Die Täufer im Herzogtum Württemberg wurden bereits 1965 von Claus-Peter Clasen monographisch untersucht.1 Gegenüber Clasens Studie, die die Täuferfrage innerhalb eines ausgedehnten geographischen Raumes behandelte, geht die finnische Historikerin Päivi Räisänen in ihrer Göttinger Dissertation vornehmlich auf die Verhältnisse des württembergischen Amtes Schorndorf in der Zeit zwischen 1570 und 1620 ein. Diese Beschränkung auf einen kleinen Raum ermöglicht es der Autorin, die Täufer in Württemberg in einer „Tiefenbohrung“ genauer zu untersuchen. Während Clasen die Vorstellungswelt der Täufer und ihre soziale Struktur in den Blick nahm, verfolgt Räisänen eine andere Fragestellung. Vor dem Hintergrund der württembergischen Täuferpolitik analysiert sie zum einen den allgemeinen Charakter und die Aufgabe von Visitationen, zum anderen arbeitet sie heraus, wie die Täufer in den Visitationsverfahren ermittelt wurden, wie der Zuschreibungsprozess verdächtiger Personen als „Täufer“ ablief und welche Akteure daran beteiligt waren.
Räisänen stellt zunächst die obrigkeitliche Sicht auf die Täufer in Ordnungen und Mandaten dar, geht anschließend auf die Anwendung dieser Normen durch die Visitatoren und die lokalen Kräfte (Pfarrer, dörfliche Ehrbarkeit, Gemeinden) ein und untersucht schließlich das Visitationsverfahren gegenüber den als Täufern unter Verdacht stehenden Personen. Die Studie arbeitet sich also von den obrigkeitlichen Normgebern vor zu den anwendenden Organen am Ort und berücksichtigt schließlich auch die Möglichkeiten, die die Beschuldigten selbst in den Visitationsverfahren hatten, um sich vom Täuferverdacht zu befreien. Neben den Ordnungen und Erlassen zieht Räisänen ungedruckte Akten des württembergischen Kirchenrats, der Visitationskommissionen und des Synodus heran. Mit Bittschriften, die aus dem Amt Schorndorf vornehmlich zur Wiedererstattung eingezogener Güter überliefert sind, hat Räisänen außerdem eine Quellengattung ausgewertet, die bisher in der Täuferforschung unbeachtet geblieben ist.
Die württembergische Täuferpolitik, deren Leitlinien in Ordnungen und Mandaten aufscheinen, war durchweg von der Sorge bestimmt, dass die Täufer die Gesellschaftsordnung zu zersetzen drohten, indem sie Aufstände gegen die Obrigkeit planten und die übrige Bevölkerung in ihren Predigten zu solchen Taten anstachelten. In den obrigkeitlichen Erlassen trat dieses Argument im Laufe des 16. Jahrhunderts immer stärker in den Vordergrund. Obwohl es das Ziel der württembergischen Täuferpolitik war, das Herzogtum von Anhängern der Täuferlehre zu befreien, verfolgten die Herzöge eine von Johannes Brenz propagierte gemäßigte Linie. Ihnen war vor allem daran gelegen, die Täufer belehren zu lassen, zum Widerruf zu bringen und sie somit in die lutherische Amtskirche zurückzuführen.
Die Praxis der Täuferpolitik zeigt sich vor allem in den regelmäßig in den einzelnen Ämtern des Landes durchgeführten Visitationen. Gemäß speziellen Fragenkatalogen wurden die Täufer innerhalb eines „Systems der abgestuften Täuferkategorien“ (S. 209) klassifiziert in Vorsteher, also charismatische Anführer, in Anhänger, die die Bewegung trugen, und in Sympathisanten, die einzelne Täufer schützten. Aus dieser Einstufung resultierten die Maßnahmen, die gegen die jeweiligen Personen getroffen wurden. Neben Unterweisung der „Einfältigen“ und Rückführungsversuchen in die Amtskirche wurden gegen die unbelehrbaren, „hartnäckigen“ Täuferführer Haft-, Leibes-, Geldstrafen und die Konfiszierung ihrer Güter verhängt sowie Landesverweisungen ausgesprochen.
In die Umsetzung der Täuferbekämpfung waren auch die lokalen Organe eingebunden. Als erstes Zeichen für Täufertum galt das Fernbleiben von Gottesdienst und Abendmahl. Insbesondere die Pfarrer waren wichtige Institutionen, um Täufer aufzuspüren, da sie den Überblick darüber hatten, wer nicht zu den kirchlichen Zeremonien erschien. Der Rückzug aus dem kirchlichen Leben und damit der Verdacht auf Devianz wurde den Pfarrern also schnell bekannt. Hinzu kamen eindeutig in täuferische Richtung deutende Verhaltensweisen und Aussagen oder Kontakte mit verdächtigen Personen.
Neben dem Pfarrer waren auch die Amtleute an der Täuferbekämpfung beteiligt. Versäumten sie diese Pflicht, drohten ihnen Geld- und Gefängnisstrafen oder gar die Amtsentsetzung, denn die Amtleute wurden dafür verantwortlich gemacht, wenn die Täufer weiterhin in ihrem Bezirk aktiv waren. Räisänen zieht hier das interessante Fazit, dass es bei der württembergischen Täuferpolitik nicht nur um die Verdächtigten selbst ging, sondern auch um die Amtleute – und wohl auch alle anderen subalternen Funktionsträger –, die systematisch in die Umsetzung der obrigkeitlichen Anweisungen eingeübt werden sollten.
Jedes Gemeindemitglied hatte die Pflicht, verdächtige Personen anzuzeigen. Die Dorfgenossen erhielten somit eine Handhabe, missliebige Personen besonders effektiv in Verruf zu bringen, denn die Landesherren reagierten auf Täuferverdacht umgehend. Andererseits konnten die lokalen Kräfte belastete Personen auch schützen. Entscheidend war also die Frage, welche Beziehung die Täufer zur dörflichen Ehrbarkeit – Schultheiß, Gericht und Rat – hatten. Diese Inhaber einflussreicher Ämter wurden bei der Visitation als Vertreter des Dorfes befragt, und wenn sie die Täufer vor dem obrigkeitlichen Zugriff schützten, gab es seitens der Visitatoren kaum Möglichkeiten, gegen sie vorzugehen. Die württembergischen Herzöge waren also in höchstem Maße auf die Kooperation mit den lokalen Amtsträgern angewiesen, wenn sie ihre Täuferpolitik durchsetzen wollten.
Die als Täufer verdächtigten Personen hatten bei den Visitationen jedoch ebenfalls gewisse Spielräume, sich vom Täuferverdacht zu befreien oder einschneidende Sanktionen (Haftstrafen, Konfiszierung ihrer Güter, Landesverweisung) zumindest hinauszuzögern. So griffen die Vorgeladenen zu gängigen Mitteln, sie stritten die ihnen unterstellten täuferischen Umtriebe oder Beziehungen zu verdächtigen Personen ab, verharmlosten oder verschleierten sie. Sie legten gegenüber den Visitatoren Versprechen ab, ignorierten dann aber deren Anweisungen. Neben diesen „Verhandlungen“ gab es für die Beschuldigten auch noch einen amtlichen Weg, den Täuferverdacht zu zerstreuen, und zwar den, eine Bittschrift zu verfassen, in der sie sich nachdrücklich von dem Vorwurf, mit den Täufern im Bunde zu sein, distanzierten.
Die Untersuchung von Päivi Räisänen führt ein kompaktes Bild der Täuferpolitik im Herzogtum Württemberg von der zweiten Hälfte des 16. bis zum Beginn des 17. Jahrhunderts vor Augen. Durch die Konzentration auf ein württembergisches Amt, „in dem das Täufertum am stärksten Anhänger fand“ und „täuferische Ideen besonders lange im Umlauf“ waren, gelingt ihr eine detailreiche Studie, einerseits zu den Möglichkeiten der württembergischen Herzöge, die Täufer zu bekämpfen, und andererseits zu den Chancen der Täufer, ihre Glaubensüberzeugungen effektiv zu verschleiern. Deutlich wird auch, dass die Mittelinstanz vor Ort – die Pfarrer, Amtleute, Schultheißen, Räte, Gerichte und Gemeinden – sowohl für die Herzöge als auch für die Täufer die entscheidenden Institutionen zur Durchsetzung ihrer Interessen waren. Mit diesen Organen mussten beide Seiten kooperieren, die Landesherren, um die Täufer ausfindig zu machen und gegen sie vorzugehen, die Täufer, um sich dem obrigkeitlichen Zugriff zu entziehen.
Anmerkung:
1 Claus-Peter Clasen, Die Wiedertäufer im Herzogtum Württemberg und anderen benachbarten Herrschaften. Ausbreitung, Geisteswelt und Soziologie, Stuttgart 1965.