Cover
Titel
Gefühlswissen. Eine lexikalische Spurensuche in der Moderne


Autor(en)
Frevert, Ute; Bailey, Christian; Eitler, Pascal; Gammerl, Benno; Hitzer, Bettina; Pernau, Margrit; Scheer, Monique; Schmidt, Anne; Verheyen, Nina
Erschienen
Frankfurt am Main 2011: Campus Verlag
Anzahl Seiten
364 S.
Preis
€ 29,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Marietta Meier, Forschungsstelle für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Universität Zürich

Emotionsgeschichte zählt zu denjenigen Feldern der Geschichtswissenschaft, die seit einigen Jahren stark expandieren, so dass sich die Publikationen inzwischen kaum mehr überblicken lassen. Sie beschäftigt sich zum einen mit einem Gegenstand, der momentan in der Gesellschaft und in verschiedenen Wissenschaften hoch im Kurs steht. Zum anderen setzt sie sich mit theoretischen, methodischen und empirischen Fragen auseinander, die speziell für die Geschichtswissenschaft eine wichtige Rolle spielen.1 „Gefühlswissen“, ein Gemeinschaftswerk aus dem Forschungsbereich „Geschichte der Gefühle“ am Berliner Max-Planck-Institut für Bildungsforschung, trägt zu beiden Dimensionen der Emotionsgeschichte Neues bei.2

Die neun Autoren und Autorinnen der Studie untersuchen, welche Bedeutung Gefühlen seit dem 18. Jahrhundert zugemessen wurde. Sie interessieren sich nicht primär für einzelne, spezifische Gefühle wie Wut, Furcht oder Liebe, sondern analysieren, welche Rolle Gefühle in den sich grundlegend wandelnden Gesellschaften Europas generell spielten. Dabei gehen sie von der These aus, dass sich in der Moderne ein durchaus ambivalentes Verständnis von Gefühlen entwickelte, das sich je nach Zeit und Perspektive unterschied. Andererseits fragen sie, ob sich trotz aller Differenzen eventuell übergeordnete Muster erkennen lassen.

Bereits der Untertitel „Eine lexikalische Spurensuche in der Moderne“ bringt zum Ausdruck, auf welche Weise die gesellschaftlichen Reflexionen und Konflikte über Gefühle rekonstruiert werden sollen. Die Autor/innen postulieren, dass sich „die vermuteten Zusammenhänge zwischen wissenschaftlichen, gesellschaftspolitischen und kulturellen Perspektiven auf Gefühle“ (S. 16) im Lexikon, vor allem im Genre der nationalsprachlichen Enzyklopädie, besonders gut herausarbeiten ließen. Konversationslexika würden das zu einer bestimmten Zeit breit verfügbare und kommunizierte Wissen präsentieren, Normen vermitteln und Orientierungshilfen bieten.

Ein wesentlicher Vorteil der gewählten Quellensorte liegt darin, dass sich die interessierenden Begriffe länderübergreifend untersuchen lassen. Berücksichtigt wurden fast ausschließlich deutsch-, englisch- und französischsprachige Quellentexte, die zwar – wie die Autor/innen selbst schreiben – bedeutend und maßgebend gewesen sein mögen, die globale, die außereuropäische und letztlich wohl auch die europäische Entwicklung aber nicht hinreichend repräsentieren, kommen doch weder skandinavische noch ost- oder südeuropäische Lexika zum Tragen. Dieser Nachteil schmälert die Leistung der neun Historiker/innen allerdings mitnichten. Schon die umfangreiche Liste der verwendeten Enzyklopädien und Nachschlagewerke lässt erahnen, wie aufwendig die Quellenrecherchen trotz der regionalen Beschränkung wohl waren.

Den Ausgangspunkt des Buchs, das sich als Beitrag zu einer Historischen Semantik der Emotionen versteht, bilden in Lexika definierte und erläuterte Gefühlsbegriffe. Das Ziel ist es, den semantischen Wandel dieser Lemmata aufzuzeigen und mit gesellschaftlichen Entwicklungen in Verbindung zu bringen. Die Studie ist in zehn Kapitel gegliedert. Während das erste, von Ute Frevert verfasste die Funktion einer Einführung übernimmt sowie allgemeine Gefühlsbegriffe, deren Konjunkturen und Bedeutungsveränderungen seit dem 18. Jahrhundert darstellt, resümiert das letzte, ebenfalls von Frevert stammende Kapitel die Ergebnisse der Studie und stellt Bezüge zu Kennzeichen moderner Gesellschaften und übergeordneten Prozessen her, zum Beispiel zur Kolonialisierung oder zur Herausbildung neuer Leitwissenschaften.

Um ein möglichst breites Spektrum des Gefühlswissens zu rekonstruieren, widmen sich die restlichen acht Kapitel spezifischeren Aspekten und Themenbereichen. Dabei gehen sie auch der Frage nach, wie sich Bedeutung und Stellenwert der untersuchten Lemmata im Laufe der Zeit veränderten. Die Spannbreite der Beiträge ist groß. Für einen Überblick lassen sie sich in drei Gruppen zusammenfassen: Die erste beschäftigt sich mit dem Ausdruck und der Genealogie von Emotionen (Kapitel 3 und 4), die zweite mit Zusammenhängen zwischen Emotionen und Raum (Kapitel 2 und 7), die dritte mit den Wechselwirkungen zwischen Gefühlen und individuellen oder sozialen Prozessen (Kapitel 5 und 6, 8 und 9). In allen Beiträgen wird Emotionsgeschichte mit anderen Feldern der Geschichtswissenschaft verknüpft – zum Beispiel mit Sozial-, Medizin- oder Wissenschaftsgeschichte. Der Anhang enthält ein Sachregister und eine Liste der zitierten Lexika. Die bibliografischen Angaben zu den übrigen Quellen und den konsultierten Darstellungen finden sich in den Anmerkungen, die einen separaten Teil des Buches bilden.

Als Beispiel für die acht Kapitel, die sich mit spezifischen Aspekten des Gefühlswissens befassen, sei der Beitrag „Der ‚Ursprung‘ der Gefühle – reizbare Menschen und reizbare Tiere“ erwähnt. Pascal Eitler verbindet darin Emotions-, Körper- und Tiergeschichte und betritt mit diesem Vorhaben noch weitgehend Neuland. Eitler untersucht die Bedeutung von Unterscheidungen zwischen Mensch und Tier und will so eine Genealogie der Emotionen entwerfen. Er zeigt auf, dass Tieren in Lexikonartikeln nicht nur „Empfindungen“ zugeschrieben wurden, sondern auch „Gefühle“, „Leidenschaften“ oder „Begierden“, wobei die kategoriale Differenzierung zwischen diesen Begriffen immer wieder unterlaufen wurde. Was Menschen unter Emotionen verstehen, ist historisch ebenso kontingent wie die Antwort auf die Frage, ob nur Menschen oder auch bestimmten Tieren Gefühle zuzuschreiben seien.

Die Darstellungsform der einzelnen Kapitel gleicht sich stark. Von Quellenzitaten sehen die Autor/innen weitgehend ab, auf die Reproduktion und Analyse von Bildmaterial aus Lexika wird ebenfalls verzichtet. Die Resultate der Quellenanalyse werden synthetisierend vermittelt, was dazu führt, dass die untersuchten Quellentexte für die Leser/innen kaum plastisch werden. Dies trifft besonders für Beiträge zu, in denen Lexikonartikel eher den Rahmen als das Zentrum des Kapitels bilden. Stehen nicht Lexikoneinträge im Vordergrund, sondern die wissenschaftlichen oder künstlerischen Werke und deren Autoren, die unter den einzelnen Lemmata erwähnt, erläutert und kommentiert werden, geht der Bezug zur Hauptquelle bisweilen verloren.

Die acht Kapitel unterscheiden sich nicht nur im Stellenwert, den sie den Lexika beimessen, sondern auch hinsichtlich der Frage, ob und wie stark Nachschlagewerke aus verschiedenen Sprachräumen berücksichtigt werden. Insgesamt liegt das Schwergewicht auf deutschsprachigen Lexika; englisch- und vor allem französischsprachige Werke finden weit weniger Beachtung. In manchen Kapiteln wird die Quellenauswahl begründet, während in anderen offenbleibt, weshalb nur Lexika aus diesem oder jenem Sprachraum untersucht wurden.

Weitgehend ungeklärt ist auch die Frage, welche Art von Wissen eigentlich herausgearbeitet wird – der Begriff des Wissens erscheint kaum reflektiert. Dass Lexikonartikel nur eine bestimmte Form von Wissen vermitteln, ist hinlänglich bekannt und wird in der Einleitung auch erwähnt. Dass Nachschlagewerke darüber Auskunft geben können, welches Gefühlswissen zu einer bestimmten Zeit „tatsächlich zirkulierte“ (S. 17), lässt sich deshalb auch dann bezweifeln, wenn man nur denjenigen Teil der Bevölkerung ins Auge fasst, der Lexika konsultierte. Die Verbreitung von (in Lexika aufbereitetem) wissenschaftlichem Wissen ist zudem kein linearer, eindimensionaler Vorgang, sondern Teil vielfältiger Kommunikationsprozesse, weshalb es wenig Sinn macht, dichotomisch zwischen Produktion und Rezeption, Darstellung und Aneignung von Wissen zu unterscheiden.3 Daher bietet es sich an, in weiteren Studien auch andere Quellensorten zu berücksichtigen sowie den Wechselwirkungen von Gefühlswissen und Gefühlspraktiken nachzugehen.

Trotz einiger Schwachpunkte ist „Gefühlswissen“ ein großer Gewinn. Die Studie beweist, wie fruchtbar eine enge Zusammenarbeit sein kann – ein solches Werk lässt sich wohl nur im Team verfassen. Die Autor/innen gehen ihren spezifischen Themen nach und verfolgen gleichzeitig eine gemeinsame Fragerichtung. Ihren Beiträgen liegt kein starres Schema zugrunde; mit der Einleitung und dem Fazit fügen sich die Kapitel aber zu einem homogen wirkenden Band zusammen. Auf diese Weise gelingt es, eine beeindruckende Menge von Informationen und Erkenntnissen zum Gefühlswissen der letzten drei Jahrhunderte zu präsentieren und diese mit übergeordneten Entwicklungen zu verbinden. Die Lektüre ist deshalb nicht nur für Personen von Nutzen, die mehr über Emotionsgeschichte erfahren wollen, sondern für alle, die sich für Themen wie Nationalismus, Rassismus, Kolonialismus oder für Tier-, Medizin-, Wissenschaftsgeschichte und andere Felder der Geschichtswissenschaft interessieren.

Anmerkungen:
1 Vgl. den Forschungsbericht: Bettina Hitzer: Emotionsgeschichte – ein Anfang mit Folgen, in: H-Soz-u-Kult, 23.11.2011, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/forum/2011-11-001> (22.03.2012).
2 Siehe aus dem Kontext dieser Forschungsgruppe in Kürze auch Jan Plamper, Geschichte und Gefühl. Grundlagen der Emotionsgeschichte, München 2012.
3 Vgl. z.B. Carsten Kretschmann, Wissenspopularisierung. Verfahren und Beschreibungsmodelle – ein Aufriss, in: Petra Boden / Dorit Müller (Hrsg.), Populäres Wissen im medialen Wandel seit 1850, Berlin 2009, S. 17-34.