, Elchtest. Werner Conze und der Nationalsozialismus, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 11.5.2010, auch online unter <http://www.faz.net/s/RubA330E54C3C12410780B68403A11F948B/Doc~E9A1731F2D19549A19800CD1183B8D77F~ATpl~Ecommon~Scontent.html> (25.5.2010).

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