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Titel
Jenseits der Metropolen. Öffentlichkeit und Lokalpolitik im Gouvernement Saratov (1890–1914)


Autor(en)
Bönker, Kirsten
Reihe
Beiträge zur Geschichte Osteuropas 45
Erschienen
Köln 2010: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
508 S.
Preis
€ 64,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Klaus Richter, Forschungsprojekt "Antisemitismus in Europa 1879-1914", Zentrum für Antisemitismusforschung, Technische Universität Berlin

Der Zustand gesellschaftlicher Entwicklung im späten Zarenreich wurde in der Forschung häufig in düsteren Farben gezeichnet. Die Autokratie habe das Entstehen von Opposition und Zivilgesellschaft weitgehend verhindert, was nicht selten als Erklärung für heutige Probleme in der russischen Gesellschaft herangezogen wird. Studien, die sich mit zivilgesellschaftlichen Ausprägungen auf lokaler Ebene beschäftigen, haben diese These in den letzten Jahren relativieren können.1 Auch Kirsten Bönker nähert sich in ihrer Dissertation Politik und Zivilgesellschaft auf lokaler Ebene. Zunächst widmet sie sich dabei den Manifestationen zivilgesellschaftlicher Handlungsweisen in den Jahren von 1890 bis 1914 sowie den von der zarischen Administration gezogenen Grenzen gesellschaftlicher Partizipation, um anschließend die politischen Aushandlungen zwischen Zivilgesellschaft und Staatsmacht zu untersuchen. In ihrer kulturgeschichtlichen Untersuchung wählt sie hier einen Begriff der Zivilgesellschaft, der bewusst offen gefasst ist und die Akteure und ihre Handlungen in den Vordergrund stellt.

In der vergleichend angelegten Studie untersucht Bönker die Frage nach zivilgesellschaftlichen Handlungsweisen am Beispiel von drei Kreisstädten im Gouvernement Saratow und lenkt somit den Blick weg von den Metropolen Moskau und St. Petersburg und den Gouvernementsstädten. Die Auswahl der Kreisstädte umfasst die provinzielle Kleinstadt Balaschow, das größere und deutlich reichere Wolsk sowie die industrielle Boom-Großstadt Zarizyn (heute Wolgograd), die in ihrer sozialen Struktur und ihren wirtschaftlichen Entwicklungen beträchtliche Unterschiede aufwiesen. Den Auswirkungen dieser Differenzen auf die Fremd- und Selbstwahrnehmung der Städte widmet Bönker ihr erstes Kapitel. Balaschow galt als kleines, schmuckloses Städtchen, bewohnt von einer größtenteils armen, hart arbeitenden Bevölkerung. Im Vergleich waren Bildungsniveau und Wirtschaftsleistung in den größeren Städten Wolsk und Zarizyn deutlich höher. Wolsk galt als besonders wohlhabend und fortschrittlich. In Zarizyn hielten sich Licht- und Schattenseiten einer großen Industriestadt die Waage. Einerseits galt die Wolgametropole als sehr zukunftsträchtig, andererseits wurde sie als schmutziger und grauer Moloch wahrgenommen, der massenhaft Arbeitsmigranten anzog.

Im zweiten Kapitel wird der Kreis der zivilgesellschaftlichen Akteure konkretisiert, indem die Sozialstruktur der städtischen Selbstverwaltung einer genauen Untersuchung unterzogen wird. Die Stadtduma, die laut Bönker neben der ländlichen Selbstverwaltung (Semstwo), der Presse und den Vereinen eine „zentrale Rolle als Kommunikationsknoten im öffentlichen Raum“ (S. 63) einnahm, wurde zwar bis zum Ersten Weltkrieg von der Zensusgesellschaft dominiert, unterlag aber insbesondere ab 1905, als deutliche Kritik an ihr geäußert wurde, einer gewissen Dynamisierung. Jedoch wurden auch nach der Revolution Abgeordnete weiterhin aufgrund ihres Prestiges als Honoratioren gewählt und nicht aufgrund ihrer politischen Ausrichtung.

Der Verdichtung des öffentlichen Raumes durch lokalpolitisches Handeln widmet Bönker ihr drittes Kapitel. Mit der Reform der Selbstverwaltung von 1864/70 hatte die Autokratie Räume für politisches Handeln geschaffen. Ausgehend von der Annahme, dass die Grenzen des politisch Sag- und Machbaren nicht nur durch die Zensur, sondern auch durch gesellschaftliche Konventionen gezogen wurden, untersucht Bönker die Verschiebung und Ausweitung dieser Grenzen und weist nach, dass sich die Lokalpolitiker keineswegs auf reine Verwaltungsfragen beschränken ließen. Obwohl das Interesse vieler Abgeordneter an der Lokalpolitik verhältnismäßig gering blieb, fand doch ein permanenter Aushandlungsprozess auf Kosten des Staates statt: „Die negative Publizität für staatliches Handeln durch eine kritische Öffentlichkeit, die sich so entfalten konnte, konnte der Staat nicht mehr unterbinden“ (S. 216). Bezüglich der Themen, die in der Lokalpolitik aufgegriffen wurden, stellt Bönker im folgenden Kapitel fest, dass soziopolitische und infrastrukturelle Aufgaben im Mittelpunkt der Debatten standen, insbesondere die Verbesserung der Daseinsvorsorge, der Hygiene und des Bildungssystems. Bönker hält zugleich fest, dass Partikularinteressen in der Stadtduma zwar weiterhin eine große Rolle spielten, andererseits aber „eine zunehmende Gemeinwohlorientierung“ (S. 287) entstand. Die Grenzen zwischen sozialen Statusgruppen in den Selbstverwaltungsversammlungen verwischten zusehends, womit Konflikte zwischen den Abgeordneten immer weniger sozialen Differenzen und Eigeninteressen geschuldet waren.

Da sich in der Revolution von 1905/06 wichtige Aspekte des Aushandelns von politischer Partizipation und Öffentlichkeit zwischen Gesellschaft und Autokratie manifestieren, widmet Bönker ihr ein ganzes Kapitel. Hier konzentriert sie sich insbesondere auf Balaschow. Im Gegensatz zur konservativ geprägten Stadtduma war dort die ländliche Selbstverwaltung ein Hort progressiver, liberaler Akteure. Die politische Spaltung der Gesellschaft fand ihren Höhepunkt während der Revolution in massiver Gewaltagitation der Ultranationalisten und Übergriffen der bäuerlichen Bevölkerung auf Selbstverwaltungsmitglieder. Letztlich führte dies auf Seiten der desillusionierten Liberalen nach 1905 zu einem Vertrauensverlust in Pjotr Stolypin auch über dessen Amtszeit als Saratower Gouverneur hinaus.

Aufgrund der Annahme, dass die gesellschaftliche Selbstorganisation eine Manifestation der Zivilgesellschaft darstellt, untersucht Bönker im Anschluss die Frage nach dem Ausmaß der Debatten- und Entscheidungskultur, die das Vereinswesen entwickelte. Sie kommt dabei zu dem Schluss, dass wohltätige Vereine durchaus in die Sphäre des Politischen vordrangen, indem sie einerseits neue Themen prägten und andererseits in den Selbstverwaltungen geführte Debatten aufgriffen. Wurden politische Interessen nicht offen geäußert, genossen die Vereine relativ weitgehende Organisationsfreiheit. Bönker stellt zudem fest, dass innerhalb der Vereine ständische Zuschreibungen hinter dem Vereinsziel zurücktraten. Abschließend untersucht Bönker die provinzielle Presselandschaft als wichtigstes Ausdrucksmittel der öffentlichen Meinung. Gerade die aufgrund der schwachen Entwicklung politischer Parteien relativ hohe Eigenständigkeit der Presse habe diese zu einem „parteipolitischen Ersatzforum“ (S. 442) gemacht, das sich insbesondere nach 1905 rasch entwickelte. Dies galt allerdings nur für die größeren Kreisstädte – in den kleineren und mittleren hingegen blieben die Zeitungen gegenüber der Verwaltung schwach.

Resümierend stellt Bönker fest, dass die Kreisstädte von ihrer räumlichen Entfernung zu den Hauptstädten insofern profitieren konnten, als dass sie unter geringerer Beobachtung standen und so weniger leicht in politische Konflikte mit der Autokratie gerieten. Die Formierung und Politisierung der lokalen Gesellschaft wurde dadurch gefördert. Zugleich war ihr Anteil mit vier bis fünf Prozent der Gesamtbevölkerung höher als bisher angenommen (im Vergleich zum Deutschen Reich jedoch immer noch gering). Laut Bönker hatte sich die lokale Gesellschaft nach 1905 als meinungsbildendes Korrektiv zum autokratischen Staat etabliert, was auch durch den Putsch von 1907 und den Rechtsruck vieler Stadtdumas 1910 nicht rückgängig gemacht werden konnte. Bis in den Ersten Weltkrieg hinein blühten Presse- und Vereinswesen. Zugleich zeige sich aber, so Bönker, „dass zivilgesellschaftliches Handeln bis 1917 keine durchschlagende Nachhaltigkeit erlangte“ (S. 444). Dennoch hätten sich „zivilgesellschaftliche Strukturen auf lokaler Ebene breiter verwurzelt als bisher vermutet worden ist“ (S. 452).

Die im Kontext des Bielefelder Forschungsprojektes „Das Politische als Kommunikationsraum“ entstandene Arbeit leistet einen wertvollen Beitrag zur Kulturgeschichte des Politischen, indem sie, wie von Thomas Mergel gefordert, eine dichte Beschreibung der Lokalpolitik liefert und „nichts für selbstverständlich“ nimmt.2 Dabei kommt sie zu dem Schluss, dass der Bezug der Lokalpolitik auf die Stadt eine integrative Wirkung hatte, da er half, soziale, politische und teilweise auch religiöse Gegensätze zu überbrücken. Bei der Lektüre von Bönkers Dissertation ergibt sich – wie auch in Joseph Bradleys neuer Studie zum Vereinswesen im Zarenreich – das Bild einer Zivilgesellschaft im Entstehungsprozess.3 Dieser wurde zwar durch den stark ausgeprägten Zentralismus und einen Mangel an Rechtssicherheit gehemmt, erhielt aber auf lokaler Ebene, bedingt durch die Freiräume, die die Distanz zum Zentrum der Macht bot, eine beträchtliche Dynamik.

Anmerkungen:
1 Siehe u.a.: Guido Hausmann (Hrsg.), Gesellschaft als lokale Veranstaltung. Selbstverwaltung, Assoziierung und Geselligkeit in den Städten des ausgehenden Zarenreiches, Göttingen 2002; ders., Universität und städtische Gesellschaft in Odessa, 1865 – 1917. Soziale und nationale Selbstorganisation an der Peripherie des Zarenreiches, Stuttgart 1998; Lutz Häfner, Gesellschaft als lokale Veranstaltung. Die Wolgastädte Kazan' und Saratov (1870 – 1914), Köln 2004; Walter Sperling (Hrsg.), Jenseits der Zarenmacht. Dimensionen des Politischen im Russischen Reich, 1800-1917, Frankfurt am Main 2008.
2 Thomas Mergel, Überlegungen zu einer Kulturgeschichte der Politik, in: Geschichte und Gesellschaft 28 (2002), S. 574-606, hier S. 592.
3 Joseph Bradley, Voluntary Associations in Tsarist Russia. Science, Patriotism, and Civil Society, Cambridge 2009.

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