M. Rasch (Hrsg.): August Thyssen und Heinrich Thyssen-Bornemisza

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Titel
August Thyssen und Heinrich Thyssen-Bornemisza. Briefe einer Industriellenfamilie 1919–1926


Herausgeber
Rasch, Manfred
Erschienen
Anzahl Seiten
638 S.
Preis
€ 39,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Harald Wixforth, Fachbereich 08 Geisteswissenschaften 2, Universität Bremen

Die historische Forschung lebt vom Zugang zu einer möglichst großen Anzahl an Quellen. Gerade auf dem Gebiet der Unternehmensgeschichte bedurfte es jedoch einiger Anstrengungen, um Archivgut vor der Vernichtung zu bewahren bzw. der historischen Forschung zugänglich zu machen. Daher ist die von Manfred Rasch vorgelegte Edition ein weiterer wichtiger Schritt, Quellen zur Geschichte der Thyssen-Dynastie schnell und problemlos nutzen zu können. Nachdem Rasch bereits 2002 zusammen mit Gerald D. Feldman den Briefwechsel des Konzerngründers und Firmenpatriarchen August Thyssen mit Hugo Stinnes herausgegeben hat1, ist dies nun die zweite umfassende Quellenedition zur Konzern- und Familiengeschichte der Thyssens. Der Briefwechsel zwischen August Thyssen und seinem Sohn Heinrich Thyssen-Bornemisza von 1919 bis 1926 erlaubt nicht nur genaue Einblicke in die Konzerngeschichte nach dem Ende des Ersten Weltkriegs und während der turbulenten Jahre der Nachkriegsinflation, sondern erhellt auch das innerfamiliäre Beziehungsgeflecht in dieser Zeit.

Der eigentlichen Edition vorangestellt ist ein umfassender Beitrag Raschs zur zweiten und dritten Unternehmergeneration der Thyssens sowie zu ihrem Verhältnis zum Familienpatriarchen August Thyssen. Dabei werden einzelne Lebensstationen seines jüngsten Sohnes Heinrich Thyssen-Bornemisza ebenso vorgestellt wie sich langsam entwickelnde Konfliktlinien zwischen Vater und Sohn. Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs und dem Zusammenbruch der Habsburger-Monarchie übersiedelte Heinrich 1919 in die Niederlande und ließ sich in der Nähe Den Haags nieder. Der Vater sorgte sich in dieser Zeit um die gesundheitliche Verfassung seines Sohnes und dessen Familie, erwartete von ihm aber wohl auch, dass er ihm selbst nacheifern, ihm auf seinem Weg als Schwerindustrieller folgen und damit sein Lebenswerk fortführen würde. Heinrich zeigte gerade dazu wenig Ambitionen, was zu Konflikten zwischen Vater und Sohn führte. Nach dem Endes seines Studiums und seiner erfolgreich abgeschlossenen Promotion im Fach Chemie sowie nach Ableistung seines Militärdienstes hatte Heinrich bereits wenig Neigung gezeigt, aktiv und intensiv in der Führung des Thyssen-Konzerns mitzuarbeiten. Nach einem kurzen Intermezzo in London heiratete er die ungarische Baroness Margareta Bornemisza de Kászon und führte bis zum Ende des Ersten Weltkriegs das Leben eines ungarischen Landadeligen.

In den Niederlanden kümmerte sich Heinrich einerseits um die dort ansässigen Thyssen-Betriebe aus den Sparten Handel und Logistik, andererseits machte er sich mit den Usancen des internationalen Bankgeschäfts vertraut und knüpfte zahlreiche persönliche Kontakte in der niederländischen Finanzwelt, die sich nach dem Ende des Ersten Weltkriegs zur wichtigsten Adresse für die Finanzierung der deutschen Industrie entwickelt hatte. Wie nachhaltig Heinrichs Interesse an Finanzgeschäften tatsächlich war, welche Erfolge er als Bankier tatsächlich verbuchen konnte, bleibt noch zu erforschen. Seine Aktivitäten im Bankgeschäft fanden die Zustimmung seines Vaters August, solange sie für den Thyssen-Konzern insgesamt nützlich waren. In den letzten Lebensjahren Augusts boten sie Anlass zur Kritik des Vaters, der seinem Sohn mehrfach vorwarf, nur noch ein Banker und kein wirklicher Industrieller mehr zu sein.

Nach dem Tode seines Vaters stand Heinrich Thyssen-Bornemisza vor großen Herausforderungen: Die Handels- und Logistikunternehmen unter seinem Einfluss sollten ebenso wie einige deutsche Werften und Maschinenbaubetriebe nicht in die Vereinigten Stahlwerke eingebracht werden, die sich zu diesem Zeitpunkt im Gründungsstadium befanden. Schnell stellte sich jedoch heraus, dass gerade diese Betriebe mit erheblichen Verlusten rechnen mussten, falls der alte Thyssen-Konzern zerschlagen würde. Heinrich wandte sich daher entschieden gegen die Errichtung der Vereinigten Stahlwerke, konnte sich jedoch nicht durchsetzen. Er sah sich daher mit dem Problem konfrontiert, aus einer Anzahl unterschiedlicher Firmen aus verschiedenen Sparten in Deutschland und in den Niederlanden einen Firmenverbund mit neuen organisatorischen Strukturen und einer gemeinsamen unternehmerischen Strategieplanung schaffen zu müssen. Die August-Thyssenschen Unternehmungen des In- und Auslandes sollten zunächst die Funktion einer Holdinggesellschaft übernehmen, später wurde diese Aufgabe verschiedenen Firmen in den Niederlanden übertragen. Bis zum Zweiten Weltkrieg bildeten die unter Heinrichs Einfluss stehenden Betriebe jedoch weiterhin eher einen lockeren Firmenverbund als einen straff organisierten Konzern. Heinrich selbst übertrug während der 1930er-Jahre immer mehr Führungsaufgaben und Leitungskompetenzen an seine Direktoren und widmete sich selber eher dem Aufbau einer großen Kunstsammlung.

Die vorliegende Quellenedition umfasst 215 Schriftstücke mit zahlreichen Anmerkungen, wobei der größte Teil der Briefe von August Thyssen an seinen Sohn Heinrich gerichtet ist. Diese Korrespondenz stammt im Wesentlichen aus den Jahren 1919 bis 1925 und wird ergänzt durch neun Briefe aus dem Jahre 1926 sowie durch das Testament August Thyssens vom 26. März 1926. In der Korrespondenz spiegeln sich zum einen die persönlichen Auseinandersetzungen zwischen Vater und Sohn wider, zum anderen die Konflikte über die Art der Konzern- und Unternehmensführung während der deutschen Nachkriegsinflation und der „Stabilisierung der Mark“ 1924/25. Einen dritten Schwerpunkt bilden die Beziehungen zu anderen Unternehmen und ihren Leitern sowie zu diversen Entscheidungsträgern aus Politik und Wirtschaft.

Der Briefwechsel erlaubt damit einen umfassenden Blick in die familiären Strukturen der Thyssens, bietet aber auch eine Fülle von Informationen zu verschiedenen Aspekten der Konzernentwicklung in der ersten Hälfte der 1920er-Jahre. Er dokumentiert anschaulich, wie eng familiäre Probleme mit der Unternehmensgeschichte verbunden waren. Besonders deutlich wird dies anhand der wachsenden Verärgerung und Enttäuschung Heinrich Thyssen-Bornemiszas darüber, dass der alte Thyssen-Konzern 1926 aufgelöst und zu großen Teilen in die Vereinigten Stahlwerke überführt wurde. In dem in der Edition abgedruckten letzten Brief an seinen Vater schrieb er etwa: „Für mich und meine Familie mit männlichen Nachkommen liegt darin das Tragische, als Umstände, Verhältnisse und Schicksal es mir nicht erlaubten, Deine großen Anfangsschöpfungen weiter so in dem Sinne fortzuführen, wie Du sie uns vor Jahren übergabest.“ (S. 437)

Die Edition wird ergänzt durch einen ausführlichen Sach- und Personenkommentar und durch ein präzises Register, sodass der Leser zu zahlreichen Personen, Firmen, Verbänden und politischen Institutionen weitere hilfreiche Hinweise erhält. Sie erlaubt einen detaillierten und facettenreichen Einblick in das Innenleben der Industriellenfamilie Thyssen während der Zeit von 1919 bis 1926. Damit ist sie ein ausgesprochen wertvoller Fundus für alle Unternehmenshistoriker, die sich mit der Entwicklung von Schlüsselbranchen der deutschen Wirtschaft in diesen Jahren beschäftigen. Aber auch für die familiengeschichtliche Forschung, für die Kulturgeschichte und selbst die Bürgertumsforschung bietet dieser Quellenband eine solche Fülle an Material, dass er für kommende Arbeiten zu diversen Aspekten aus diesen Forschungsfeldern unverzichtbar ist.

Anmerkung:
1 Manfred Rasch / Gerald D. Feldman (Hrsg.), August Thyssen und Hugo Stinnes. Ein Briefwechsel 1898-1922, München 2002.

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