M. Rürup (Hrsg.): Praktiken der Differenz

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Titel
Praktiken der Differenz. Diasporakulturen in der Zeitgeschichte


Herausgeber
Rürup, Miriam
Erschienen
Göttingen 2009: Wallstein Verlag
Anzahl Seiten
292 S.
Preis
€ 24,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Björn Siegel, Institut für die Geschichte der deutschen Juden, Hamburg

Mit dem Buch Praktiken der Differenz reiht sich Miriam Rürup in die wachsende Diaspora-Forschungsliteratur ein. Der Anspruch der Herausgeberin bzw. des Buches liegt in der genauen Betrachtung der historischen Begriffsentwicklung und einer Nützlichkeitsüberprüfung der Kategorie. Der Wille, den Diasporabegriff "aus dem jüdischen Ghetto" (S. 11) herauszulösen und als historische Begrifflichkeit zu etablieren, ist daher der rote Faden des Sammelbandes.

Miriam Rürup umreißt in der Einleitung die Begriffsentwicklung im 19. und 20. Jahrhundert und verdeutlicht die klassisch-jüdische Prägung der Kategorie. Durch eine Begriffsanalyse veranschaulicht sie die Erweiterung des Begriffs, vor allem in der englischsprachigen Forschungsliteratur. Sie diskutiert die Schwierigkeiten der Definitionserweiterungen, welche zu Simplifizierungen der historischen Aussagen, reinen Elitediskursen oder auch Begriffskonkurrenzen – vor allem zur Transnationalität – führen könnten. Die Herausgeberin hält die Kategorie dennoch für facettenreich und dynamisch genug, um neue Forschungsperspektiven zu eröffnen, die in diesem Sammelband aufgezeigt werden sollen.

Dies bestätigt der Beitrag von Anna Lipphardt, der den Perspektiv- und Bedeutungswechsel der Kategorie und die Herausentwicklung des Diasporabegriffs aus dem zumeist jüdisch-negativ konnotierten Kontext nachzeichnet. Die Sinnerweiterungen der 1960er- und 1980er-bis 1990er-Jahre durch die Einflüsse der postcolonial studies waren für Lipphardt entscheidend für die neue Begriffsnutzung. Prägte diese Entwicklung die englischsprachige Forschung, blieb eine solche Auseinandersetzung in Deutschland ein Randphänomen. Dies führt Lipphardt auf den besonderen Stellenwert der Migration, der Betonung/Bevorzugung der Integration, der tief verwurzelten Nationalstaatsidee sowie die strikten disziplinären Fächergrenzen zurück.

Eine erste Neubewertung des Begriffs führt Grit Jilek in ihrem Beitrag auf Simon Dubnow zurück, der die jüdische Geschichte als Diasporageschichte neu konstituierte. Dubnow prägte damit ein neues Normativ der jüdischen Nation und begründete ein modernes Selbstverständnis und eine säkulare Historiographie in und über die Diaspora. Dubnows Konzept des Autonomismus, welches auf der positiven Diasporadeutung aufbaute, stärkte das Judentum als Nation, nicht als Glaubensgemeinschaft, und würdigte die Selbstautonomie als die prägendste jüdische Erfahrung. Außerdem beeinflussten Dubnows Ideen laut Jilek die Pariser Friedensverhandlungen (1919) und die Gründung des Jüdischen Weltkongresses (1932), wodurch diese eine bisher kaum bekannte Wirksamkeit erhielten.

Vor dem Hintergrund der Begriffserweiterung stellt sich Tamar Lewinsky den damit verbundenen Schwierigkeiten und versucht, die jüdischen Displaced Persons (DPs) als Diasporagruppe greifbar zu machen. Die verschiedenen Bezugspunkte der jüdischen DPs, sei es zum politisch dominanten Zionismus, zur unterschiedlich aufgeladenen emotional-kulturellen Bindung an die Heimat in Osteuropa oder zur sich real etablierenden Annäherung an die neue Kultur- und Sprachlandschaft verdeutlichen den pluralen Charakter der DP-Gruppe. Gerade dies erschwert es Lewinsky, eine homogene Diasporagruppe herauszuarbeiten (S. 114).

Auch Stefan Wilbricht, der die zweitgrößte DP-Gruppe (die polnischen DPs) untersucht, muss sich mit ähnlichen Schwierigkeiten auseinandersetzen. Trotz kulturell-religiöser Aktivitäten in den DP-Lagern, die eine Gemeinschaft suggerierten, weist er keine spezifische Diasporamentalität nach. Dies führt er sowohl auf die Fluktuationen in den Lagern durch die Rück- oder Weiterwanderungen als auch auf die Verdrängung bzw. Selbststigmatisierung der polnischen Verbliebenen in Deutschland zurück. Deshalb hält Wilbricht die Definition von Jaroszyńska-Kirchmann, die polnischen DPs als politische Diaspora zu begreifen, für zu kurz gegriffen. Er bevorzugt dagegen das Konzept der „diasporic stances“, um eine umfassendere Darstellung zu gewährleisten (S. 126).

Michael Hirschfeld thematisiert in seinem Beitrag über die Ostvertriebenen in Niedersachsen nach 1945 fünf Bereiche, die prägend für die konfessionelle Diaspora in Niedersachsen wurden. Dazu zählt er die direkte Konfrontation mit Stereotypen, die Fremdheitserfahrung oder die katholisch verbalisierte Missionsidee. Dabei stellte er fest, dass die christlichen Begegnungen, die die neue Diaspora bedingte, nicht nur religiöse Konkurrenzsituationen neubelebten, sondern auch Möglichkeit der konfessionellen Innovation und Ökumene eröffneten. In Bezug auf die Nutzbarkeit der Kategorie plädiert Hirschfeld für eine Verbindung zwischen konfessionellen und analytischen Diasporadefinitionen, um der Kategorie die notwendige Schärfe zu erhalten.

Der Beitrag von Katrin Steffen folgt der Erweiterung des Diasporabegriffs und untersucht die deutschen Nachkriegsfilme als ein Medium für die Diasporakultur der Flüchtlinge und Vertriebenen. Obwohl für Steffen die Filme oft als eine ästhetisierte filmische Heimat (S. 171) fungierten und damit ein Medium der Erinnerungs- oder Verarbeitungskultur wurden, blieben sie auch ein politisches bzw. gesellschaftliches Instrument der Integration und der eigenen Geschichtskonstruktion. Die Filme beinhalteten damit zwar einige Merkmale einer Diasporakultur, etablierten aber eben nicht eine besondere Gruppenidentität.

In ihrer regionalen Studie demonstriert Petra Behrens die Besonderheit des Diasporabegriffs in Bezug auf das katholische Milieu im Eichsfeld. Die Sonderstellung der mehrheitlich katholischen Eichsfelder, die sich vor allem nach der deutsch-deutschen Teilung mit neuen Rahmenbedingungen auseinandersetzen mussten, stellt sie ins Zentrum ihrer Untersuchung. Dabei zeigt Behrens die unterschiedlichen politischen Interessen und Sozialisierungsmomente der Eichsfelder Diaspora auf und dokumentiert die Entwicklungen der Eichsfelder Identität zwischen der sich säkularisierenden BRD-Gesellschaft und der ideologisierenden DDR-Gesellschaft.

Eng damit verknüpft ist der Beitrag von Sagi Schaefer, der den Blick auf die unterschiedlichen Umgangsweisen der Bewohner des Eichsfeld mit der neubestimmten Grenze von 1952 lenkt und die klassische Annahme der religiösen Diaspora hinterfragt. Für Schaefer spielte dabei weniger die Definition, sondern viel mehr die Funktion der diasporischen Gruppe eine Rolle. Anhand der Veränderungen der Besitzverhältnisse nach der Grenzneuordnung erarbeitete Schaefer die Motive der Eichsfelder in bezug auf die Übernahme bzw. Verwaltung der durch die Grenzveränderung quasi 'herrenlos' gewordenen Grundstücke. Deutlich weist Schaefer die Zentralität der familiären Beziehungsgeflechte der katholischen Eichsfelder – auch über die deutsch-deutsche Grenze hinweg – nach und erklärt damit die unterschiedlichen Verhaltensweisen der protestantischen und katholischen Eichsfelder.

In einer weiteren Fallstudie analysierte Christian TH. Müller die US-amerikanischen Soldaten in Deutschland. Müller charakterisiert dabei die Lebenssituation der Soldaten und der deutschen Gesellschaft bedingt durch die rechtliche Autonomie und die soziale und kulturelle Absonderung der Soldaten als ein nebeneinander statt miteinander (S. 233). Die Berührungspunkte, wie zum Beispiel in bi-nationalen Ehen, in Wohn- oder Sozialeinrichtungen oder durch kulturelle Begegnungen (Headstart-Programm/Freundschaftswochen etc.), ließen für Müller keine intensiven Beziehungen entstehen. Gleichzeitig entwickelte sich aber auch keine geschlossene Diaspora-Gruppe der US-Soldaten.

Parallel dazu untersucht Silke Satjukow in ihrer Studie die sowjetischen Besatzer/Freunde in Deutschland 1945–1994. Ihre Analyse der Alltagsbeziehungen, Liebesverhältnisse etc. dokumentiert die schwierige Situation der Sondergruppe zur DDR-Gesellschaft. Das Gefühl Sieger des Krieges und Verlierer des Alltags seitens der sowjetischen Soldaten bzw. Verlierer des Krieges und Sieger des Alltags seitens der DDR-Bürger zu sein (S. 248–249), bestimmt laut Satjukow viele Annäherungs- und Abgrenzungsmomente. Trotz gemeinsamer und/oder gleicher Erfahrungen stellt sie aber fest, dass sich eine geschlossene Diaspora der sowjetischen Besatzer/Freunde ebenfalls nicht etablierte.

Martin Sökerfeld, der in seinem Beitrag die Verbindung zwischen Diaspora und Fremdheit auflöst, gewährt in seiner Fallstudie neue Einblicke in die Geschichte der Kashmiris in Großbritannien. Seine offene Definition der Diaspora als vorgestellte transnationale Gemeinschaft (S. 258) und seine Annahme, dass eine Diaspora nicht automatisch durch Migration, sondern durch Prozesse sozialer und kultureller Mobilität entsteht, ermöglichen ihm, die noch nicht abgeschlossene Entwicklung der Kashmiri-Gruppe zu analysieren. Nach seiner Meinung konnte sich durch die Mobilisierungsmöglichkeiten in Großbritannien ein Selbstverständnis der British Kashmiris entwickeln, welches sich aber nicht über die Fremdheit in Großbritannien definierte (S. 271).

Auch Lars Amenda widmet sich im letzten Beitrag über chinesische Seeleute einer schwierig zu fassenden Gruppe. Er betont dabei den Prozesscharakter der chinesischen Arbeitsmigration, die die Entwicklung einer chinesischen Diaspora erschwerte. Trotz der Entwicklung von chinesischen Kolonien in den europäischen Hafenstädten entstand laut Amenda nur ansatzweise eine diasporische Kultur (S. 289). Vielmehr wurden die Kolonien und die mediale Präsentation der Chinesen zu Imaginationsräumen der Gesamtgesellschaft, die sich aber auf keine dauerhafte Diaspora zurückbeziehen konnten.

Der vorliegende Sammelband zeigt deutlich, dass die Erweiterung des Diasporabegriffs interessante Perspektiven auf unterschiedliche Themen frei gibt und durch die Nutzung dieser Kategorie neue Erkenntnisse gewonnen werden können. Gleichzeitig zeugen die Studien aber auch davon, dass die Nutzung der Kategorie Diaspora Schwierigkeiten mit sich bringen kann. Das Ersetzen des Diasporabegriffs durch neue Begrifflichkeiten wie zum Beispiel „diasporic stances“, „diasporische Praktiken“ und viel mehr veranschaulicht das Potential einer ausdifferenzierten Bedeutungsdefinition der Diasporakategorie. Der Verdienst des Sammelbandes von Miriam Rürup ist es daher, das Bewusstsein für die Schwierigkeiten als auch die Möglichkeiten der Kategorie Diaspora erneut geschärft zu haben.

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