Was tun Historiker/innen eigentlich, wenn sie forschen? Wie kommen sie zu ihren Ideen, wie entwickeln sie ihre Erzählungen, welche Arbeitsweisen und Hilfsmittel nutzen sie dafür? Wie entstehen Narrative über die Vergangenheit? Der Sammelband „Geschichte als Passion“ geht von der Feststellung aus, dass die Frage noch kaum gestellt worden sei, wie „in der Geschichtswissenschaft Erkenntnis erwächst“ (S. 8) – während dies für naturwissenschaftliche Erkenntnisprozesse bereits besser erforscht sei. Die beiden Herausgeber Alexander Kraus und Birte Kohtz, wissenschaftliche Mitarbeiter für Osteuropäische Geschichte an der Universität Münster bzw. an der Universität Gießen, suchen Einblicke in die Werkstatt der Historikerin respektive des Historikers. Sie interessieren sich für die „Zwischenräume der Erkenntnis- und Tatsachenproduktion“ (S. 30) und zielen darauf ab, das Labor oder passender das Experimentalsystem des Historikers und der Historikerin sichtbar zu machen. In Anspielung auf Bruno Latours bekanntes Buch „Science in Action“ wäre zu fragen: „How to follow historians through historical research and writing?“1 Der Sammelband „Geschichte als Passion“ lässt sich in einen vielversprechenden Trend einordnen, bei dem die Konzeptionen und Perspektiven des Practical Turn auch für die Geisteswissenschaften fruchtbar gemacht werden sollen.2 Das Problem dabei sei allerdings, dass die für die Rekonstruktion der Entstehung von historiografischen Werken notwendigen primären Aufschreibeformen, anders als die Versuchsskizzen oder Labortagebücher bei den Naturwissenschaften, nur selten überliefert seien. Auch Selbstaussagen von Autorinnen und Autoren über Werkentstehungen – beispielsweise in Vorworten – gäben nur verkürzt und nicht selten mythologisierend den Entstehungsprozess eines Buches wieder und seien als Quellen wenig brauchbar. Was also tun, wenn nur die Resultate, nicht aber die Spuren des Weges sichtbar sind?
Kraus und Kohtz haben 10 Historiker/innen nach ihrer Arbeitspraxis und ihrer „Passion“ für Geschichte befragt. Dabei ist, das sei sogleich vorweg geschickt, ein schönes und sehr empfehlenswertes Buch entstanden, das sich leicht liest, das inspiriert, aber auch nachdenklich macht, insgesamt jedoch ein vielfältiges Panorama heutiger Geschichtsforscher/innen vorführt und nicht zuletzt auch sehr amüsante Pointen bereithält.3 Bei den Befragten ist, wie die Herausgeber auch selbst bemerken, nicht zufällig eine Dominanz von Wissenschaftshistoriker/innen sichtbar. Mit Lorraine Daston und Hans-Jörg Rheinberger wurden gleich zwei Direktoren des Max-Planck-Instituts für Wissenschaftsgeschichte interviewt. Nimmt man Anke te Heesen, Philipp Sarasin und Julia Voss noch hinzu, dann setzen sich die Hälfte der Befragten in ihren Forschungen mit der Geschichte der Wissenschaften auseinander. Diese Beschäftigung, so die Annahme, schärfe „den Sinn für die Beobachtung auch der eigenen Arbeitsweise“ (Kraus / Kohtz, S. 25). Befragt wurden außerdem die Direktorin des Deutschen Auswandererhauses Simone Blaschka-Eick, der Osteuropahistoriker Carsten Goehrke, der Mittelalter- und Renaissancehistoriker Valentin Groebner, die Medizinhistorikerin Ulrike Klöppel und der Direktor des Rachel Carson Center für Umwelt und Gesellschaft Christof Mauch.
Die Frage nach den Arbeitsweisen hat etwas von einem Blick hinter die Kulissen. Hier sind Historiker/innen selten unter Beobachtung. Was zählt, ist das Ergebnis, die Publikation – der Weg dahin ist (auf den ersten Blick) irrelevant. Nicht nur deshalb ist es geschickt, dass Kraus und Kohtz nicht standardisiert abfragen, sondern sich behutsam und jeweils sehr gut informiert an den Thesen und Werken ihrer Befragten entlang zu den Fragen herantasten, die sie interessieren. Wie sehen diese Arbeitsweisen, die jeweiligen Experimentalsysteme, nun konkret aus?
Trotz einiger Ähnlichkeiten scheint es sehr verschiedene Wege zu geben. Jeder hat (s)ein eigenes System – oder, wie Niklas Luhmann es in Bezug auf seinen berühmten Zettelkasten ausdrückte, seinen „Kommunikationspartner“ – und muss mit diesem System fertig werden.4 In den meisten Fällen finden Kraus und Kohtz – und das mag den einen oder die andere erstaunen – keine besonders ausgeklügelten Systeme. Julia Voss träumt zwar davon, ihre Sammlungen irgendwann einmal komplett zu systematisieren, belässt aber bis dahin die von ihr verwendeten Bücher und Aufsätze in der alphabetischen Ordnung. „Alles andere ist Kraut und Rüben.“ (S. 59) Neben alphabetischer Ordnung sind für Anke te Heesen, wie auch für Lorraine Daston, Notizbücher das wichtigste Ordnungssystem. Daston geht diese, wenn sie Aufsätze oder Bücher schreibt, wieder durch, um Verzeichnisse anzulegen und Verbindungen sichtbar zu machen, die die chronologische Ordnung der Notizbücher noch nicht hergab. Durchgängig scheint ein Gefühl des Imperfekten bezüglich der je eigenen Ordnungssysteme zu dominieren, was aber keineswegs als gravierender Mangel, sondern vielmehr als Bedingung der Möglichkeit des zufälligen und dann oft glücklichen Findens gesehen wird.
Die mehr oder weniger ordentlichen und mehr oder weniger technisch ausgeklügelten Ordnungssysteme sind aber nur die eine Seite des Erkenntnisprozesses. Das heimliche Zentrum der Werkstatt der Historikerin und des Historikers ist das Schreiben. Einigkeit herrscht darüber, dass das Schreiben der Prozess ist, in dem sich Ideen formen, in welchem die Erzählung eigentlich erst entsteht. Das Schreiben sei, wie es Hans-Jörg Rheinberger auch schon an anderer Stelle erwähnt hat, das Experimentalsystem der Geisteswissenschaftler/innen. Und beim Schreiben sei es vor allem die Sprache, wie Philipp Sarasin hinzufügt, die „anzeigt, wenn Argumente nicht funktionieren“ (S. 327). Für Rheinberger ist „diese Eigenmächtigkeit des Sprachlichen […] im Idealfall auch das Pfund, mit dem Geisteswissenschaftler wuchern können“ (S. 283). Voraussetzung für gutes Schreiben sei jedoch weniger das „perfekte Ordnungssystem“, sondern – wie Anke te Heesen meint – die „perfekte Arbeitsumgebung“. Diese bestehe gerade nicht aus einem neu eingerichteten interdisziplinären Sonderforschungsbereich, sondern zuweilen nur aus einem „Kabäuschen ohne Internetanschluss“ (S. 91). Damit zielt te Heesen keineswegs auf die Rehabilitierung eines idealen Elfenbeinturms, denn die Notwendigkeit der Kooperation und des gemeinschaftlichen Arbeitens ist allen klar und bildet einen weiteren Schwerpunkt der Interviews. Anschaulich vorgeführt wird der Sinn der Kooperation durch sein Gegenteil. Valentin Groebner berichtet von einem Historiker, der seine Thesen vor Veröffentlichung nicht kommunizieren wollte. Seine Geheimniskrämerei ließ ihn schließlich einer simplen Verwechslung aufsitzen, was die Freude über die erhofften Lorbeeren nach der Veröffentlichung stark abkürzte.
Te Heesens Traum von einem „Kabäuschen“ wiederum ist nicht nur Hinweis auf eine individuelle Laune, sondern deutet auf ein Problem, das weit über die Geschichts- und auch über die Geisteswissenschaften hinaus als virulent wahrgenommen wird. Lorraine Daston spitzt das Problem, wenig Zeit zu haben, auf die Frage zu: „Wie ist die Wissenschaft aus der Wissenschaft verdrängt worden?“ (S. 256) Es gehöre nicht nur Mut und Beharrlichkeit, sondern auch „ein gesundes Maß an Besessenheit“ dazu (S. 258), um heutzutage eine wissenschaftliche Karriere und das Privatleben zu vereinen – eben „Geschichte als Passion“, als Leidenschaft und Leidensbereitschaft zugleich. Hierin besteht zweifelsohne eine Stärke des Buches: Über Fragen zur individuellen wissenschaftlichen Arbeit stößt man sehr schnell auf Probleme, die weit über die eigene Kammer, den Schreibtisch und das Experimentalsystem hinausweisen.
Erstaunlich ist, dass das Internet oder auch der Computer eine eher untergeordnete Rolle in den Gesprächen spielen. Inwiefern das an einer sonst häufigen Überschätzung dieser Arbeitsmittel liegt, an einer Zurückhaltung gegenüber dem Medium oder aber gerade an dessen kaum mehr diskussionsbedürftiger Selbstverständlichkeit, muss offen bleiben. Vertiefende Fragen in dieser Richtung könnten künftig jedenfalls noch aufschlussreich sein, um herauszufinden, welche Bedeutung etwa „virtuelle Forschungsumgebungen“ im historiographischen Prozess tatsächlich haben (können).
Wenn ein Resümee für einen Interviewband, dessen zahlreiche Pointen sich hier in ihrer Reichhaltigkeit keineswegs entfalten lassen, überhaupt sinnvoll ist, dann könnte man zumindest Folgendes sagen: Das Buch zeigt an, wie mit Hilfe von Fragen nach der Praxis der Geschichtsschreibung nicht nur die Wissenschaftsgeschichte auf neue Weise interessant werden kann, sondern die gesamte Disziplin der Geschichtswissenschaft.
Anmerkungen:
1 Bruno Latour, Science in Action. How to Follow Scientists and Engineers Through Society, Cambridge 1987, 11. Aufl. 2003.
2 Vgl. z.B. Anne Kwaschik / Mario Wimmer (Hrsg.), Von der Arbeit des Historikers. Ein Wörterbuch zu Theorie und Praxis der Geschichtswissenschaft, Bielefeld 2010 (rezensiert von Hanna Schissler, 31.3.2011: <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2011-1-243> [28.8.2011]).
3 Dem Buch vorangegangen war ein Themenheft für die Online-Zeitschrift zeitenblicke 9 (2010), H. 2, das Alexander Kraus und Birthe Kohtz zusammen mit Frank Wolff und Walter Sperling unter dem Titel „Notation – Niederschrift – Geschichte“ herausgegeben haben und in dem auch das Interview mit Philipp Sarasin schon veröffentlicht worden ist: <http://www.zeitenblicke.de/2010/2/> (28.8.2011).
4 Niklas Luhmann, Kommunikation mit Zettelkästen. Ein Erfahrungsbericht [1981], in: André Kieserling (Hrsg.), Universität als Milieu. Kleine Schriften, Bielefeld 1992, S. 53-61.