Cover
Titel
Europe Since the Seventies.


Autor(en)
Black, Jeremy
Reihe
Contemporary Worlds
Erschienen
London 2009: Reaktion Books
Anzahl Seiten
256 S.
Preis
€ 19,99
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Konrad H. Jarausch, Friedrich-Meinecke-Institut, Freie Universität Berlin

Manche Bücher, die man mit großen Erwartungen in die Hand nimmt, enttäuschen schon bei der ersten Durchsicht. Dieser Überblick zur europäischen Geschichte seit den 1970er-Jahren ist von einem erfahrenen britischen Historiker verfasst, der etwa 100 Bücher zur englischen und amerikanischen Geschichte sowie zu militärhistorischen Fragen geschrieben hat. Das Vorwort verspricht, eine frische „Perspektive des 21. Jahrhunderts“ (S. 7) für die jüngere Generation zu liefern, die mit der traditionellen Sicht der Nachkriegsepoche oder des Kalten Krieges bricht, um die „Auflösung der Trennungslinien [zu erkunden], die das vorangegangene Vierteljahrhundert charakterisiert haben“ (S. 8).1 Trotz dieser potenziell innovativen Fokussierung auf die soziale und politische Krise der 1970er-Jahre und die Auswirkungen der Globalisierung in ganz Europa erfüllt die darauffolgende Darstellung den mit diesem vielversprechenden Programm verbundenen Anspruch leider nicht.2

Dabei hat der Band durchaus einige originelle Seiten, die interessante Perspektiven eröffnen. So versucht der Autor die konventionelle Gegenüberstellung von Ost- und Westeuropa durch Betonung der Eigenständigkeit des Mittelmeerraumes zu umgehen. Zudem setzt die eigentliche Darstellung überraschenderweise mit der Verschärfung der Umweltproblematik ein; behandelt werden daraufhin demographische Fragen der Migration, des Geburtendefizits und der Überalterung: „Bevölkerung und Umwelt sind die Hauptfragen [...].“ (S. 242) Black betont das Verschwinden klar bestimmbarer sozialer Klassen im Vergleich zur Herausbildung konkurrierender Geschlechter- oder ethnischer Identitäten. Er diskutiert die erhebliche Bedeutung von Religion in der säkularisierten Medienkultur sowie das Anwachsen des Regionalismus innerhalb der Nationalstaaten. Ebenso weist er auf die wachstumshemmende Problematik des westeuropäischen Korporatismus hin, beschreibt den Zusammenbruch der Planwirtschaften und kritisiert die postkommunistische Korruption in Osteuropa. Den Abschluss der Darstellung bildet ein in zwei Kapiteln breit angelegter Überblick zur politischen Entwicklung, der mit dem Sturz der Mittelmeerdiktaturen beginnt, den Zusammenbruch des Kommunismus schildert und schließlich in Überlegungen zu den Problemen europäischer Integration wie der Euro-Stabilität und des Verfassungsentwurfs kulminiert. Dabei bietet die britische Perspektive einerseits eine Binnensicht; andererseits schafft sie kognitive Distanz zum Gegenstand Europa als zeithistorischem Handlungsraum.

Warum vermag dieser Versuch einer europäischen Gegenwartsgeschichte dennoch nicht wirklich zu überzeugen? Ein Grund ist der impressionistische und apodiktische Stil, der eher an Vorlesungsnotizen oder Zeitungsartikel als an eine wissenschaftliche Abhandlung erinnert. Eine weitere Ursache sind die zahlreichen inhaltlichen Probleme der Argumentation. So übergeht Black im Kapitel zur Umweltgeschichte weitgehend die Formierung der ökologischen Bewegung seit den 1970er-Jahren, die erst das Bewusstsein für die Verschlechterung der Lebensbedingungen und für die langfristige Gefährdung der Lebensgrundlagen geschaffen hat. Bei seiner Darstellung der demographischen Diskussion macht Black nicht klar, inwieweit der Geburtenrückgang eine langfristige Entwicklung oder ein Produkt kurzfristiger Veränderungen wie der Pille und des neuen Feminismus war. In seiner gesellschaftsanalytischen Skizze konstatiert der Autor das Ende des Klassenbewusstseins, erklärt aber kaum die Ursachen der Fragmentierung kollektiver Identitäten zum Beispiel durch Konsumstile. Bei der Frage nach dem Ende des Booms vermeidet Black eine systematische Betrachtung der neoliberalen Wende und geht nicht auf die tieferen Ursachen des strukturellen Wandels zur dritten Phase der Industrialisierung ein. In dem Kapitel über die Kultur fehlt jede ernsthafte Auseinandersetzung mit Strömungen wie Postmoderne und Linguistic Turn. Obwohl die Zusammenfassung der hauptsächlichen politischen Entwicklungen in West und Ost seit den 1970er-Jahren generell kompetent ist, wird sie bei der Annäherung an die Gegenwart immer mehr zu einer reinen Chronik der Ereignisse. Einige wichtige Themenkomplexe wie die Auswirkungen der Entkolonialisierung oder die Krise des Sozialstaats werden jedoch kaum behandelt.

Da „Europe Since the Seventies“ weder eine materialgesättigte Analyse noch eine neue Interpretation der letzten Jahrzehnte bietet, ist dieser Überblick letztlich eine verpasste Chance. Trotz mancher interessanter Passagen wie der Schilderung des Übergangs zur Demokratie in Portugal, Griechenland und Spanien (S. 162ff.) ist der Text zu sprunghaft und oberflächlich geschrieben, als dass er den anspruchsvollen Leser befriedigen könnte (so die Diskussion der friedlichen Revolution von 1989/90, S. 196ff.). Die vielen Detailinformationen aus unterschiedlichen Ländern und verschiedenen Zeiträumen fügen sich nicht zu einem überzeugenden Gesamtbild zusammen. Einem anglophonen Studienanfänger mögen die euroskeptischen Kommentare eines britischen Konservativen (zum Beispiel über das Verhältnis Europas zu Russland, S. 231ff., oder über die Frage einer EU-Mitgliedschaft der Türkei, S. 239ff.) einige Anregungen bieten. Aber für eine ernsthafte Auseinandersetzung mit den Implikationen der Zäsur der 1970er-Jahre für die Problemkonstellation der folgenden Jahrzehnte sollte man andere Autoren wie Anselm Doering-Manteuffel und Lutz Raphael oder Hartmut Kaelble lesen.3

Anmerkungen:
1 Dies ist ein Hinweis auf Tony Judt, Postwar. A History of Europe Since 1945, New York 2005, oder auf John Lewis Gaddis, The Cold War. A New History, New York 2005.– Zugunsten einer besseren Lesbarkeit der Rezension bringe ich die Zitate aus Blacks Buch hier und im Folgenden in deutscher Übersetzung.
2 Siehe zu diesem Feld u.a. auch die Themenhefte von Archiv für Sozialgeschichte 44 (2004): Die Siebzigerjahre. Gesellschaftliche Entwicklungen in Deutschland; online unter <http://library.fes.de/afs-online/inhalt/online.htm> (17.01.2011), und von Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History 3 (2006) H. 3: Die 1970er-Jahre – Inventur einer Umbruchzeit; online unter <http://www.zeithistorische-forschungen.de/16126041-Inhalt-3-2006> (17.01.2011); sowie Konrad H. Jarausch (Hrsg.), Das Ende der Zuversicht? Die siebziger Jahre als Geschichte, Göttingen 2008; Niall Ferguson u.a. (Hrsg.), The Shock of the Global. The 1970s in Perspective, Cambridge 2010.
3 Anselm Doering-Manteuffel / Lutz Raphael, Nach dem Boom. Perspektiven auf die Zeitgeschichte seit 1970, Göttingen 2008; Hartmut Kaelble, The 1970s in Europe: A Period of Disillusionment or Promise? The 2009 Annual Lecture of the German Historical Institute in London, London 2010.