Cover
Titel
Klassen-Bilder II. Sozialdokumentarische Fotografie 1945-2000


Autor(en)
Stumberger, Rudolf
Reihe
Schriftenreihe des Instituts für Sozialdokumentation München 2
Erschienen
Konstanz 2010: UVK Verlag
Anzahl Seiten
311 S., 68 SW-Abb.
Preis
€ 34,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Thomas Hertfelder, Stiftung Bundespräsident-Theodor-Heuss-Haus, Stuttgart

Mit dem zweiten Band seiner Studie „Klassen-Bilder“ knüpft Rudolf Stumberger an seine 2007 publizierte Frankfurter Habilitationsschrift an, in der er die visuelle Konstruktion des Sozialen zwischen 1900 und 1945 anhand ausgewählter Beispiele sozialdokumentarischer Fotografie aus Deutschland, Frankreich, England, der UdSSR und den USA untersucht hat.1 Den im ersten Band noch formulierten Anspruch, eine „Geschichte der sozialdokumentarischen Fotografie“ vorzulegen, greift Stumberger im zweiten Band zwar nicht mehr auf, doch folgt das Gesamtwerk einem klar erkennbaren Narrativ: Die Arbeit erzählt vom Aufstieg der sozialdokumentarischen Fotografie, die gegen Ende des 19. Jahrhunderts bei der Elendsfotografie eines Jacob A. Riis („How the other Half lives“) ihren Ausgang genommen und während der Großen Depression der 1930er-Jahre in kanonisch gewordenen Großprojekten einer ganzen Epoche ihre Ikonen geliefert hat; sie erzählt im zweiten Band weiter von der Krise und dem Formwandel des Genres während der Nachkriegsjahrzehnte und endet schließlich mit seinem relativen Niedergang am Ende des 20. Jahrhunderts.

Methodisch folgt Stumberger dem kultursoziologischen Ansatz Pierre Bourdieus, indem er die sozialen Beziehungen zwischen den am Zustandekommen einer Fotografie beteiligten Akteuren sowie den gesellschaftlichen und ideologischen Hintergrund der Bildproduktion in den Mittelpunkt der Analyse stellt. Die ökonomische Abhängigkeit des Dokumentarfotografen von seinen institutionellen Auftraggebern, die Beziehung zwischen Fotograf und Objekt, die antizipierten Reaktionen eines von spezifischen Geschmacks- und Wahrnehmungsmustern geprägten Publikums, das mediale Framing, die Mechanismen der Selektion und Distribution sowie schließlich die seit Bourdieu zum Topos avancierten „sozialen Gebrauchsweisen“ der Fotografie – anhand dieser (keineswegs nur auf Bourdieu zurückgehenden) Kategorien hat die historische Analyse sozialdokumentarischer Fotografie seit den 1980er-Jahren in der Tat beachtliche Ergebnisse zutage gefördert.2

Mit dem weit gespannten Anspruch, ein ganzes Jahrhundert sozialdokumentarischer Fotografie analytisch zu vermessen, steht Stumbergers zweibändiges Werk vor der doppelten Schwierigkeit, zum einen aus der unermesslichen Materialfülle eine vertretbare Auswahl treffen zu müssen, zum anderen aber auch der zunehmenden Verflüchtigung des Forschungsgegenstands zu begegnen. Das erste Problem löst Stumberger vor allem im ersten Band dadurch, dass er sich weitgehend auf den großen Kanon verlässt und sich prominenten, vielfach erforschten Themen zuwendet – etwa den Fotografien von Lewis Hine, dem gewaltigen Dokumentationsprojekt der Farm Security Administration in den USA und der Arbeiterikonografie der Weimarer Republik. Das zweite Problem, dass dieser Kanon im Fortgang der zweiten Jahrhunderthälfte zunehmend zerbröselt und die sozialdokumentarische Fotografie am Ende nur mehr ein Nischendasein fristet, versucht Stumberger durch eine Ausweitung der Definition zu lösen: Versteht er im ersten Band unter sozialdokumentarischer Fotografie noch eine sozial engagierte Fotografie, die in der Darstellung der Unterprivilegierten auf eine Veränderung der fotografisch festgehaltenen Situation ziele, so bezieht er in seiner „pragmatischen Definition“ des zweiten Bandes die „Dokumentation und Analyse des Sozialen“ im Medium der Fotografie mit ein (S. 10). Der Visualisierung der „feinen Leuten“ oder des juste milieu, der sich in Deutschland etwa die Fotografin Herlinde Koelbl gewidmet hat, schenkt Stumberger indessen nur wenig Aufmerksamkeit, so dass seine Geschichte der sozialdokumentarischen Fotografie am Ende doch die eines Niedergangs bleibt.3

Stumberger gliedert seinen Untersuchungszeitraum in die Jahre 1945 bis 1975, die er mit Eric Hobsbawm das „Goldene Zeitalter“ nennt, und in den Rest des Jahrhunderts, den er im Zeichen des „Terrors der Ökonomie“ stehen sieht. Die fotografischen Abbildungsmodi der ersten Jahrhunderthälfte, die Stumberger in seinem ersten Band für die Zeit 1900–1945 herausgearbeitet hat („gefährliche Klasse“, „problematische Klasse“, „kämpfende Klasse“ und „propagierte Klasse“), tragen für die drei folgenden Dekaden nicht mehr. Im „Goldenen Zeitalter“ – gekennzeichnet durch Vollbeschäftigung, Ausbau des Sozialstaats, Dominanz industrieller Arbeit und Produktion, Sozialpartnerschaft statt Klassenkampf – erscheint die Arbeiterschaft, für Stumberger der Inbegriff der unterprivilegierten Klasse, nun statt dessen in den Visualisierungsmodi der „beiläufigen, alltäglichen Arbeiterklasse“ (etwa im Pittsburgh-Projekt von Eugene W. Smith), der „partnerschaftlichen Arbeiterklasse“ (zum Beispiel in den Arbeiterporträts von Milton Rogovin oder Stefan Moses), der „sozialreformatorischen Arbeiterklasse“ (so in den Fotografien der Gewerkschaftszeitschrift „Metall“) sowie, seit den 1970er-Jahren, in der „Arbeiterklasse auf dem Rückzug“, deren Kampf allenfalls der Verteidigung des Bestehenden, nicht mehr seiner Veränderung gilt. Diese Klassifizierungen mögen in ihrer empirischen Fundierung und analytischen Trennschärfe unbefriedigend erscheinen, doch machen sie, wie schon im ersten Band, eine wesentliche Stärke der Untersuchung aus: Sie schlagen Schneisen in das riesige und disparate Material. Gemeinsam ist den genannten Abbildungsmodi, dass die Arbeiterschaft im „Goldenen Zeitalter“ zwar visuell präsent bleibt, an der fotografischen Dokumentation ihrer Arbeitswelt jedoch kaum Interesse zeigt; zugleich wird die sozialdokumentarische Fotografie mehr und mehr das Werk einzelner Fotografen, die, oftmals ohne institutionelle Anbindung, ihrer Arbeit unter erheblichem ökonomischem Druck nachgehen.

Das Zeitalter des „Terrors der Ökonomie“ – ein 1996 von Viviane Forrester in Umlauf gebrachter Begriff – beginnt für Stumberger Mitte der 1970er-Jahre und bezieht seine spezifische Signatur aus einem oft beschriebenen, fundamentalen Strukturwandel: der Transformation der Industriegesellschaft zur Dienstleistungsgesellschaft, dem Niedergang der klassischen Schwerindustrie, der Rückkehr der Massenarbeitslosigkeit, der Deregulierung der Märkte, der Ökonomisierung der Gesellschaft, dem Rückbau des Sozialstaats sowie schließlich der Digitalisierung von Kommunikation und Ökonomie. Diese sehr plakativ gezeichneten, keineswegs für alle westlichen Länder gleichermaßen geltenden Tendenzen haben zur Folge, dass mit den großen Fabriken auch die Arbeiterklasse als maßgebliche gesellschaftliche Kraft allmählich verschwindet und buchstäblich devisualisiert wird. Der sozialdokumentarischen Fotografie kam damit nicht nur einer ihrer klassischen Gegenstände abhanden; sie geriet mit dem Aufstieg der Kunstfotografie seit Mitte der 1970er-Jahre auch ästhetisch und ökonomisch unter Druck. Als Ware auf einem rasch expandierenden Kunstmarkt wird die Dokumentarfotografie ihrer spezifischen, auf Veränderung abzielenden Brisanz entkleidet und im Modus ästhetischer Wahrnehmungsweisen neu kodiert. Hier zeigt sich erneut die Stärke des Bourdieuschen Ansatzes: Auf dem Feld der Kunst, in dessen Bann auch die Dokumentarfotografie gerät, herrschen andere Spielregeln. Nun geht es darum, im bewusst herbeigeführten Bruch mit Abbildungskonventionen einen Distinktionsgewinn zu erzielen, konkrete Wirklichkeitserfahrung – einst Grundlage der Dokumentarfotografie – visuell zu unterlaufen und in einer Welt sozialer Interessenkonflikte eine nur noch von wechselnden ästhetischen Kategorien bestimmte „Interesselosigkeit“ zu demonstrieren. Die „soziale Perspektive“, Stumbergers Schlüsselkategorie (vgl. den ersten Band, S. 24f.), verliert bei Fotografen wie Jeff Wall, Andreas Gursky oder Tom Hunter schlechthin ihre analytische Kraft. Vollends wird der sozialdokumentarischen Fotografie klassischen Zuschnitts schließlich der Boden entzogen, wenn im Übergang zur Digitalfotografie die bereits zuvor oft genug in Frage gestellte Differenz von „Realität“ und „fotografischem Abbild“ definitiv aufgehoben und in der postmodernen These von der „Agonie des Realen“ (Jean Baudrillard) delegitimiert wird.

Damit möchte Stumberger seine Erzählung vom Aufstieg und Niedergang eines sozialen Mediums indessen nicht beschließen. Vielmehr sieht er grimmig und „aller postulierten Postmoderne zum Trotz“ (S. 179) ein Fortbestehen der Abbildungsmodi der „kämpfenden Klasse“ und der „Arbeiterklasse auf dem Rückzug“ – etwa im „kritischen Realismus“ des amerikanischen Foto-Konzeptionalisten Allan Sekula, den frühen Arbeiten des britischen Sozialdokumentaristen Martin Parr oder in dem Netzwerk um die seit 1972 in der Bundesrepublik erscheinende, DKP-nahe Verbandszeitschrift „Arbeiterfotografie“, der Stumberger ein langes Kapitel widmet (S. 215-255).

Mit diesem überproportionierten Abschnitt, aber auch der Einbeziehung seiner eigenen fotografischen Arbeiten (!) und einem etwas zu freimütigen kämpferischen Pathos gerät die vorzüglich formulierte Studie an ihrem Ende in eine merkwürdige Unwucht, die man aus dem Unmut des Autors über den Niedergang des von ihm hochgeschätzten sozialdokumentarischen Paradigmas erklären mag. Zu wenig thematisiert er dabei den Wahrheitsbegriff, den dieses Paradigma für sich reklamierte und der nicht erst durch postmoderne Theorien, sondern bereits im ersten Nachkriegsjahrzehnt in eine Krise geraten war. Stumbergers analytischer Ansatz ist im Prinzip überzeugend, in der Verabsolutierung der „sozialen Perspektive“ als einer Klassenperspektive aber auch überzogen. Indem die Studie nämlich ästhetische und formale Kategorien nahezu durchgehend ausblendet, bleibt sie der Objektfixierung der Dokumentarfotografen verhaftet und kommt zum Beispiel den wirkungsvollen ikonographischen Mustern nicht auf die Spur. Insgesamt aber empfiehlt sich die Studie in ihrem weit gefassten zeitlichen Rahmen, in ihrer inneren Schlüssigkeit und ihrem engagierten Duktus als eine analytisch anspruchsvolle Einführung in die sozialdokumentarische Fotografie des vergangenen Jahrhunderts.

Anmerkungen:
1 Rudolf Stumberger, Klassen-Bilder. Sozialdokumentarische Fotografie 1900–1945, Konstanz 2007 (vgl. Rolf Sachsse: Rezension zu: Stumberger, Rudolf: Klassen-Bilder. Sozialdokumentarische Fotografie 1900-1945. Konstanz 2007, in: H-Soz-u-Kult, 26.03.2008, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2008-1-230>).
2 Vgl. z.B. John Tagg, The Burden of Representation. Essays on Photographies and Histories, London 1988; Maren Stange, Symbols of Ideal Life. Social Documentary Photography in America 1890–1950, Cambridge 1989.
3 Fasst man die „Dokumentation und Analyse des Sozialen“ breiter und berücksichtigt neben Klassenlagen etwa auch Wohnverhältnisse, Geschlechterbeziehungen, Vereinsaktivitäten und migrantische Identitäten, ergibt sich ein deutlich anderes Bild. Siehe für den (west)deutschen Fall neuerdings Sigrid Schneider (Hrsg.), Alles wieder anders. Fotografien aus der Zeit des Strukturwandels, Ostfildern 2010 (Begleitband zu einer Ausstellung von 2010/11 im Ruhr Museum Essen).