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Titel
Der Infant von Parma. Oder: Die Ohnmacht der Erziehung


Autor(en)
Badinter, Elisabeth
Erschienen
München 2010: C.H. Beck Verlag
Anzahl Seiten
143 S.
Preis
€ 17,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Hans-Ulrich Musolff, Fakultät für Erziehungswissenschaft, Universität Bielefeld

Diese biographische Studie der Jugend und der ersten zehn Jahre der Regierung Herzog Ferdinands von Parma (geboren 1751, gestorben 1802) erhebt den Anspruch, den aufklärerischen Erziehungsoptimismus zu erschüttern, ja sogar die Aufklärungsphilosophie insgesamt oder wenigstens den Vernunftglauben der Enzyklopädisten einer gründlichen Prüfung zu unterziehen. In fünf Kapiteln werden die Kindheit, die Jugend, der Beginn der Regierung Ferdinands, die daraufhin einsetzende Kritik an seiner Regierung und abschließend die persönlichen Marotten und die erfolglose Politik des Herzogs geschildert. Breiteren Raum nimmt dabei die Darstellung seiner Jugend ein.

Von 1758 bis 1765 wirkte der französische Aufklärungsphilosoph Étienne Bonnot Abbé de Condillac als Hauslehrer des Prinzen in Parma. Badinter schildert im zweiten Kapitel anschaulich die illusionären Forderungen, die der Abbé de Condillac an das Auffassungsvermögen, das Abstraktionsvermögen und die Ausdauer seines gutmütigen Zöglings stellte. Aus Badinters Darstellung geht hervor, dass sich Condillac nicht an die in seinem Essai sur l’origine des connaissances humaines (1746) aufgestellten pädagogischen Regeln gehalten hat. Badinters subtile Analysen verdeutlichen den Zusammenhang der ständigen intellektuellen Überforderung des Knaben durch Condillac mit den radikalen empiristischen Annahmen dieses Philosophen über den Erwerb der Verstandeskräfte. Badinter enthüllt auch die Komplizenschaft Condillacs mit dem pädagogisch unerfahrenen Hofmeister, der den Knaben fortgesetzt brutal körperlich misshandelte. Dieses zweite Kapitel, das Archivalien benutzt, die in Paris, Parma und Wien aufbewahrt werden, stellt den Höhepunkt der Enthüllungen in Badinters Studie dar.

In der gut lesbaren, multiperspektivischen Interpretation der gründlich ausgewerteten Quellen liegt die Stärke dieser Studie. Prägnant charakterisiert Badinter im dritten Kapitel die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen im Herzogtum Parma und die politischen Akteure im Spannungsfeld zwischen den Großmächten Frankreich und Österreich. Nuanciert werden dabei die Widersprüche zwischen einerseits der propagandistischen Darstellung angeblich glänzender Erziehungserfolge des Hauslehrers Condillac und andererseits der auch nach den pädagogischen Maßstäben der Zeit misslungenen Erziehung entfaltet. Badinter deutet das sprunghafte, provokante und niederträchtige Verhalten des Herzogs, der – mündig geworden – sogleich die Regierungsgewalt an sich zu ziehen versuchte, als Revanche des Zöglings an seinen aufgeklärten Erziehern.

Im vierten Kapitel wird die Weigerung Condillacs dargestellt, Verantwortung für das enttäuschende Ergebnis seiner siebenjährigen hoch dotierten Erziehungstätigkeit zu übernehmen. Condillacs Cours d’études pour l’instruction du prince de Parme (1775), der die Metaphysik aus dem Lehrplan eliminierte1 und die empirischen Wissenschaften bevorzugte, liest Badinter in diskreter Weise als Zeugnis seiner Unaufrichtigkeit und Verantwortungslosigkeit. Die theoretischen Konsequenzen aus dem Misslingen dieser empiristischen Pädagogik zu ziehen, bleibt in Badinters Darstellung Diderot vorbehalten (vgl. S. 103 f.).

Da das Scheitern dieser Fürstenerziehung von den Zeitgenossen bereits breit kommentiert wurde, erscheint die eingangs von Badinter fingierte Offenheit des Erfolgs dieses Experiments als ein etwas irreführender erzählerischer Kunstgriff. Badinter benötigt die anfängliche Erwartung eines gelingenden aufklärerischen Erziehungsexperiments, um die Darstellung der in der Praxis scheiternden Aufklärungsphilosophie Condillacs spannend zu gestalten. Doch der um eine begriffliche Klärung bemühte Schluss überzeugt mit seiner zum Teil hypostasierenden, zum Teil vereinfachenden Begrifflichkeit wenig. Ungeachtet neuerer Forschungen zur Professionalisierung der Erziehung im späten 17. und im 18. Jahrhundert vertritt Badinter noch die These einer direkten Abhängigkeit der Erziehung von der Philosophie. Viel überzeugender als in ihren apodiktisch formulierten Schlussfolgerungen ist Badinters Studie, solange sie die Ambivalenzen des Erziehungsversuchs und des bedauernswerten Zöglings darstellt, dem es nie gelungen ist, einen rationalen Charakter zu bilden.

Der deutsche Untertitel „Die Ohnmacht der Erziehung“ suggeriert einen Anspruch auf Allgemeingültigkeit, den die Argumentation Badinters nicht einlöst. Ein angemessenerer Untertitel wäre gewesen: ‚Wie falsche Erziehungsmethoden und überzogene Ansprüche das Erziehungsziel der Aufklärung verfehlten‘. Lesenswert ist Badinters Studie als Nachweis der sorgfältig verborgenen Schattenseite von Condillacs empiristischer Pädagogik. Da Condillac keinen Einfluss auf die deutsche Pädagogik hatte, ist der Enthüllungswert ihrer Studie hierzulande jedoch geringer als in Frankreich und in der Schweiz.

Der handliche kleine Band ist geschmackvoll mit sieben schwarz-weißen Porträts einiger Hauptpersonen ausgestattet. Ein Register fehlt.

Anmerkung:
1 Étienne Bonnot Abbé de Condillac, Cours d'Etudes pour l'Instruction du Prince de Parme, Paris 1947, S. 398.

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