Viel hat sich getan auf dem Feld der Intellektuellengeschichte. Die neuere französische Forschung nutzt ein Ensemble von vier methodischen Instrumenten: die Medien, Institutionen und gesellschaftlichen Kommunikationsnetze (lieux et réseaux de sociabilité); die Alterskohorten mit ihren spezifischen Erfahrungen und Lebensformen (générations); die Biographien und Karrierewege (itinéraires) sowie die Anlässe des öffentlichen Engagements (moments). Michel Winock hat auf dieser Basis 1999 seine beeindruckende Nationalgeschichte vom „Siècle des Intellectuels“ geschrieben.1 Das zuvor abseits stehende England hat Stefan Collini mit einer Studie von 2006 souverän an eine vergleichende europäische Geschichtsschreibung herangeführt.2
Mit seiner Monographie „Die Epoche der Intellektuellen“ will sich der emeritierte Kölner Sprachhistoriker Dietz Bering jetzt an die Spitze der Forschung setzen. An Winock arbeitet er sich rivalisierend ab. Collini, der ihm für einen nationalkulturellen Vergleich näherstehen müsste, nimmt er nicht zu Kenntnis. Stattdessen wirbt er für seine eigene Arbeit mit selbstbewusstem Gestus: Erzählten bisherige Bücher zur Intellektuellengeschichte wie namentlich dasjenige von Winock „begriffsnaiv, was ‚die Intellektuellen‘ so alles gemacht haben oder tun sollen, so erscheint zur Buchmesse [im Herbst 2010] erstmals eines, das umfassend nachzirkelt, welche Formungen das Wortwerkzeug seit seinem ersten manifesten Auftreten durchgemacht hat“.3
Die Erwartungen werden gesteigert durch die programmatische Widmung: „Zur Erinnerung an Reinhart Koselleck“. Bei Koselleck sind Begriffe semantisch-anthropologische „Gefäße“, in denen Menschen ihre Erfahrungen sammeln, Erfahrungsräume ordnen und Erfahrungsbrüche markieren.4 Zweifelsfrei gehört „Intellektueller“ zu den politisch-kulturellen Grundbegriffen, an denen sich die Leistungsfähigkeit der Historischen Semantik demonstrieren lässt, und Bering insistiert zurecht darauf, Handlungsräume stets als sprachlich vorstrukturiert zu begreifen, als einen „echobereiten Hallraum“ (S. 452).
Wie schallt nun ein in Frankreich spezifisch aufgeladener Begriff in den deutschen Erfahrungsraum hinein, wie verbindet er sich hier mit vergleichbaren Selbst- und Fremdbezeichnungen geistig-intellektueller Tätigkeit und prägt die Nationalkultur der Deutschen? Um das zu beantworten, „wächst sich die Darstellung fast zu einer Geschichte des 20. Jahrhunderts aus“ (S. 19). Bering folgt einer selbstgelegten Spur: Die jetzige Studie ist die opulente Fortführung seiner einschlägigen Anti-Intellektuellengeschichte von 1978 5, verfeinert durch Kosellecks Geschichtstheorie und ergänzt durch Materialien zum Kalten Krieg, zum „Tod der Intellektuellen“ in den späten 1970er-Jahren und zur raschen „Auferstehung“ in den späten 1980er-Jahren.
Vom sprachgeschichtlichen Ansatz her ist es konsequent, wenn Bering sich Vorab-Definitionen seines Gegenstandes versagt: „Wir beschreiben vielmehr die Verwendungsgeschichte des Begriffs in ganzer Breite“; nur das bringe den „Kampf um Begriffe in der sprachlichen Wirklichkeit“ hinreichend zur Geltung (S. 610, Anm. 22). Dennoch mag Bering auf eine normative Vorklärung nicht verzichten. Gleich zu Beginn kennzeichnet er die „Intellektuellen“ als „Verteidiger der gefährdeten Demokratie“, die dafür gesorgt hätten, „dass im faschistoiden Frankreich der Dreyfus-Affäre die Demokratie gerettet und als Staatsform dann endgültig gefestigt werden konnte“ (S. 15). Zu oft hätten sie hernach im 20. Jahrhundert geschwiegen oder ihren Auftrag verleugnet, und heute seien sie sich ihrer „Wurzeln“ schon gar nicht mehr bewusst. Sie daran zu erinnern, das ist Berings übergreifender Anspruch. Diese werthaltige Eingrenzung steht nun schwerlich im Einklang mit der reklamierten breiten semantischen Verwendungsgeschichte. Der Widerspruch zeigt sich denn auch deutlich in den vier epochalen Komplexen, die das Buch in insgesamt 16 Kapiteln behandelt: die Geburt des modernen Intellektuellen aus der Dreyfus-Affäre; der Siegeszug eines Schimpfwortes mit dem nationalsozialistischen Triumph; die Aufwertung der deutschen Intellektuellen in der Zeit des Kalten Krieges; Europas postmoderne Ambivalenzen und die Revolutionen von 1989.
Zwar sollen die Verwendungsweisen in der deutschen Öffentlichkeit untersucht werden – aber unter der Devise „Francia docet“. Ausführlich berichtet Bering, wie das Wort „les intellectuels“ als Fahnenwort der Dreyfusards und als Schimpfwort der Anti-Dreyfusards die Spaltung der französischen Gesellschaft förderte. Die „Positionsmeldungen“ aus Deutschland (S. 61-84), die nicht unerwartet auf Thomas Manns Abwehrrhetorik in den „Betrachtungen eines Unpolitischen“ zulaufen, sind dagegen allzu aussageschwach. Nichts erfährt der Leser davon, dass die Goethebünde, die als außerparlamentarische Opposition gegen Zensur und für die „Freiheit der Kultur“ kämpften, sich „Sammlung der Intellektuellen“ nannten; nichts davon, dass die emanzipatorische Frauenbewegung einen Roman der Wiener Schriftstellerin Grete Meisel-Heß besitzt, mit dem bezeichnenden Titel „Die Intellektuellen“ (1911); auch nichts davon, dass Max Weber den Begriff in seinem übergeordneten europäischen Bedeutungsgehalt mit „Intellektualismus“ verband und ihn zu einem Grundbegriff seiner Universalgeschichte aufwertete. Kurz, das Bedeutungsspektrum des Begriffs ist breiter und die Zirkulation in den öffentlichen Debatten lebhafter, als Berings Darstellung des Wilhelminischen Kaiserreichs bis zu seinem kriegsbedingten Untergang es glauben macht.
Spannend wiederum liest sich das Fernduell zwischen Heinrich Mann und Joseph Goebbels. Heinrich Mann, der vom nationalistischen Anti-Dreyfusard der 1890er-Jahre zum Verfechter der Intellektuellentugenden im Sinne Zolas konvertierte, wird ausführlich vorgestellt als der „vielleicht scharfsichtigste Beobachter der Weimarer Republik“ (S. 224). Und aus Goebbels’ Mund kam alles, was an Ressentiments durch die Massenmedien flutete: „Intellektbestie“, „Intellektuaille“, „Nörgler“, „Neinsager“ – stets antisemitisch grundiert. Mit Recht fragt Bering aufs Neue, wo denn die Stimme des liberalen Bürgertums zur Rechtfertigung der demokratischen Ordnung gegen die Zerstörungsdiskurse der Nationalsozialisten, aber auch der Marxisten, überhaupt vernehmbar war. Man weiß, sie war schwach und vielen Problemen nicht gewachsen. Aber ihre Protagonisten wie den 1923 (nicht 1922) verstorbenen Ernst Troeltsch als Intellektuellenverächter einzuführen liegt neben der Sache. Mit Nachdruck hat Troeltsch im „Berliner Tageblatt“ 1921 öffentlich die „Wahlpflicht der Intellektuellen“ angemahnt. Es gibt durchaus mehr als „nur zwei Belege“ (S. 261) für „positive Versuche“ und Selbstbezeichnungen.
Was eine Intellektuellengeschichte bedeutsam macht, und das wird für die dritte Epoche des Kalten Krieges deutlicher, ist die Vehemenz der Ideenkämpfe, die Art, wie in Deutschland nicht anders als in Frankreich oder England Intellektuelle ihre intellektuellen Gegner als „Intellektuelle“ attackieren. Anhand der „Gruppe 47“ sowie am Beispiel wichtiger Zeitschriften der 1950er- und 1960er-Jahre legt Bering in diesem gelungensten Teil seiner Geschichte zentrale Argumentationsmuster der intellektuellen Gründungsgeschichte der Bundesrepublik frei. Sollte man aber die einflussreiche Zeitschrift „Der Monat“ nur als CIA-finanziertes „antitotalitäres Kampfblatt“ (S. 292) betrachten? Mentalitätsprägend waren doch die Gewöhnung an einen westlichen Lebensstil und die Akzeptanz eines pluralen Demokratiebewusstseins.
Der verschärfte Pluralismus der „Postmoderne“ verabschiedete zu Berings Bedauern den universalistischen Typus à la Sartre. Lyotard wollte ihn gleich ganz beerdigen, Bourdieu setzte verstärkt auf die Qualitäten des „Experten“. 1989/90 war dann plötzlich die Erwartung wieder groß. Umbruchzeiten seien Hochzeiten für Intellektuelle, befand Ralf Dahrendorf, und verfasste rückblickend ein ganzes Buch über „Die Intellektuellen in Zeiten der Prüfung“.6 Bering trägt viele Quellen zusammen – so kann man noch einmal den „Literaturstreit“ um Christa Wolf nachlesen und die Klage der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ über die „schweigende“ Intellektuellenkaste im Angesicht der deutschen Wiedervereinigung. Für Jürgen Habermas haben dagegen zu viele Sänger die Macht hofiert, während zu wenige den „DM-Nationalismus“ kritisiert hätten.
Ein „Hieb- und Stichwort-Verzeichnis“ listet abschließend die Schimpfwörter bis in feinste metaphorische Verästelungen von „Brille“ und „blutlos“ über „Kehrichthaufen“ und „Phrasenhänse“ bis zu „Witzemacher“ und „Zersetzer“ (S. 729-739). Das „Gegen-Schlagwort-Verzeichnis“ mit positiven Begriffen fällt erheblich kürzer aus (S. 740-745). Das liegt daran, dass hier nicht sorgfältig gesucht wurde; es fehlt ein so zentraler Begriff wie „engagierter Beobachter“ (spectateur engagé), mit dem Raymond Aron einen Gegentypus zu Sartre entwickelte und den später Ralf Dahrendorf oder Fritz Stern für ihre intellektuellen Einmischungen beanspruchten. Es fehlt Schumpeters Sprachbild vom „Störungsfaktor“ (nuisance factor), das die Intellektuellensoziologie der 1960er-Jahre stimuliert hat. Die beiden asymmetrischen Wörterverzeichnisse bestätigen einen generellen Lektüreeindruck: Das Buch ist gedanklich sprunghaft und semantisch inkonsistent geschrieben. Mal geht es um den Begriff, fett und kursiv hervorgehoben, mal baut Bering in alter ideologiekritischer Manier freischwebende Zitate ein, in denen der Autor „ganz darauf verzichtet, der Kategorie ‚Intellektueller‘ einen Platz in seiner Argumentation anzuweisen“ (S. 454). Historiker werden noch einmal neu ansetzen müssen, um die deutschen Eigenheiten der europäischen Epoche der Intellektuellen zu ergründen.
Anmerkungen:
1 Michel Winock, Le Siècle des Intellectuels, Paris 1999 (dt.: Das Jahrhundert der Intellektuellen, Konstanz 2003). Zur Methodik vgl. Jacques Juillard / Michel Winock (Hrsg.), Dictionnaire des intellectuels francais. Les persons, les lieux, les moments, 2. Aufl. Paris 2002.
2 Stefan Collini, Absent Minds. Intellectuals in Britain, Oxford 2006.
3 Dietz Bering, „Intellektueller“: Schimpfwort – Diskursbegriff – Grabmal?, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 60 (2010) H. 40, S. 5-12, hier S. 5; auch online unter <http://www.bpb.de/publikationen/HPXT6O,0,Intellektueller%3A_Schimpfwort_Diskursbegriff_Grabmal.html> (04.04.2011).
4 Vgl. Jörn Leonhard, Erfahrungsgeschichten der Moderne. Von der komparativen Semantik zur Temporalisierung europäischer Sattelzeiten, in: Hans Joas / Peter Vogt (Hrsg.), Begriffene Geschichte. Beiträge zum Werk Reinhart Kosellecks, Frankfurt am Main 2011, S. 423-448.
5 Dietz Bering, Die Intellektuellen. Geschichte eines Schimpfwortes, Stuttgart 1978.
6 Ralf Dahrendorf, Versuchungen der Unfreiheit. Die Intellektuellen in Zeiten der Prüfung, München 2006. Rezensiert von Daniel Morat: Rezension zu: Dahrendorf, Ralf: Versuchungen der Unfreiheit. Die Intellektuellen in Zeiten der Prüfung. München 2006, in: H-Soz-u-Kult, 21.07.2006, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2006-3-050> (04.04.2011). Der Titel findet sich in Berings Literaturverzeichnis irrtümlich unter „Dahle“ (S. 702).