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Titel
Adelsherrschaft im Werraraum. Das Gericht Boyneburg im Prozess der Grundlegung frühmoderner Staatlichkeit (Ende des 16. bis Anfang des 18. Jahrhunderts)


Autor(en)
Diehl, Thomas
Reihe
Quellen und Forschungen zur hessischen Geschichte 159
Anzahl Seiten
482 S.
Preis
€ 39,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Susanne Rappe-Weber, Archiv der deutschen Jugendbewegung, Burg Ludwigstein

Die Boyneburg, eine brüchige Ruine, liegt abseits der Dörfer mitten im Wald auf einem Bergrücken und ist auch für den versierten Wanderer mangels präziser Beschilderung nicht ohne weiteres zu finden. Schon in der Frühen Neuzeit hatte sie viel von ihrem imposanten Charakter verloren, war doch das gleichnamige, in mehrere Stämme geteilte Adelsgeschlecht längst in neue, bequemere steinerne Häuser in den herrschaftseigenen Dörfern der Umgebung umgezogen. Dabei spielte die Burg bei der Gründung der Landgrafschaft Hessen im 13. Jahrhundert eine entscheidende Rolle, als Landgraf Heinrich von Hessen 1292 die Burg von dem deutschen König Adolf von Nassau erhielt und sie seinerseits zusammen mit der Stadt Eschwege dem Reich als Lehen antrug. Doch diese Mediatisierung führte keineswegs dazu, dass sich das Geschlecht derer von Boyneburg mit den ihm zustehenden grund- und gerichtsherrschaftlichen Berechtigungen widerstandslos in die sich etablierende Landesherrschaft in Hessen einfügte. Vielmehr, so die Ausgangsthese von Thomas Diehl, der mit dieser Arbeit 2008 an der Universität Kassel promoviert wurde, konnte sich der hessische Landgraf im Bereich des Gerichts Boyneburg erst nach dem Dreißigjährigen Krieg als Territorialherr über einen arrondierten Flächenstaat durchsetzen. Bis dahin blieb es im Verhältnis des Landgrafen zu den von Boyneburg bei einer rein lehensmäßigen Unterstellung, die mit der Belehnung von 1460 festgeschrieben wurde. Das Gericht Boyneburg stellte bis weit ins 17. Jahrhundert ein in die Landgrafschaft nur lose eingebundenes Gebiet dar, in dem die Mehrzahl der Untertanen zu allererst und in vielen Fällen ausschließlich den Herren von Boyneburg gehorchte.

Diehl schließt damit an eine neuere Forschungslinie an, die in der verdichteten Adelslandschaft Hessens, so auch im Werraraum, ein konstitutives, keineswegs randständiges Element der Landgrafschaft sieht.1 In einem weiteren Kontext verbindet sich diese Beobachtung mit regional weit gespannten Forschungen zu adeliger Herrschaftsbeteiligung in den deutschen Territorialstaaten der Frühen Neuzeit. Über die ständische Vertretung hinaus traten die Adelsgeschlechter auf lokaler und regionaler Ebene den Untertanen mit stark verdichteten Herrschaftsrechten eigener Provenienz gegenüber und behaupteten sich aufgrund dieser Rechte (Grund-, Gerichts-, Patronatsrechte) gegen Ansprüche der Reichsfürsten. Untersuchungen dazu, etwa für die ländlichen Verhältnisse östlich der Elbe, richten sich unter anderem auf die Ausdehnung der adeligen Eigenwirtschaften im Verhältnis zum Bauernland, die Abschöpfung bäuerlicher Arbeitskraft durch Zwangsdienste oder den Aspekt der Unfreiheit bzw. schwacher Besitzrechte der Bauern an dem von ihnen bewirtschafteten Land. In diesem Punkt unterscheidet sich das hessische Beispiel von vielen Vergleichsfällen, denn der Aspekt minderer bäuerlicher Rechte spielte im Fall der boyneburgischen Herrschaft keine zentrale Rolle. In ihren Dörfern waren die bäuerlichen Stellen in Erbzinsleihe ausgegeben, konnten also unter dem Vorbehalt erheblicher Transaktionsgebühren für die Grundherrschaft vererbt, veräußert und frei bewirtschaftet werden. Zudem waren die Untertanen persönlich frei. Über die Bewirtschaftungspraxis der adeligen Güter erfährt man – vielleicht mangels Quellen – allerdings nicht viel. Diehl analysiert vielmehr, wie die Boyneburgs ihre Grund- und Gerichtsrechte systematisch arrondierten und über die Dörfer, in denen ihre Untertanen die Hofstellen mehrheitlich besetzten, eine gleichsam territoriale Herrschaft beanspruchten, die sie den Landgrafen in Kassel selbstbewusst entgegen setzten. Eine wesentliche Grundlage dafür stellte der zwischen den drei boyneburgischen Stämmen errichtete Fideikommiss von 1512 dar, mit dem der langfristige Zusammenhalt des Geschlechts sichergestellt wurde.

In den zum Gericht Boyneburg gehörenden 19 Dörfern besaßen die Boyneburgs die Grundherrschaft über 88 Prozent der Hofstellen. Sie verfügten über die hohe und die niedere Gerichtsbarkeit sowie Patronatsrechte in der Mehrzahl der Dörfer. Zudem bewohnten die einzelnen Familien des Adelsgeschlechts mehrere feste Häuser in den Dörfern und unterhielten etliche Vorwerke. Die drei sehr unterschiedlich begüterten Familienstämme B.-Hohenstein, B.-Bischhausen und Laudenbach sowie B.-Stedtfeld, die sich jeweils aus mehreren Häusern zusammensetzten, hatten sich auf einen Stammesältesten verständigt, der das Geschlecht nach außen repräsentierte und notwendige Abstimmungen im Binnenraum vornahm. Darüber hinaus standen sich die boyneburgischen Stämme bzw. Häuser aber durchaus auch als Konkurrenten gegenüber. Welche Herrschaftspraxis sich auf diese Konstellation im 16. und 17. Jahrhundert gründete, zeigt Diehl anhand einer Fülle unterschiedlicher Quellen. Insbesondere geht er auf Konflikte im Grenzbereich verschiedener Herrschaftssphären ein, etwa bei konkurrierenden Grundherrschaften an einem Ort oder strittigen Gerichtsrechten, anhand derer die erfolgreiche Strategie der Boyneburgs, sich als lokale und regionale Ordnungsmacht darzustellen, überzeugend nachgewiesen wird.

Der Trend zur Herrschaftsverdichtung gegenüber den Untertanen wird anhand zweier Policey-Ordnungen aus den Jahren 1591 und 1608 verdeutlicht. Diese enthalten zwar Hinweise auf die Mitwirkung der dörflichen Gemeinden bei der Abfassung und setzten die weithin übliche gemeindliche Selbstverwaltung nach wie vor in vielen Bereichen voraus. Dort aber, wo mit der Policey-Ordnung positiv Recht gesetzt wurde, ging das meist mit Zurückweisungen der Gemeinden einher, deutlich ablesbar etwa an der Rügepflicht, die die älteren gemeindlichen Rügegerichte abgelöste. Hier wie auch an anderen Stellen arbeitet Diehl begrifflich sorgfältig das Gefüge von übereinstimmenden und gegenläufigen Interessen zwischen Obrigkeit und Untertanen, aber auch innerhalb der dörflichen Gemeinden selbst heraus. Insbesondere markiert er, wie mit der Neufassung von 1608 der eigenständige boyneburgische Herrschaftsanspruch, der immer analog zu der von Landgraf Moritz in Kassel ausgehenden Landesherrschaft formuliert wurde, noch stärker in den Vordergrund trat. Begrifflich überzeugend ist auch die Bezeichnung „zweiter Mann“ für die boyneburgischen Amtsträger, um alle Aspekte der in einer Person zusammengeführten Beauftragung als Amtmann, Richter und Gutsverwalter zu erfassen. Zusammen mit der Präsenz der adeligen Herren und ihrer Familien in den Dörfern standen diese „zweiten Männer“ für eine intensive, sehr direkte Form der Herrschaftsausübung, die keinen weiteren bürokratischen Apparat brauchte. Vielmehr dominierten die Boyneburgs mit schlossartigen Adelssitzen in sechs Dörfern durch ihre Anwesenheit alle anderen Herrschaftsberechtigten. Als Höhepunkt in der Ausübung der Herrschaftsrechte kann der detailliert nachgezeichnete „Rittmannshäuser Konflikt“ zwischen 1617 und 1619 gelten, in dem die dörfliche Gemeinde von Rittmannshausen eine Neuregelung der Policey-Ordnung ablehnte und auf ihrer Zuständigkeit für die Überwachung der Wald- und Flurordnung einschließlich der Bestrafung bei Vergehen mit rituellen Bierstrafen beharrte. Nur vorübergehend fand die Gemeinde Rückhalt bei der landgräflichen Regierung. Letztlich stützte Landgraf Moritz die Position der von Boyneburgs und ließ das von dem boyneburgischen Gericht gefundene Urteil gegen die Gemeinde, das schon die Universität Marburg bestätigt hatte, quasi mit militärischer Gewalt durchsetzen.

Das Kräftefeld zwischen Landesherrn, adeliger Herrschaft und bäuerlichen Gemeinden änderte sich erst mit dem Dreißigjährigen Krieg nachhaltig zugunsten der nunmehr auch das boyneburgische Territorium einschließenden Landesherrschaft. Infolge der bis 1642 unaufhörlichen Einquartierungen, Verwüstungen, Brandschatzungen und anderer Kriegshandlungen verloren die in den Dörfern lebenden adeligen Herren und ihre Familien die Grundlage ihrer Herrschaft. 1626 flohen die Boyneburgs vorübergehend in ihr Stadtquartier in Eisenach, die Gemeinden wandten sich Hilfe suchend nach Kassel, jedwede Ordnung war zusammen gebrochen, die auf persönlicher Herrschaftsausübung beruhende Macht der Boyneburgs durch die Kriegsereignisse diskreditiert. Mit dem Ende des Krieges fügte sich das Gericht Boyneburg ganz in den landesherrlichen Rahmen, was mit der Entscheidung, die verfallene Boyneburg nicht wieder aufzubauen, auf Dauer augenfällig blieb.

Diehl verzichtet bis auf die Darstellung des Rittmannshäuser Falles auf „Nahaufnahmen“ einzelner boyneburgischer Herren oder einzelner dörflicher Zusammenhänge, die manchmal den Typus einer Herrschaft in besonderer Weise verdeutlichen können. Es mag dem Mangel entsprechend dichter Quellen geschuldet sein, dass somit das Innenleben der adeligen Familien in ihren (über-) regionalen Netzwerken, aber auch das Mit- bzw. Gegeneinander innerhalb der Gemeinden etwas blass bleibt. Dafür entschädigt der über das ganze Buch durchgehaltene systematische Zugriff, der stets den Gesamtraum des fast zwanzig Dörfer umfassenden Herrschaftsgebiets der Boyneburgs im Blick behält und eine klare Argumentation für den historischen Ort der Adelsherrschaft liefert.

Anmerkung:
1 Vgl. Eckart Conze / Alexander Jendorff / Heide Wunder (Hrsg.): Adel in Hessen. Herrschaft, Selbstverständnis und Lebensführung vom 15. bis ins 20. Jahrhundert, Marburg 2010.

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