Diese beiden Bände zur „Verfolgung und Auswanderung deutschsprachiger Sprachforscher 1933-1945“ darf man wohl als das Lebenswerk des Sprachwissenschaftlers Utz Maas bezeichnen. Mehr als 30 Jahre lang hat der mittlerweile emeritierte Osnabrücker Germanist zu diesem Thema geforscht und veröffentlicht. Der bescheiden als „Dokumentation“ betitelte Band 1 enthält mehr als 300 biographische Darstellungen, die in der Regel nicht nur auf dem gründlichen Studium der von den Autoren verfassten Werke und oftmals weitergehenden Archivrecherchen beruhen, sondern auch – wo dies noch möglich war – auf Interviews mit den Betroffenen. Band 2 enthält eine Auswertung des biographischen Materials und reflektiert darüber hinaus auch die Genese dieses chronisch unterfinanzierten Langzeitprojekts.1
Inhaltlich bewegen sich die Untersuchungen am Schnittpunkt von Exilforschung, Historiographie der Sprachwissenschaft und allgemeiner Wissenschaftsgeschichte. Die Leitfrage lautet dabei: „Wieweit kann die Fachentwicklung durch fachexterne politische Eingriffe bestimmt werden?“ (Bd. II, S. 18). Sprachwissenschaft wird von Maas keineswegs als geschlossenes, sondern als ein an den Grenzen überaus durchlässiges Feld betrachtet, terminologisch schlägt sich dieses Verständnis in der Wahl des Begriffs „Sprachforschung“ nieder: So sind die Sprachforscher sowohl in der Germanistik und den Fremdsprachenphilologien (von der Romanistik bis zur Orientalistik) als auch in der Vergleichenden Sprachwissenschaft zu Hause. Die institutionellen Abgrenzungen werden dabei insbesondere zwischen Philologie und Linguistik, zwischen Sprach- und Literaturwissenschaft ausgefochten. Wichtig ist für ihn aber auch, dass Forschungen zur Sprache nicht nur an den im Wesentlichen an universitären Instituten eingerichteten Lehrstühlen betrieben wurden, sondern in erheblichem Maße auch an Schulen, freiberuflich oder in Diensten anderer Arbeitgeber. So finden in diesem „Katalog“, wie Maas seine Sammlung von Biographien zumeist nennt, unzählige Außenseiter Platz, über die kaum Informationen vorliegen. Während seine Ergebnisse der Exilforschung also oftmals neue biographische Informationen und Einschätzungen zu verfolgten Wissenschaftlern erschließen, liegt ihr Ertrag für die Wissenschaftsgeschichte insbesondere darin, dass sie demonstrieren, unter welchen Bedingungen und in welchem Maße Eingriffe von außen (hier die Politik der Nationalsozialisten) wissenschaftliche Fragestellungen der Forschenden verändern oder gar prägen konnten und somit die innerfachliche Entwicklung mitbestimmten.
Für die Geschichte der Sprachwissenschaft wiederum erweist sich die Verknüpfung von Exilforschung und wissenschaftsgeschichtlichen Überlegungen im Medium der Biographie als ertragreich, weil die Entwicklung der Sprachwissenschaft zu einer weitgehend eigenständigen Disziplin just in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts entscheidend vorangekommen ist und die Verfolgten des NS-Regimes daran nicht unwesentlich beteiligt waren. Die Gründe für ihre Verfolgung können indessen ganz unterschiedlich sein: Zumeist ist es eine rassistische Zuschreibung zur jüdischen Religion, aber auch Homosexualität oder politische Dissidenz können eine Rolle spielen. So variiert die Reaktion der Betroffenen auf die Verfolgung und kann von einen Arrangement mit dem NS-Regime bis hin zum selbstgewählten Tod reichen. 284 der 309 Porträtierten werden von Maas im engeren Sinne als verfolgte Sprachforscher betrachtet, die anderen Porträts wertet er als „Konstrastbiographien“ (II, S. 22), die eine genauere Eingrenzung des Gegenstands erlauben. So lassen sich die Biographien in wenigstens zweierlei Hinsicht lesen: Als Einzelschicksale illustrieren sie nicht nur die unterschiedlichen Möglichkeiten, auf die politischen Verhältnisse zu reagieren, sondern auch die verschiedenen personalen Wissenschaftsstile sowie die eigentlich triviale, aber in der Fachgeschichte oft genug übersehene Tatsache, dass die Profession der Wissenschaftler nur einen lebensgeschichtlichen Aspekt unter vielen darstellt. Unter seriellen Gesichtspunkten gelesen zeigt sich aber auch, dass sich spezifische Reaktionsmuster bei den verschiedenen Generationen jüdischer Sprachforscher abzeichnen; so begriffen beispielsweise jene, die ihr Studium nach dem Ersten Weltkrieg begonnen hatten, Antisemitismus weniger als überholtes Relikt (wie noch ihre Vorgänger), sondern als gesellschaftliche Bedrohung (II, S. 159).
Unter den Porträtierten befindet sich durchaus eine Anzahl Prominenter, deren Lebensläufe sich mitunter auch anderen Quellen entnehmen lassen, so Edward Sapir, Franz Boas, Walter Benjamin, Fritz Mautner, Ernst Cassirer, Edmund Husserl, Käte Hamburger, Leo Spitzer, Erich Auerbach oder Karl Vossler. Doch selbst hier gelingen Maas so substanzielle wie originelle Beiträge – wie zum Beispiel im Falle Spitzers, der von Maas als ein Gewährsmann der Foucaultschen Diskursanalyse dargestellt wird. Die vorzüglichste Qualität dieses Katalogs liegt aber in der Aufarbeitung von Biographien vieler Wissenschaftler (darunter nicht zuletzt auch ein erhöhter Anteil von Frauen), die heute aus den unterschiedlichsten Gründen weitgehend vergessen sind. Ihre Aufnahme bedeutet nicht nur eine späte Anerkennung, sondern eröffnet weitreichende Perspektiven auf die personale Ausdifferenzierung eines wissenschaftlichen Feldes, das ja nicht nur aus einigen wenigen Klassikern, sondern im Wesentlichen aus einer „Normalforschung“ besteht. In welchem Maße biographische Prägungen die wissenschaftlichen Forschungen beeinflussen, lässt sich besonders anschaulich an Biographien jüdischer Wissenschaftler zeigen, für die eine familiär bedingte, frühe Kenntnis des Hebräischen eine „wissenschaftliche Ressource“ (S. 163) darstellen konnte, aber auch an den Werdegängen Verfolgter, deren „Sensibilisierung für Marginalisierung und Unterdrückung“ (II, S. 160) sich in ihren Forschungen niederschlug (so zum Beispiel bei dem Soziolinguisten John J. Gumperz).
Die Auswertungen in Band 2 verdeutlichen, welchen Reichtum die Biographien in Band 1 besitzen. Neben einer quantitativen Auswertung der Auswanderungsverläufe besteht das fachgeschichtliche Herzstück dieses Bandes in einer Darstellung der Entwicklung der Sprachwissenschaft in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die vor allem als Professionalisierung zu charakterisieren ist. Maas selbst resümiert seine Untersuchungen vor dem Hintergrund der These, dass – anders als gemeinhin angenommen – „der Nationalsozialismus keine Zäsur in der sprachwissenschaftlichen Entwicklung in Deutschland darstellte“ (II, S. 155). Damit ist gemeint, dass auch unter den Bedingungen der nationalsozialistischen Wissenschaftspolitik die Trends der internationalen Sprachwissenschaft aufgenommen werden konnten. Die Vorstellung, dass „die strukturalistische Zäsur in der Fachentwicklung mit dem Zeitabschnitt 1933-1945 zu synchronisieren sei“, sieht Maas als Ergebnis eines Verdrängungsakts der deutschen Sprachwissenschaft in den 1950er- und 1960er-Jahren, die nicht in der Lage war, sich ihrer unmittelbaren Vergangenheit zu stellen und somit beispielsweise die schon früher einsetzende Saussure-Rezeption übersah. Insgesamt aber ist er bemüht, die nationale Perspektivierung der Fachgeschichte zurückzustellen: „Der Horizont der Wissenschaft und damit auch der Wissenschaftsentwicklung ist international – ihre Praktizierung aber ist an biographisch spezifische Projekte gebunden“ (II, S. 161). So betrachtet, zeitigte die Verfolgung nicht nur negative Folgen, sondern konnte dort, wo eine Re-Etablierung unter anderen Vorzeichen gelang (für die meisten der hier vorgestellten Sprachforscher geschah dies in den USA), mitunter auch erst zu bahnbrechenden Forschungen führen (wie zum Beispiel im Falle von Franz Boas). Vor dem Hintergrund der sich wandelnden Rahmenbedingungen lässt sich besser „das fachgeschichtlich irritierendste Ergebnis der Zusammenstellung, das nur unter der offenen Sammelkategorie Sprachforscher möglich war“, verstehen, und zwar, „daß diejenigen aus diesem Katalog, die von heute aus gesehen aus der jüngeren Fachgeschichte nicht wegzudenken sind (…), solche sind, die nicht aus akademischen sprachwissenschaftlichen Teildisziplinen kommen wie BOAS (Physiker/Geograph), BÜHLER (Psychologe), BAR-HILLEL, CARNAP, REICHENBACH (Logiker)“ (II, S. 157).
Der die Biographien enthaltende Band 1 ist ansprechend und übersichtlich doppelspaltig gesetzt. Wenn es überhaupt etwas an diesen beiden Bänden zu bemängeln gibt, dann ist es die nicht sehr leserfreundliche Gestaltung des zweiten Bandes. Der Wiederabdruck von Vor- und Nachworten der Vorläufereditionen wäre möglicherweise entbehrlich gewesen, der gewonnene Platz hätte für eine etwas großzügigere Typographie verwendet werden können. Gleichwohl gebührt dem Verlag nicht nur Respekt dafür, dieses komplexe Projekt endlich zu einem glücklichen bibliographischen Ende geführt zu haben, sondern insbesondere auch Dank für die den Bänden beigelegte CD mit sämtlichen Inhalten.2 Diese ersetzt nicht nur ausufernde Register, sondern erlaubt zudem eine schnelle Recherche nach unzähligen ‚weichen‘ Stichworten, die sonst nicht verzeichnet worden wären und noch manche neue Fährte eröffnen werden.
Anmerkung:
1 Um bibliographischen Verwirrungen vorzubeugen: Es gibt zwei ältere Publikationen, die einige der hier präsentierten Forschungsergebnisse vorwegnehmen, aber unvollständig geblieben sind. Zuerst erschien: Utz Mass, Verfolgung und Auswanderung deutschsprachiger Sprachforscher 1933-1945. Bd. 1, Einleitung, Biographische Artikel A-F, Osnabrück 1996; später dann: Utz Maas, Verfolgung und Auswanderung deutschsprachiger Sprachforscher 1933–1945. Bd. II, Biographische Artikel G-Q; Nachträge A-F, Osnabrück 2004. Diese sind nun durch die neue Ausgabe zu ersetzen.
2 Die Inhalte sind auch online unter http://www.esf.uni-osnabrueck.de/ frei zugänglich (Bd. I: http://www.esf.uni-osnabrueck.de/images/stories/pdf/maas_bd1_biographien.pdf,
Bd. II: http://www.esf.uni-osnabrueck.de/images/stories/pdf/maas_bd2_auswertung.pdf).