Paolo de Vingo: From Tribe to Province to State

Cover
Titel
From Tribe to Province to State. An Historical-ethnographic and Archaeological Perspective for Reinterpreting the Settlement Processes of the Germanic Populations in Western Europe between Late Antiquity and the Early Middle Ages


Autor(en)
de Vingo, Paolo
Reihe
British Archaeological Reports International Series 2117
Erschienen
Oxford u.a. 2010: Archaeopress
Anzahl Seiten
XXI, 303 S.
Preis
£ 52,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Oliver Schipp, Mainz

Seit Edward Gibbon in seinem Hauptwerk „The History of the Decline and Fall of the Roman Empire“ die Herrschaftsgründungen durch die germanischen Stämme auf den Trümmern des Römischen Reiches als ein unabwendbares Ereignis, verschuldet von der christlich-römischen Dekadenz, betrieben von schwachen Kaisern und starken Königen, beschrieben hat, arbeitet sich die Forschung an dieser brillanten Vorlage ab. Jede Forschergeneration fügt neue Theorien und Thesen hinzu. Wenn Gibbon auch vielfach nicht erreicht wird, so sind seine Einschätzung und Bewertung doch inzwischen überholt. Daran sind die verschiedenen historischen, anthropologischen, juristischen und archäologischen Forschungsdisziplinen gleichermaßen beteiligt. Erschwert wird die Erforschung des 4. bis 9. Jahrhunderts aber immer noch durch die imaginäre Epochengrenze zwischen Spätantike und Mittelalter, der an den Universitäten eine entsprechende Aufteilung der Arbeitsbereiche entspricht. Zudem ist die Völkerwanderungszeit seit jeher Gegenstand internationaler Forschung. Die Beschäftigung mit dieser setzt folglich eine gewisse Mehrsprachigkeit voraus.

Paolo de Vingo geht in seiner Dissertation, die nun als Monographie vorliegt, der Frage nach, wie aus Stämmen Staaten wurden, und legt erstmals eine detaillierte Studie vor, in welcher die historischen Quellen und archäologischen Befunde sowie die Ergebnisse der Forschung über sprachliche, sachliche und methodische Grenzen hinweg dargestellt werden. Dabei nimmt er nicht das gesamte Gebiet des vergehenden Westreiches in den Blick, sondern fokussiert seine Untersuchung auf Franken, Burgunder, Ostgoten und Langobarden. Als territorialen Schwerpunkt wählt er den Alpenraum und Norditalien. Dieses Vorgehen ist mit der Quellenfülle und der disparaten Befundsituation gut begründet, wenngleich man feststellen muss, dass der weitgesteckte Rahmen der ersten Kapitel immer mehr eingeengt wird, je weiter die Untersuchung voranschreitet. Es entsteht mithin der Eindruck, dass die ursprüngliche Konzeption der Arbeit größer angelegt war. Auf der Grundlage der archäologischen Analyse sollen schließlich eine detaillierte historische Bewertung und eine Beschreibung der Entwicklung der einzelnen ethnischen Gruppierungen möglich werden.

Am Anfang der Studie steht eine Präsentation der Arbeit durch die Archäologin M. M. Negro Ponzi (S. IIIf.), gefolgt von einem Vorwort des Archäologen M. Rotili (S. V–XVIII) und einer Einführung von Paolo de Vingo (S. 1–5). Die anschließende eigentliche Untersuchung gliedert sich in vier Kapitel und eine Zusammenfassung. Eine umfassende Bibliographie schließt das Werk ab. Im ersten Kapitel der Untersuchung wird die historische Situation vom 5. bis zum 8. Jahrhundert mit besonderem Schwerpunkt auf das Gebiet Norditaliens dargestellt (S. 7–36). De Vingo beginnt mit der Ansiedlung der Sarmaten im 3. Jahrhundert und spannt den Bogen über die Wanderungen der Burgunder, Franken und Goten bis zu Karl dem Großen. Er unterscheidet bei der Ansiedlung von ‚Barbaren‘ auf dem Boden des Römischen Reiches mehrere personenrechtliche Kategorien wie dediticii, foederati, laeti, gentiles und inquilini.1 Die Gruppen werden aber nur vage differenziert; auch die rechtliche Entwicklung dieser personenrechtlichen Stellungen berücksichtigt de Vingo nicht weiter, sodass nicht deutlich wird, was es für die jeweilige Gruppe bedeutete, unter einer der erwähnten Rechtsstellungen im 3., 4. oder 5. Jahrhundert angesiedelt worden zu sein. So hatte etwa die Ansiedlung der ‚Barbaren‘ als Inquilinen im 3. Jahrhundert nicht, wie de Vingo schreibt, die Bodenbindung zur Folge (S. 8), da diese erst im 4. Jahrhundert eingeführt wurde.2 Hier hätte man differenzierter darstellen müssen.

Im zweiten Kapitel werden der kulturelle Kontext und die Ethnogenese der ‚Barbaren‘ erörtert (S. 37–87). Untergliedert in die Ethnogenese der Burgunder, Franken, Langobarden und Goten skizziert de Vingo auf der derzeitigen Forschungsgrundlage diesen vielschichtigen Prozess, den Wenskus einst als „Stammesbildung“ bezeichnete, der mit Wolfram inzwischen „Ethnogenese“ genannt und neuerdings als Transformation begriffen wird. Es gelingt dem Autor, auf wenigen Seiten die wichtigsten Quellen (Jordanes, Gregor von Tours und Paulus Diaconus) anzusprechen und die Ethnogenese der jeweiligen Gruppierung auf der Grundlage der aktuellen Forschung zu schildern. Dabei werden sowohl die Ergebnisse der deutschsprachigen Forschung, insbesondere der „Wiener Schule“, vertreten durch Herwig Wolfram und Walter Pohl, als auch der englischsprachigen Forschungen, vor allem von Ian Wood und Peter Heather, einbezogen. Leider geht de Vingo nicht auf Forschungskontroversen ein und erklärt sich auch nicht in der ‚Gretchenfrage‘ der gotischen Ethnogenese – wie man es nämlich mit der Historizität der bei Jordanes beschriebenen Wanderung der Goten hält. Das Kapitel wird mit einer Zusammenfassung abgeschlossen, in der de Vingo vier Typen der Ethnogenese unterscheidet.

Nachdem nun die Stämme gebildet sind, wird im dritten Kapitel unter Verwendung aller Quellengattungen die Staatsgründung der Burgunder beschrieben (S. 89–169); die literarischen Quellen werden dabei ebenso herangezogen wie das geschriebene Recht der Burgunder (Lex Burgundionum und Lex Romana Burgundionum). Des Weiteren werden die materiellen Hinterlassenschaften untersucht und das Siedlungsgebiet anhand von Grabbefunden abgesteckt. Einen besonderen Reiz besitzt die Darstellung der burgundischen Gesellschaft mittels der Rechtsbücher und des archäologischen Befundes in den beiden Burgunderstädten Genf und Lyon. Theoretischer Herrschaftsanspruch und Sozialordnung werden hierbei den tatsächlichen Hinterlassenschaften gegenübergestellt. Durch die Kontrastierung der Textquellen mit den archäologischen Befunden kommt de Vingo zu einer umfassenden Darstellung sowie zu soliden Schlussfolgerungen bezüglich der Ausgestaltung der burgundischen Herrschaft in der Sapaudia.

Die Brücke zum Frühmittelalter wird schließlich im vierten Kapitel geschlagen, in dem de Vingo die Siedlungsprozesse in Norditalien untersucht, wobei die Romanen, Ostgoten, Byzantiner und Langobarden in den Fokus genommen werden (S. 171–261). Die Begräbnisbräuche und die Grabbeigaben lassen nicht nur die topographische Verbreitung eines bestimmten Typs erkennen, sondern de Vingo kann an diesen Zeugnissen auch die sozialen Veränderungen aufzeigen. Dabei darf man aber als Nicht-Archäologe skeptisch sein, ob es möglich ist, Föderaten, Laeten, Franken oder Burgunder anhand der Grabbefunde klar voneinander unterscheiden zu können.

Das Buch ist in einem unhandlichen und kopierunfreundlichen DIN-A4 Format gedruckt. Register fehlen; die Bibliographie weist bei den deutschen Titeln zahlreiche Rechtschreibfehler auf. Der Band ist reich bebildert, wobei nicht nur historische Karten zur Erläuterung der Wanderbewegungen, Pläne von archäologischen Befunden und Zeichnungen archäologischer Artefakte, sondern auch Rekonstruktionszeichnungen von Föderaten, Burgundern, Langobarden, Franken und einer Begräbnisszene beigegeben wurden. Über Sinn und Zweck solcher Darstellungen kann man geteilter Meinung sein. In einer wissenschaftlichen Monographie wirken sie jedenfalls ein wenig deplatziert; hübsch und dekorativ sind sie aber allemal.

Es ist das Verdienst de Vingos, die weit verstreute Forschungsliteratur über Sprachgrenzen hinweg akribisch gesammelt, geordnet und ausgewertet zu haben, wobei eine kritischere Haltung gegenüber den Forschungsergebnissen wünschenswert gewesen wäre. Der Band liefert dem Leser aber einen reichen Fundus der literarischen Quellen und archäologischen Befunde aus der Völkerwanderungszeit zur Frage der Ansiedlung von Franken, Burgundern und Langobarden im alpinen Raum und in Norditalien.

Anmerkungen:
1 Zum Gebrauch des Terminus „Barbaren“ vgl. Walter Pohl, Vom Nutzen des Germanenbegriffes zwischen Antike und Mittelalter: Eine forschungsgeschichtliche Perspektive, in: Dieter Hägermann / Wolfgang Haubrichs / Jörg Jarnut (Hrsg.), Akkulturation. Probleme einer germanisch-romanischen Kultursynthese in Spätantike und frühem Mittelalter, Berlin 2004, S. 18–34.
2 Zum Inquilinus-Begriff und zur Entwicklung der Bodenbindung von Kolonen und Inquilinen zuletzt Oliver Schipp, Der weströmische Kolonat von Konstantin bis zu den Karolingern (332 bis 861), Hamburg 2009, S. 23–27 u. 34–96.

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