Cover
Titel
The 1972 Munich Olympics and the Making of Modern Germany.


Autor(en)
Schiller, Kay; Young, Christopher
Reihe
Weimar and Now: German Cultural Criticism
Erschienen
Anzahl Seiten
xiii, 348 S.
Preis
$ 15.99
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Eva Modrey, Historisches Institut, Justus-Liebig-Universität Gießen

Die ehemaligen Achsenmächte des Zweiten Weltkriegs hatten nach 1945 in relativ kurzen Abständen Gelegenheit, sich als Gastgeberländer der Olympischen Sommerspiele zu bewähren. Bereits zehn Jahre nach Kriegsende sprach die Kommission des International Olympic Committee (IOC) der Stadt Rom für 1960 die vierten Spiele nach dem Zweiten Weltkrieg zu. Daraufhin folgten 1964 Tokio und 1972 München. Die Olympischen Spiele boten Italien, Japan und der Bundesrepublik Deutschland eine perfekte Bühne für politische Imagekampagnen nach Diktatur und Krieg. Durch die weltweite Aufmerksamkeit konnten die Gastgeber bestimmte Selbstbilder transnational verbreiten und der Welt neue Images vor Augen führen. Während zur Inszenierung der Spiele in Tokio vor einigen Jahren bereits eine Monographie erschienen ist1, lagen für die Sommerspiele in Rom und München bisher keine historischen Einzelstudien vor.

Der Historiker Kay Schiller und der Germanist Christopher Young betreten mit ihrer Studie zu den Münchener Spielen also in weiten Teilen Neuland. In sechs Kapiteln gehen sie ihrem in der Einleitung formulierten Ziel nach, die ‚ganze’ Geschichte der Sommerolympiade von 1972 zu erzählen (S. 2). Dies ist besonders zu begrüßen, da die gängige Darstellung von München bisher oft mit dem Überfall der palästinensischen Terroristen am 5. September 1972 begann. Neben zahlreichen Verarbeitungen in Literatur2 und Film3 beschäftigt das ‚Medienereignis im Medienereignis’ – wie sich das Attentat beschreiben ließe – besonders in den letzten Jahren auch die wissenschaftliche Forschung.4 Nicht nur das Danach, auch das Vorherige wurde mit dem Wissen um das Attentat betrachtet. Die Erinnerungen überlagerten nicht selten die genauere Wahrnehmung der Münchener Spiele selbst. Schiller und Young erweitern nun diese Perspektive; für verschiedene thematische Felder bieten sie ihren Lesern eine breite Übersicht. Die Autoren haben umfangreiche Quellen ausgewertet: nicht nur die politischen Aktenbestände aus Stadt- und Landesarchiven sowie aus dem Bundesarchiv, sondern auch die Dokumente der sportgeschichtlichen Archive. Es gelingt ihnen, eine bundesrepublikanische Nachkriegsgeschichte zu schreiben, die durch eine klare Analyse besticht und etliche neue Ergebnisse liefert.

Während Schiller und Young an einigen Stellen hauptsächlich vertiefen, was von anderen Autoren in Aufsätzen und Monographien schon angesprochen wurde – wie die Ausführungen zur Architektur5, dem Design, der Zeremonie6, den deutsch-deutschen Querelen7 und dem Attentat –, bedeutet die Verbindung der Spiele mit den studentischen Bewegungen um 1968 einen ganz eigenständigen Zugriff (S. 127f.). Die Autoren arbeiten treffend heraus, dass diese signifikante Periode der bundesdeutschen Geschichte entscheidenden Einfluss auf die Inszenierung der Spiele hatte – und dies nicht nur bezüglich zeitgenössischer und modischer Einflüsse auf die Konzeption. Gerade die Coubertin’sche Idee, die Jugend der Welt zu friedlichen Wettkämpfen zusammenkommen zu lassen, scheint 1972 ein entscheidender Aspekt gewesen zu sein. Denn die Jugend der USA und Westeuropas befand sich teils im Aufbruch, teils in einer Phase der Desillusionierung. Gut lesbar und analytisch nachvollziehbar arbeiten die Verfasser die Deutungskonflikte und die Probleme bei der Inszenierung einer bundesrepublikanischen Identität heraus. Das Aufeinandertreffen lokaler Traditionen und moderner Innovationen, einer selbstbewussten Leistungsschau und einer „Haltung der Zurückhaltung“ wird hier symptomatisch deutlich.8

Einen neuen Blickwinkel ermöglichen Schiller und Young zudem in Bezug auf einen bedeutenden Vorgänger – die Berliner Olympiade von 1936. Sind die Münchener Spiele im Nachklang unweigerlich mit den Ereignissen am 5. September 1972 verknüpft, schwebte vor allem Mitte der 1960er-Jahre das frühere Sportereignis in Berlin über den Vorbereitungen. Die Verfasser zeigen treffend, dass die XI. Sommerolympiade nicht nur als Abgrenzungsmoment bei der Konzeption genutzt wurde, sondern auch als zentrales Legitimationsinstrument während der Bewerbung galt (S. 56f.). Insbesondere in IOC-Kreisen besaßen die Berliner Spiele den Ruf einer Vorzeigeolympiade. Die perfekte Organisation und die Anlehnung an die Coubertin’schen Ideen überwogen hier die Vorbehalte gegen die Berliner Spiele als nationalsozialistische Propagandaschau. Erhellend ist dabei der Verweis auf die Akteursebene: Der Amerikaner Avery Brundage, 1952–1972 Präsident des IOC und als germanophil-antisemitischer Sportfunktionär bereits in die Spiele von 1936 involviert, bemühte sich gemeinsam mit einigen Kollegen, den Ruf der Berliner Austragung auch in der Nachkriegszeit unangetastet zu lassen; er proklamierte vehement die Idee des unpolitischen Sports.

Zu den wichtigen Ergebnissen der Studie gehören die Hinweise auf das Taktieren während der Bewerbungsphase. Die Autoren zeigen, dass hinter der westdeutschen Entwicklungshilfe für Afrika deutliches Kalkül steckte (S. 37f.). Hiermit sollten nicht zuletzt die afrikanischen IOC-Mitglieder bei der Wahl gnädig gestimmt werden. Solche Einblicke in die Strukturen der Lausanner Sportorganisation sind besonders positiv hervorzuheben, weil sie in der bisherigen Forschungsliteratur weitgehend fehlten. An mancher Stelle wäre es jedoch hilfreich gewesen, den Blick zu erweitern und auch die Aktivitäten von vorherigen Gastgebern in die Analyse einzubeziehen. So fanden bei den Spielen in Rom bereits ähnliche Maßnahmen statt, mit denen sich die Bewerber einen Zuspruch von IOC-Mitgliedern erhofften.

Neben vielen neuen Einblicken muss als Leistung des Buchs nicht zuletzt die Synthese von Forschungsergebnissen genannt werden. Gerade in der jüngsten historischen Forschung sind einige wichtige Studien entstanden, die sowohl auf dem Feld der Sportgeschichte angesiedelt sind als auch im Bereich der Kulturgeschichte der Bundesrepublik. Leider vermisst der Leser insbesondere in der Einleitung einen soliden Überblick zum Forschungsstand. Dort wird ein großes Forschungsdesiderat beklagt, das nur von einigen Aufsätzen gemildert werde (S. 2) – was etwas überzeichnet ist. Eine breitere Einordnung in den Forschungsstand – inklusive in die Befunde der kurz in einer Fußnote angegebenen Studien – wäre wünschenswert gewesen. Auch bei der Formulierung von Thesen verweisen die Autoren an einigen Stellen nur auf die Quellen, während Bezüge zu bereits vorhandenen Forschungsergebnissen fehlen. Ungeachtet dieser partiellen Kritikpunkte schließt die Studie von Kay Schiller und Christopher Young nicht nur ereignis- und kulturgeschichtliche Lücken im Wissen über die Münchener Olympiade. Sie stellt zudem einen weiteren, wichtigen Baustein auf dem Weg zur Sportgeschichte als Teil einer Kulturgeschichte des Politischen dar.9

Anmerkungen:
1 Christian Tagsold, Die Inszenierung der kulturellen Identität in Japan. Das Beispiel der Olympischen Spiele Tokyo 1964, München 2002.
2 George Jonas, Vengeance, New York 1984; Simon Reeve, One Day in September, New York 2000; Ulrike Draesner, Spiele, München 2005.
3 One Day in September, USA 1999 (Regie: Kevin Macdonald); Munich, USA 2005 (Regie: Steven Spielberg).
4 Matthias Dahlke, Der Anschlag auf Olympia ’72. Die politischen Reaktionen auf den internationalen Terrorismus in Deutschland, München 2006; Annette Vowinckel, Sports, Terrorism and the Media: The Munich Hostage Crisis of 1972, in: Esporte e Sociedade 2,6 (2007), online unter <http://www.lazer.eefd.ufrj.br/espsoc/pdf/es602.pdf> (23.11.2010).
5 Swantje Scharenberg, Nachdenken über die Wechselwirkung von Architektur und Wohlbefinden: Das Olympiastadion in München, ein politischer Veranstaltungsort, in: Matthias Marschik u.a. (Hrsg.), Das Stadion: Geschichte, Architektur, Politik und Ökonomie, Wien 2005, S. 153-174.
6 Uta Andrea Balbier, „Der Welt das moderne Deutschland vorstellen“: Die Eröffnungsfeier der Spiele der XX. Olympiade in München 1972, in: Johannes Paulmann (Hrsg.), Auswärtige Repräsentationen. Deutsche Kulturdiplomatie nach 1945, Köln 2005, S. 105-119.
7 Martin H. Geyer, Der Kampf um nationale Repräsentation: Deutsch-deutsche Sportbeziehungen und die Hallstein-Doktrin, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 44 (1996), S. 55-86; Uta Andrea Balbier, Kalter Krieg auf der Aschenbahn. Der deutsch-deutsche Sport 1950–1972. Eine politische Geschichte, Paderborn 2007.
8 Diesen Begriff prägte Johannes Paulmann, Deutschland in der Welt: Auswärtige Repräsentationen und reflexive Selbstwahrnehmung nach dem Zweiten Weltkrieg. Eine Skizze, in: Hans Günter Hockerts (Hrsg.), Koordinaten deutscher Geschichte in der Epoche des Ost-West-Konflikts, München 2004, S. 63-78, hier S. 65.
9 Siehe als breiten Überblick etwa den Forschungsbericht: Olaf Stieglitz / Jürgen Martschukat / Kirsten Heinsohn, Sportreportage: Sportgeschichte als Kultur- und Sozialgeschichte, in: H-Soz-u-Kult, 28.05.2009, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/forum/2009-05-001> (23.11.2010).

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