Die Studentenbewegung und die Ereignisse um 1968 werfen auch nach dem Abflauen der Jubiläumsaktivitäten von 2008 weiter Schatten in die zeithistorische Forschung. Darüber hinaus kommen die politischen, kulturellen und sozialen Umbrüche der 1970er- und 1980er-Jahre zunehmend in den Blick. Diesem Trend folgen auch Sven Reichardt und Detlef Siegfried in einem neuen Sammelband, der auf eine Tagung von 2008 in Kopenhagen zurückgeht.1 Im Zentrum des Bandes steht das „alternative Milieu“; die beiden Herausgeber wollen dessen soziale und politische Kultur sowie dessen transformatorische Rolle in der bundesrepublikanischen Gesellschaft untersuchen. Die konkrete Größe dieses Milieus bleibt schwer bestimmbar: Mit Verweis auf Umfrageergebnisse sprechen die Herausgeber in ihrer Einleitung von etwa 80.000 Aktivisten im Jahr 1980 und zahllosen Sympathisanten (S. 12f.).
Ein großer Gewinn ist es, dass zunächst auf einer allgemeineren Ebene versucht wird, das alternative Milieu definitorisch zu fassen. Mit Michael Vester und Dieter Rucht liefern zwei Experten für die Forschungen zu Protestbewegungen und Milieus einen konzisen Überblick. Rucht grenzt das alternative Milieu von vermeintlich ähnlichen Phänomenen wie der sozialen Bewegung oder der Sub- bzw. Gegenkultur ab. Ein Milieu ist nach Rucht ein „Konglomerat von Menschen, Gruppen, Orten, Institutionen und Infrastrukturen, die durch physische und symbolische Präsenz einen bestimmten sozialen Raum markieren“ (S. 65). Als alternatives Milieu versteht er im vorliegenden Zusammenhang das „Netzwerk von Individuen, Gruppen und Infrastrukturen mit einer [...] links-libertären Orientierung, das sich [...] ab den späten 1960er und frühen 1970er Jahren entwickelte“ (S. 68). Der Gegensatz beispielsweise zu den Neuen Sozialen Bewegungen aus dieser Zeit besteht nach Rucht darin, dass Milieus schon durch die Existenz ihrer kulturellen und sozialen Projekte und Auffassungen konstituiert werden, die sozialen Bewegungen aber erst durch die gezielte Ansprache des öffentlichen politischen Raums.
Misst man die folgenden, insgesamt 19 Beiträge des Sammelbandes an diesen Definitionen, wird deutlich, dass sich einige mehr, andere weniger in die skizzierte Unterscheidung einordnen lassen. Der große Mehrwert des Bandes liegt darin, dass er nach der konzeptionellen Einordnung ein breites Feld an Ausformungen, Akteuren und Agenden des alternativen Milieus vorstellt und damit die große Varianz dieser Bewegung nachzeichnet: Die Beispiele reichen von Tourismus über Popkultur oder Drogenkonsum bis hin zu Sexualität, Religion oder Umweltschutz.
Eine gelungene Fallstudie zur Besetzung von Bedeutungsräumen im alternativen Milieu ist der Beitrag von Anja Bertsch über den Tourismus. Alternativ Reisende wollten sich von der Massenreisekultur absetzen und suchten nach individuelleren Reisepraktiken. Doch spätestens in den 1980er-Jahren kam es zu einer „Vermassung“ der alternativen Praktiken, zu heftigen Diskussionen darüber und zur Suche nach neuen Akten der Selbstvergewisserung innerhalb des Milieus. Der damit verbundene Spagat zwischen einer Kommerzialisierung alternativer Praktiken und einem intellektuellen Anspruch des Milieus wird auch in Elizabeth Heinemans Beitrag über den linken Verleger Jörg Schröder und dessen Beteiligung an pornographischen Produkten sehr deutlich.
Überaus lesenswert ist Jens Ivo Engels’ Aufsatz zur Entstehung des Umweltschutzes und der damit verbundenen Alternativbewegung. Der Autor kann zeigen, dass sich das alternative Milieu mit dem Umweltschutz eines Konzeptes annahm, das bis etwa Anfang der 1970er-Jahre nicht als linkes oder alternatives Projekt galt, sondern von Technikern, Planern und konservativen Bildungsbürgern als regierungsamtliche Aufgabe verfolgt wurde. Engels zeichnet nach, wie der Umweltschutz dann von „kritischen Kräften gekapert“ wurde (S. 421) – insbesondere dadurch, dass der Begriff der „Ökologie“ in die Debatte eingebracht wurde. Zudem nahm sich die alternative Umweltbewegung der Konsumkritik an und machte Vorschläge zu einem partiell veränderten Konsumverhalten.
Auch in anderen Texten wird deutlich, dass alternative Gruppierungen selten einheitlich zu fassen sind. Besonders ergiebig sind deshalb diejenigen Beiträge, die sich nicht auf ein inhaltliches oder thematisch geformtes Teilgebiet des alternativen Milieus beschränken, sondern gruppenübergreifende Prozesse nachzeichnen. Sehr überzeugend gelingt dies Uta G. Poiger in ihrem Aufsatz über den Zusammenhang von Kosmetik, Feminismus und Punk. Gemeinsam war den beiden letzteren Strömungen des alternativen Milieus laut Poiger, dass sie die zeitgenössischen Schönheitsideale zur Diskussion stellten und sich dabei unter anderem an der Frage des Gebrauchs von Kosmetika abarbeiteten.
Aber nicht alle Beiträge lassen einen klaren Milieu-Begriff erkennen und folgen Ruchts einleitender Unterscheidung zwischen alternativem Milieu und Neuen Sozialen Bewegungen. So zeichnet Wilfried Mausbach zwar durchaus interessant nach, wie sich aus der Studentenbewegung und unter Einsatz einiger der Hauptaktivisten die von ihm als „Drittweltismus“ beschriebene Solidaritätsbewegung entwickelte, aber inwiefern diese Gruppierungen ein gemeinsames, kulturell prägendes Konzept im Sinne des Milieus ausdrückten oder besser als soziale Bewegung zu bezeichnen sind, bleibt offen. Auch der Text von Manuela Bojadžijev und Massimo Perinelli über migrantische Lebenswelten führt zu keiner klaren Abgrenzung – der Beitrag erweckt den wohl etwas irreführenden Eindruck, als hätten Migrantinnen und Migranten zwar mit individuellen Erfahrungen, aber doch als eine Gruppe mit gemeinsamen politischen Zielen mehrheitlich dem alternativen Milieu angehört und dieses sogar ausgebildet.
Ilse Lenz’ Aufsatz zum „Verhältnis von Frauenbewegung und alternativem Milieu“ trägt ebenfalls nicht zu einer Klärung der Ebenen von alternativem Milieu und Neuen Sozialen Bewegungen bei. Die Autorin führt neue Begriffe in die Debatte ein und spricht beispielsweise von einer „Semiöffentlichkeit“, in der die Frauenbewegung agiert habe und die sich von einer „allgemeinen politischen Öffentlichkeit“ unterscheide (S. 375). Letztlich reproduziert Lenz damit die Trennung von privaten (und meist weiblichen) sowie politischen (und von Männern beanspruchten) Themen, wie sie gerade von der Frauenbewegung kritisiert wurde.
Der Untertitel des Sammelbandes („Antibürgerlicher Lebensstil und linke Politik in der Bundesrepublik Deutschland und Europa 1968–1983“) legt nahe, dass Elemente des alternativen Milieus auch länderübergreifend thematisiert werden. Tatsächlich geschieht das nur in wenigen Beiträgen, aber diejenigen Texte, die eine komparative oder zumindest in Teilen über die bundesdeutschen Grenzen hinausgehende Perspektive einnehmen, sind gewinnbringend. So schildert Detlef Siegfried die „Dänemark-Wahrnehmungen im westdeutschen Alternativmilieu“, die von der Vorstellung einer großen Liberalität beim nördlichen Nachbarn geprägt waren. Zugleich kann Siegfried zeigen, dass bei konkreten Projekten wie dem „Freistaat Christiania“ nach einer Phase der begeisterten Beteiligung deutscher Aktivisten angesichts der alltäglichen Lebensumstände Ernüchterung eintrat.
Ebenso gelungen ist Klaus Weinhauers Beitrag zu den Heroinszenen in der Bundesrepublik und in Großbritannien während der 1970er-Jahre. Weinhauer untersucht sowohl die Alltagspraktiken in der Szene als auch die Einflüsse der staatlichen Drogenpolitik. Er kann zeigen, dass die bundesdeutsche Szene sowie deren öffentliche Wahrnehmung stärker als in Großbritannien vom „Junkie-Typ“ und von gewaltvollen sozialen Beziehungen geprägt waren. Detaillierte Vergleiche wie in diesem Fall verweisen darauf, dass das alternative Milieu durchaus nationsspezifische Charakteristika hatte; die Bewertung als ein lediglich transnationales Phänomen würde solche Besonderheiten verwischen. Zugleich zeigen aber andere Beiträge wie derjenige von Belinda Davis, dass insbesondere bei Frauen und jungen Mädchen Einflüsse aus Reisen und Auslandsaufenthalten einen großen Einfluss auf die Formierung und Gestaltung des alternativen Milieus in der Bundesrepublik hatten.
Insgesamt bildet der Sammelband in gelungener Weise das breite Spektrum des alternativen Milieus ab und kann spannende Einblicke in Gebiete geben, die teilweise von der Forschung noch nicht betreten worden sind. Der Bezug auf ein gemeinsames Konzept vom alternativen Milieu oder zumindest ein stärkerer Rahmen der Beiträge hätte die Abgrenzung vor allem von den Neuen Sozialen Bewegungen noch deutlicher machen können. Doch letztlich spiegelt die Offenheit der zugrunde liegenden Analysekategorie auch die Vielfalt des Untersuchungsfeldes wider. So können weitere Detailstudien und konzeptionelle Überlegungen auf den Ergebnissen des Sammelbandes aufbauen.
Anmerkung:
1 Vgl. den Bericht von Uwe Sonnenberg: The Alternative Milieu. Unconventional Lifestyles and Left-wing Politics in Western Germany and Europe 1968-1983. 19.09.2008-21.09.2008, Kopenhagen, in: H-Soz-u-Kult, 09.10.2008, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/tagungsberichte/id=2281> (08.03.2011).