P. Swett u.a. (Hrsg.): Pleasure and Power in Nazi Germany

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Titel
Pleasure and Power in Nazi Germany.


Herausgeber
Swett, Pamela; Ross, Corey; d'Almeida, Fabrice
Erschienen
Houndmills 2011: Palgrave Macmillan
Anzahl Seiten
307 S.
Preis
£55.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Gerulf Hirt, Friedrich-Schiller-Universität Jena

Inwiefern trugen unterschiedliche Dimensionen von individuell bzw. gemeinschaftlich erfahrbarer Freude zur Stabilisierung des NS-Herrschaftssystems bei? Mit dieser komplexen Frage haben sich zeitgeschichtliche Studien bereits mehrfach beschäftigt, wobei die facettenreichen Interdependenzen zwischen "NS-Propaganda" (insbesondere in Bezug auf die NS-Freizeitpolitik), staatsterroristischer Gewalt- und Zwangausübung sowie individuellen Handlungsspielräumen im Untersuchungsfokus standen.1

Der vorliegende Sammelband ist aus der Tagung "Pleasure, Power and Everyday Life under National Socialism" hervorgegangen, die im September 2007 am Deutschen Historischen Institut in Paris abgehalten wurde, und eröffnet wertvolle, innovative Einblicke in den Zusammenhang von "Freude" und Machterhaltung im "Dritten Reich". Das erkenntnisleitende Ziel des Bandes besteht in einer systematischen Analyse dieses ambivalenten Verhältnisses auf vielschichtigen Ebenen, um dadurch einen Beitrag zur Erklärung der komplexen Spannungen zwischen politischen Mobilisierungs- und Gratifikationsstrategien, willfähriger Mittäter- und Komplizenschaft, Opportunismus, individuellem Eskapismus sowie zivilem Widerstand zu leisten. Nach einer thematischen Einführung der Herausgeber wird dieser Zielsetzung in drei ausgewogenen Kapiteln mit insgesamt elf Aufsätzen von britischen, deutschen, französischen und nordamerikanischen Historikern nachgegangen.

Das erste Kapitel untersucht Verbindungen zwischen der konsumpolitischen Regulierungspraxis des NS-Regimes und der Hervorrufung individueller Freude durch Konsumhandlungen, um herauszuarbeiten, inwiefern sich Verbrauchsmuster veränderten und bis zu welchem Grad das NS-Regime die Befriedigung individueller Verbraucherbedürfnisse tolerierte oder sogar unterstützte. S. Jonathan Wiesen verdeutlicht virtuos, dass der "Nazi Marketplace" ein höchst ambivalentes Phänomen zwischen staatlicher Konsumregulierung, politischer Instrumentalisierung und den nur sehr begrenzt kontrollierbaren Eigendynamiken privaten Konsumverhaltens darstellte. Indem erstmals systematisch Marktforschungsberichte der Nürnberger "Gesellschaft für Konsumforschung" (GfK) einbezogen werden, verdeutlicht eine Analyse des Konsums verschiedener Genussmittel (Alkohol, Kaffee und verschiedene Rauchwaren), dass gerade deren Konsum – der dem "NS-Volksgesundheitsideal" diametral widersprach – nie rigide eingeschränkt wurde. Sowohl das NS-Regime als auch die GfK erkannten, dass der Konsum dieser Genussmittel und weiterer (Marken-)Konsumgüter vielen "Volksgenossen" ein alltägliches Vergnügen bereitete und sich damit wiederum systemstabilisierend auswirken konnte. In der letztlich "gescheiterten NS-Konsumgesellschaft" (Wolfgang König) blieb der Zugang zu diesen Alltagsfreuden allerdings sehr stark von selektiv-rassistischen Kriterien und von der jeweiligen sozialen Milieuzugehörigkeit abhängig.

Pamela E. Swett untersucht die Inszenierung sexueller Freude im "Dritten Reich" am Beispiel der Printwerbung und der Produktliteratur des Anti-Impotenz-Mittels "Titus Perlen", das seit 1927 durch das Berliner Pharmazieunternehmen "Much AG" vertrieben wurde. Der kommerziellen Bewerbung dieses Anti-Impotenz-Mittels kam schon deshalb eine besondere Brisanz zu, weil es sich um eine Co-Erfindung des homosexuellen und jüdischen Sexualwissenschaftlers Magnus Hirschfeld handelte. Vor diesem Hintergrund eröffnet Swett neue Perspektiven auf die inkohärente politische Linie des NS-Regimes hinsichtlich einer idealtypischen Sexualmoral und rückt zugleich ein bisher unbeachtetes Produkt in den Fokus der deutschen Produkt- und Werbegeschichte: Interessanterweise zielte die Bewerbung von "Titus Perlen" nur in der Weimarer Republik auf die sexuelle Befriedigung beider Eheleute ab, während im "Dritten Reich" allein für den Mann eine Vision von sexueller Freude konstruiert und überraschenderweise nicht auf den selektiv-rassistischen Pronatalismus des NS-Regimes rekurriert wurde.

Schließlich analysiert Fabrice d’Almeida die unterschiedlichen Wahrnehmungsformen und Distinktionsmöglichkeiten durch den Konsum von "Luxusgütern" (insbesondere in den Bereichen Mode und Nahrungsmittel). Bekanntlich blieben einerseits den NS-Führungseliten extraordinäre Formen von Luxus vorbehalten, andererseits versuchte das NS-Regime die Weimarer Konzeption von Luxus zu delegitimieren, indem für "Volksgenossen" zugängliche, sozialegalitäre und klassennivellierende Luxusformen propagiert wurden, die letztendlich nur eine sehr marginale Realisierung erfuhren. Der innovative Beitrag d’Almeidas liegt in der Herausarbeitung höchst unterschiedlicher Wahrnehmungsebenen von Luxus im "Dritten Reich", dessen Verfügbarkeit wiederum individuelle und gemeinschaftliche Freude bereiten konnte. Um die unterschiedlichen Wahrnehmungen einer solchen Freude im NS-Staat herauszuarbeiten, werden die höheren Löhne und Sonderzulagen von KZ-Aufsehern (in deren Wahrnehmung ein Luxus) angeführt sowie die gänzlich anders gelagerten Perspektiven von Inhaftierten in Konzentrations- und Vernichtungslagern eindrucksvoll skizziert: In Auschwitz "durften" ausgesuchte Häftlinge in Boxkämpfen gegeneinander antreten, damit Wärter (zu ihrem Vergnügen) untereinander Wetten abschließen konnten. Der Sieger erhielt eine höhere Nahrungsmittelration zugewiesen. Folglich stellte schon die Erlaubnis boxen zu dürfen, also die lizenzierte Gewaltausübung in einer hochgradig von Gewalt bestimmten Umgebung, in höchst perverser Weise einen Luxus für die ausgewählten Häftlinge dar, da sie nur dadurch in den Genuss von zusätzlicher Nahrung gelangen konnten. Mit diesem "Anreizsystem" übten umgekehrt wiederum die Wärter gegenüber den Häftlingen eine (sadistische) Gewalt aus, die ihr Zusammengehörigkeitsgefühl stärkte.

Im zweiten Abschnitt steht die Analyse kulturell-medialer Unterhaltungsformen (Theater, Humoresken, General-Interest-Magazine, Rundfunk und Film) im Sinne einer "Ästhetisierung von Freude" im Mittelpunkt. David Pan analysiert die NS-Rezeption von Goethes Faust, das insbesondere in den Kriegsjahren eines der am häufigsten gespielten Theaterstücke darstellte. Es wird deutlich, dass die NS-Theaterpolitik durch ein komplexes und ambivalentes Set von Kompromissen zwischen ideologischen NS-Vorgaben und dem staatlichen Ziel, das Theater als einen Raum für die Auslebung individueller Freude und kollektiver Zerstreuung (insbesondere zur Kompensation zunehmend negativer Alltagserfahrungen im späteren Kriegsverlauf) einzusetzen, bestimmt war. Daher wurden zumeist keine offenen politischen Botschaften in Theaterinszenierungen integriert, was aber nicht impliziert, dass die im Theater beabsichtigte Ablenkung und Zerstreuung genuin unpolitisch gewesen sei: Durch die staatlich-intendierte Gewährung dieser, im Falle der Faust-Inszenierung, vermeintlich unpolitischen und doch von einer spezifischen moralischen Botschaft durchdrungenen Vergnügungsfreiräume ging es wiederum um die Stabilisierung des NS-Herrschaftssystems.

Ähnliches galt für das – von Patrick Merziger untersuchte – Phänomen eines "Deutschen Humors", der über das Massenmedium Buch und vor allem in Form von Humoresken (Sammlungen humorvoller Anekdoten und Kurzgeschichten) transportiert wurde. Diese Komplexität zeigt sich auch in verschiedenen "General-Interest-Magazinen“ (Frauenzeitschriften, Illustrierte, Radioprogramm- und Versicherungszeitschriften), deren Mikro- und Makrostruktur Karl Christian Führer erstmals ausführlich herausarbeitet und diese auf die Frage der Regimekonformität des durch diese Printmedien vermittelten Unterhaltungsvergnügens rückbezieht. Den analysierten Zeitschriften war gemeinsam, dass in den Fortsetzungsromanen, Novellen und fiktiven Kurzgeschichten eine seltsam entpolitisierte Gesellschaft inszeniert wurde. Im Umkehrschluss leisteten die "General-Interest-Magazine", gerade durch ihr vermeintlich unpolitisches Unterhaltungsanliegen, einen nicht zu unterschätzenden Beitrag zur "Erziehung zum Wegsehen" (Rolf Sachsse) und damit zu einer Verringerung eines öffentlichen Kritik- bzw. Widerstandspotentials.

Es gelingt besonders Corey Ross, die medialisierte Interrelation zwischen politisch-motivierter Mobilisierung und Zerstreuung während des Zweiten Weltkrieges herauszuarbeiten. Solange die "Wehrmacht" vorrückte, wurde die "NS-Propaganda" in Rundfunksendungen und Wochenschauen durch vermeintlich authentische Informationen über die militärischen Siege und Opferinszenierungen dominiert. Je nachteiliger sich aber die militärische Lage für das "Dritte Reich" entwickelte, desto weniger wurde das Kriegsgeschehen überhaupt medial thematisiert. Stattdessen setzten die Medien auf eine eskapistische Ablenkung bzw. populäre Zerstreuung durch eine zunehmend anspruchslose Unterhaltung.

Das letzte Kapitel rückt die Bedeutung von individuell und gemeinschaftlich erfahrbarer Freude für die nachhaltige Herstellung eines Gemeinschafts- und Zusammengehörigkeitsgefühls in den Mittelpunkt. Diesbezüglich eröffnet Elizabeth Harvey besonders innovative Perspektiven anhand des Fallbeispiels der Auftrags- und Reisefotografie der Fotojournalistin Liselotte Purper und zweier ihrer Kolleginnen, die während des Zweiten Weltkrieges aus den besetzten bzw. okkupierten Gebieten sowie aus dem Europa der "Achse" für diverse Frauenzeitschriften berichteten und ihre Reisefreiheit und Selbstständigkeit genossen. Durch die scheinbare Authentizität ihrer Fotografien propagierten, legitimierten und idyllisierten diese Fotojournalistinnen – als bisher kaum beachtete Protagonistinnen in der männlich dominierten NS-Medienwelt – die Überlegenheit und den Triumph der deutschen Besatzer in den okkupierten bzw. annektierten Gebieten. Durch die fotografisch-massenmediale Umdeutung des aggressiven und menschenverachtenden deutschen Expansionismus stärkten sie das Integrationspotential des NS-Regimes und leisteten damit einen Beitrag zur Stabilisierung des NS-Regimes in der Gesellschaft.

Jenseits von dieser gesamtgesellschaftlichen Ebene gelingt es Daniel Mühlenfeld und Thomas Kühne die Bedeutung eines akteurs- und gruppenspezifischen Gemeinschaftsgefühls und die damit verbundenen Freuden anhand verschiedener NS-Funktionäre in den Blick zu nehmen. Mühlenfeld arbeitet überzeugend heraus, dass die selbsternannten "politischen Soldaten" der "Bewegung" häufig keineswegs ihrem, als asketisch-diszipliniert propagierten, Idealbild (Aufopferung, Kameradschaft, Selbstdisziplin, Selbstüberwindung) entsprachen. Gerade "alte Kämpfer" und SA-Mitglieder versicherten sich ihres Zusammengehörigkeitsgefühls durch einen Kanon paramilitärisch-soldatischer "Freuden", der diesem Idealbild widersprach: Alkoholexzesse, exzessive Gewaltausübung in Männerbünden und ein symbolischer Identifikationskult (soldatische Sprache, Symboliken, Totenkult) gingen dabei eine symbiotische Verbindung ein. Dies galt in noch extremerer Form für die von Kühne analysierten Gruppendynamiken in SS-Truppenteilen, die aktiv an der Massenvernichtung beteiligt waren. Erst der gemeinsame Akt des Tötens als unrevidierbare (Initiations-)Handlung, erzeugte bei den Tätern ein tiefes Zusammengehörigkeitsgefühl, das eine eigene Gruppendynamik bzw. einen Gruppenzwang nach sich zog. Da aber selbst die abgehärtetsten SS-Mörder unterschiedlichen Vergnügungsformen (Alkoholkonsum, Bordellbesuche, Kartenspielen) nachgingen, ermöglichten erst solche und weitere "soldatische Freuden" die dauerhafte Gewaltausübung und Massenvernichtung. Kühne wendet sich daher gegen eine simplifizierende Pathologisierung der Täter als gleichsam dämonische Sadisten und leistet damit einen wichtigen Beitrag zur Erklärung der NS-Terrormaschinerie. Diese negativen Zusammenhänge zwischen Gemeinschaft und Freude werden schließlich durch einen Aufsatz von Mark Roseman kontrastiert, welcher der alltäglichen Festigung des Zusammenhaltes in der Essener Lebensreformgruppe "Der Bund – Orden für sozialistische Politik und Lebensgestaltung" nachgeht.

Insgesamt gelingt es den Autoren eindrucksvoll, höchst unterschiedliche Dimensionen des Verhältnisses von "Freude" und Machterhaltung im "Dritten Reich" herauszuarbeiten sowie durch dieses Prisma nachdrücklich auf ein größtenteils noch ungenutztes Forschungspotential hinzuweisen. In zukünftigen Studien zu dieser Fragestellung wird es darum gehen müssen, jeweils am Einzelfall noch trennschärfer zu definieren, wann der Begriff der "Freude" (besonders in Abgrenzung zu anderen naheliegenden Emotionen) als zeitgenössische Rede untersucht oder als Analysekategorie verwendet werden kann.

Anmerkung:
1 Peter Reichel, Der schöne Schein des Dritten Reiches: Faszination und Gewalt des Faschismus, München u.a. 1991; Richard Bessel (Hrsg.), Life in the Third Reich, Oxford 2001; Peter Fritzsche, Life and Death in the Third Reich, Cambridge 2008.

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