Sozial-, Wirtschafts- oder Alltagsgeschichte der Städte im Sozialismus gehört nicht gerade zu den bevorzugten Forschungsrichtungen. Aber hier liegt eine gelungene und überzeugende Zusammenstellung vor, die von zahlreichen Fällen städtischer Selbstbehauptung, kommunaler Ressourcensicherung und netzwerkartiger Kooperation jenseits formeller Hierarchien berichtet. Zu dem 2003 von Adelheid von Saldern herausgegebenen Band „Inszenierte Einigkeit. Herrschaftsrepräsentationen in DDR-Städten“1 liefert diese Ausgabe eine wertvolle Ergänzung und Erweiterung. Sie ist hervorgegangen aus der Kooperation der beiden führenden stadtgeschichtlichen Institutionen in Berlin und Brandenburg, der Technischen Universität Berlin, Arbeitsstelle für europäische Stadtgeschichte und dem Institut für Regionalentwicklung und Strukturplanung Erkner, in einem VW-Projekt.2
In der Einleitung begründen die Herausgeber ihren neuen Blick auf die Stadtentwicklung im Sozialismus, indem sie sich von den drei bisher dominierenden Sichtweisen abheben: der Konzentration auf die zentralstaatliche Ebene, der Fokussierung auf planungs- und baugeschichtliche Aspekte und der weitgehenden Beschränkung auf die ostdeutsche Seite. Dagegen setzen sie einen Perspektivenwechsel, der insbesondere der räumlich-sozialen, regionalen und städtischen Dimension zum Ausdruck verhilft. Im zugrunde liegenden Forschungsprojekt ging es darum: „1. die Handlungsspielräume und -zwänge der Kommunalpolitik, ihre wesentlichen Akteure und Netzwerke zu identifizieren und zu analysieren; 2. die Konzepte und Entwicklungskorridore der Stadtplanung und -entwicklung darzustellen, wiederum mit einem Fokus auf die Handlungszusammenhänge, und 3. die Bildung und Erosion vom Legitimationsressourcen des Systems in den Feldern von Alltag und Öffentlichkeit zu rekonstruieren“ (S. 8). Jenseits totalitarismustheoretischer Engführungen geht es Herausgebern wie Beiträgern darum, die inneren Widersprüche, sozialen und funktionalen Differenzierungen und gesellschaftlichen Eigendynamiken, eben auch die sozialkulturellen Bindungskräfte des Systems, herauszuarbeiten. Der Band ist in drei selbständige Kapitel mit weitgehend unabhängigen Aufsätzen gegliedert. Hervorhebenswert ist die Einbeziehung der internationalen Perspektive in Form von polnischen, tschechischen und sowjetischen Stadtgeschichten.
Im ersten Kapitel „Kommunen zwischen zentralstaatlichen Zwängen und lokalen Handlungsressourcen“ beschäftigt sich Carsten Behnke mit den Grenzen und Spielräumen der Kommunalpolitik in der DDR am Beispiel der Industriestadt Ludwigsfelde; Frank Betker stellt die kommunalen Büros für Stadtplanung in der DDR als ein „Unikum im Zentralismus“ vor; Albrecht Wiesner stellt unter der Fragestellung „Gestalten oder Verwalten?“ Überlegungen zum Herrschaftsanspruch und Selbstverständnis sozialistischer Kommunalpolitik im letzten Jahrzehnt der DDR an; und Dagmara Jajesniak-Quast beschreibt einen „lokalen Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe“ zwischen Eisenhüttenstadt, Kraków Nowa Huta und Ostrava Kuncice. Im zweiten Kapitel „Stadtplanung zwischen sozialistischen Visionen und defizitärer Urbanisierung“ analysiert Thomas Wolfes Stadtplanung in der DDR am Fallbeispiel Rostock zwischen 1945 und 1989/90; Brigitte Raschke geht auf Visionen und Realitäten in und bei der Entwicklung der Bezirksstadt Neubrandenburg ein; Rüdiger Stutz entwickelt ein Bild von „Technopolis: Jena als Modellstadt der späten Ulbricht-Ära“; und Ivan Nevzgodin stellt die Stadtplanung in sibirischen Städten nach 1945 dar. Im dritten Kapitel „Alltag und Öffentlichkeit in der sozialistischen Stadtgesellschaft“ schildert Adelheid von Saldern Alltage und Öffentlichkeiten in DDR-Städten an ausgewählten Beispielen; Philipp Springer erläutert die Bedeutung des Konsums für die Herrschaftslegitimation, das städtische Selbstverständnis und den kommunalen Alltag in Schwedt/Oder; Lu Seegers verfolgt die Alltags- und Festkultur der 1960er-Jahre in der DDR vor allem im Zusammenhang mit der Ostsee-Woche in Rostock; und Lukasz Stanek benennt die Produktion des städtischen Raums durch massenmediale Erzählpraktiken am Fall von Nowa Huta.
In ihrer Bilanz fassen die Herausgeber die Ambivalenzen sozialistischer Stadtpolitik und Urbanität zwischen Herrschaft und Selbstbehauptung noch einmal zusammen: Sie umreißen die Stellung der Stadt im DDR-Sozialismus, die Positionen der Kommunalpolitik zwischen hierarchischer Randstellung und Herrschaftsanspruch sowie der Betriebe als „Ersatzanbieter“ städtischer Leistungen. Sie gehen auf die Stadtplanung zwischen Ressourcensicherung und Moderation ein, auf kommunale Netzwerke, lokale Alltage bzw. Öffentlichkeiten und sozialistische Zeitlogiken. Als wesentliche Strukturmerkmale des sozialistischen Stadttyps gelten ihnen die „Einbindung in die zentral planende Wirtschaftspolitik und Verwaltungshierarchie und in eine kollektive Boden- und Eigentumsordnung. Daraus ergaben sich eine besondere, nicht-kapitalistische Stadtgestalt mit charakteristischen Bau-, Flächen- und Raummustern, eigene Formen sozialer Schichtung und räumlicher Verteilung der Stadtbevölkerung (wie z.B. eine relativ ausgeglichene Sozialstruktur, schwache Segregation) sowie eigene Formen von Urbanität und Alltagskultur“ (S. 313). Freilich kam das „einmalige, unverwechselbare Gesicht“ der sozialistischen Stadt mit eigener Lebensqualität und eigener Urbanität nicht zustande. Die historischen und gesellschaftlichen Gründe hierfür sowie die Widersprüche und Divergenzen zwischen politischem Anspruch und kommunaler Entwicklung sind in diesem wertvollen und gut komponierten Band nachzulesen.
Anmerkungen:
1 vgl. Thomas Wolfes: Rezension zu: von Saldern, Adelheid (Hrsg.): Inszenierte Einigkeit. Herrschaftsrepräsentation in DDR-Städten. Stuttgart 2003, in: H-Soz-u-Kult, 29.04.2004, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2004-2-071> (03.11.2010).
2 vgl. Tagungsbericht Staedte im Sozialismus. 06.02.2004-07.02.2004, Berlin, in: H-Soz-u-Kult, 12.02.2004, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/tagungsberichte/id=391> (03.11.2010).