Diese Studie verfolgt einen dreifachen Vergleich: zeitlich zwischen den beiden Kriegen von 1870/71 und 1914-1918, interregional zwischen den Städten Orléans und Frankfurt (Oder), sowie sachlich zwischen der Erfahrung des Krieges an der Front und in der von ziviler und militärischer Mobilisierung geprägten Heimat. Denn mit Orléans und Frankfurt richtet sich der Blick auf Städte, in denen jeweils Regimenter aller drei Waffengattungen stationiert waren. Am Vorabend des Ersten Weltkrieges waren von 64.000 bzw. 69.000 Einwohnern deshalb rund 8.000 bzw. 5.000 Militärpersonen, und die Regimenter spielten eine wichtige Rolle im sozialen Gefüge und in der politischen Selbstdarstellung der beiden Städte. Mit dem Fokus auf die horizontale symbolische Vergemeinschaftung im Rahmen des Regiments und auf die Beziehungen zwischen Militärs und Zivilisten in Garnisonsstädten knüpft die Verfasserin an die in Großbritannien stark entfaltete Forschung zu Regimentskulturen an und macht diese erstmals auf umfassende Weise in der deutschsprachigen Militärgeschichtsschreibung fruchtbar. Regimenter sind, so verstanden, nicht nur funktional definierte Kampfverbände. Sie sind auch und mehr noch ein Beispiel für erfundene Traditionen, deren symbolische Ausgestaltung seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gerade dann an Bedeutung gewann, als die Technisierung der Kriegführung und die Professionalisierung des Militärs voranschritten. Die Metapher vom Regiment als einer „Familie“ fasste prägnant die Selbstbeschreibung einer sozialen Formation zusammen, die aus dem „Ineinander aus harmonischen Beziehungen, klaren Hierarchien und Rollenzuweisungen sowie unbedingter Loyalität“ bestand (S. 84). Das war von den aggressiven Geschlechterbildern eines Männerbundes ebenso weit entfernt wie von den konfliktbeladenen Realitäten der Klassengesellschaft, erwies sich aber spätestens unter den Bedingungen des Ersten Weltkrieges, der personell wie funktional von dem im August 1914 mobilisierten Personenverband bald buchstäblich nichts mehr übrig ließ, zunehmend als eine leere Hülse. Im Moment des Sieges 1918/19 konnte die Regimentskultur in Orléans den engen lokalen Rahmen immerhin endgültig transzendieren und sich darauf berufen, dass man „die Freiheit der Welt gerettet“ habe (S. 400). Die nach Frankfurt zurückkehrenden Offiziere sahen sich dagegen mit einer Heimat konfrontiert, die die Revolutionierung des wilhelminischen Systems als einen Erfolg verbuchte, und der 1920 gegründeten „Offiziersvereinigung Leibregiment“ blieb denn auch nichts anderes übrig, als einen acht Montate alten „Fahnenjunker“ als Mitglied zu führen, um die Fiktion der Kontinuität aufrecht zu erhalten (S. 403).
Der auf das Regiment als Ort militärischer Vergemeinschaftung bezogene Ansatz fördert für beide Kriege wichtige Ergebnisse zutage, von denen hier nur einige eher summarisch benannt werden können. Am Beispiel von 1870/71 wendet sich die Autorin gegen überzogene Kontinuitätsthesen, welche die Brutalität der preußischen Kriegsführung überbetonen und ihr Vorgehen gegen die Zivilbevölkerung als direkte Vorgeschichte der Greueltaten des August 1914 lesen. Demgegenüber wird die Ambivalenz der preußischen Offizierskultur herausgearbeitet, die sowohl zur Begrenzung der Gewalt gegenüber dem mit Respekt betrachteten „Gegner“ als auch zu deren Enthemmung gegenüber dem „Feind“ fähig war, wobei es vom konkreten Kontext des „partiell auflodernden“ Volkskrieges abhing, wann und wie stark das Pendel in die zweite Richtung ausschlug (S. 105). Das preußische Offizierkorps konnte sich dabei nicht recht mit der nationalpolitischen Lesart anfreunden, welche den Sieg als eine Leistung für die deutsche Nation glorifizierte, auch wenn vom Glanz dieser Gloriole sehr viel für die Wertschätzung des Militärs abfiel (S. 144). Mit der gelungenen Auswertung einer reichen Überlieferung an Selbstzeugnissen von Zivilisten gelingt der Nachweis, dass für die bürgerlichen Orléanais 1870/71 „die Angst der Besitzenden vor dem inneren sozialen und politischen Feind“ die vor dem nationalen Gegner oft übertraf (S. 161). Das Verhältnis der französischen Bürger zu ihrer Armee blieb ambivalent, weil weder die kaiserliche noch die republikanische ihre Sicherheit garantieren konnten, zumal das realiter als „relativ glimpflich“ charakterisierte Besatzungsregime der Preußen durch die nationalistische Perzeption der Feindstereotype überholt wurde und damit Unsicherheit erzeugte (S. 166f.).
Für den Ersten Weltkrieg arbeitet die Autorin unter anderem die nicht immer problemlosen Lernprozesse in der französischen Armee heraus, die nach den verheerenden Verlusten in der ersten Kriegsphase, in welcher der „Kult der Offensive“ noch ungebrochen war, in Gang gesetzt wurden. Im Gefolge der Meutereien des Frühjahrs 1917 fanden „Aushandlungsprozesse“ zwischen Offizieren und Mannschaften statt, die zu einem Verständnis von Autorität und Führertum führten (S. 266). Solche Lernrpozesse blieben in der deutschen Armee aus. Dafür war in der Tat nicht ein einfacher „Klassenantagonismus“ die Ursache (S. 272), sondern wohl eher die Tatsache, dass die in allen Armeen zu beobachtenden Klassenspannungen durch die ständische Prägung des deutschen Offizierkorps überformt waren, wovon die Einführung des Feldwebelleutnants treffend Zeugnis ablegt. Belege für ein „kameradschaftliches Verhältnis“ zwischen Frontoffizieren und ihren Mannschaften bleiben dünn und eher apokryph, gegenläufige Belege werden nicht diskutiert (S. 269). Gänzlich abwegig ist die These, dass „Klagen“ über Offiziere bis 1916 auf dass Ersatzheer beschränkt waren (S. 271). Für die Erklärung der divergierenden Prozesse von Reintegration und Desintegration der französischen bzw. deutschen Armee 1918 (S. 292-315) stützt sich die Verfasserin ganz vorwiegend auf die Befunde der Studie von Alexander Watson, ohne die äußerst spärliche Quellengrundlage für dessen Kernthesen und zahlreiche andere Mängel zu diskutieren.1
Die vorliegende Studie versteht sich als ein Beitrag zu einer “integrative[n] Militärgeschichte“, welche zu Recht die konzeptionelle Einseitigkeit einer auf die Opferrolle der Soldaten fokussierten Militärgeschichte „von unten“ (Wolfram Wette) zu vermeiden sucht (S. 20). Sie entwirft stattdessen ein komplexes Bild des Militärs im Krieg, in dem – erstens – die horizontale Vergemeinschaftung zwischen den verschiedenen Rangstufen ebenso zu ihrem Recht kommt wie die vertikalen Fliehkräfte, und welche – zweitens – das historisch veränderliche Verhältnis zwischen der notwendigen funktionalen Anpassung an wechselnde Kontexte des Gefechts und der symbolischen Integration von Truppenteilen durch „Tradition“ als eine fundamentale Spannung in den Armeen im modernen Krieg begreift. Vor allem mit Blick auf diese zweite Dimension legt die Autorin viele innovative und analytisch weiterführende Einsichten vor, die das Verständnis der beiden behandelten Kriege systematisch vertiefen. Hinsichtlich der ersten Dimension fällt das Urteil deutlich kritischer aus: zu oberflächlich und aspekthaft bleibt die Rekonstruktion der Ziele der Soldaten und des Einflusses, den sie auf das Herrschaftsgefüge in den Armeen hatten, und zu sehr ähnelt das im Endeffekt einer auf die Perzeption der Offiziere begrenzten und deshalb Konfliktpotenziale systematisch unterschätzenden „Militärgeschichte von oben“. Kaum einmal wird für französische oder deutsche Mannschaftssoldaten in beiden Kriegen plausibel, dass sie das „Gefühl“ hatten, „Mitglied einer organischen Einheit zu sein.“ (S. 414) Das ist meines Erachtens zum großen Teil ein Resultat der durch die Auswahl der Regimenter vorgefundenen Quellenlage und deren spezifischer, begrenzter Perspektivik. So ist es etwa kein Wunder, dass sich in den „Kriegstagebüchern der brandenburgischen Regimenter (...) kein Indiz einer revolutionären Politisierung der Soldaten“ im Herbst 1918 findet (S. 308). Um deren beträchtliches Ausmaß und ihre Effekte zu ermessen, muss man schlicht und einfach andere Quellengruppen auswerten, denn die Realitätsverweigerung der preußischen Offiziere gegenüber den sozialen Realitäten in der Truppe setzte lange vor Kriegsende ein. Es gibt dennoch zu denken, dass Wilhelm Deist seine von der Autorin zurückgewiesene These eines „verdeckten Militärstreiks“ 1918 gerade auch am Beispiel von Regimentsgeschichten belegt hat, die eine der in dieser Studie am häufigsten herangezogenen Quellengattungen sind.2
Anmerkungen:
1 Vgl. Alexander Watson, Enduring the Great War: Combat, Morale and Collapse in the German and British Armies, 1914-1918, Cambridge 2008, hier bes. S. 184-231.
2 Wilhelm Deist, Verdeckter Militärstreik im Kriegsjahr 1918?, in: Wolfram Wette (Hrsg.), Der Krieg des kleinen Mannes. Eine Militärgeschichte von unten, München 1992, S. 146-167.