Anzuzeigen ist die neueste Lieferung der Akten zur Auswärtigen Politik der Bundesrepublik Deutschland – eine im Auftrag des Auswärtigen Amtes vom Institut für Zeitgeschichte und hier von Horst Möller zusammen mit Klaus Hildebrand und Gregor Schöllgen herausgegebene Reihe, die sich nun äußerst zuverlässig vom Ende der sechziger Jahre auf dem Weg in die Gegenwart befindet. Dieser Band, unter der wissenschaftlichen Leitung von Ilse Dorothee Pausch von Tim Geiger, Amit Das Gupta und Tim Szatkowski bearbeitet, versammelt Fundstücke aus dem Jahr 1980. Es handelte sich um ein dramatisches Jahr in der bundesdeutschen Außenpolitik, denn der nach eigener Einschätzung so nüchterne Bundeskanzler Helmut Schmidt konstatierte gleich zwei Mal Kriegsgefahr, und wagte einmal sogar den Bezug auf 1914 (Dok. 130 und Dok. 132). Es war das Jahr direkt nach dem NATO-Doppelbeschluss, unmittelbar nach dem sowjetischen Einmarsch in Afghanistan – beides Ereignisse, welche auf eine erneut gestiegene Arbeitstemperatur des Kalten Krieges verwiesen und zu denen sich in dem Band wichtiges Material findet. Im Iran wurden von revolutionären Studenten westliche Geiseln genommen; die innenpolitische Krise in Polen spitzte sich in der zweiten Jahreshälfte zu. Ronald Reagan wurde im November 1980 zum Präsidenten gewählt – und Helmut Schmidt sah dies als Chance, sich gegenüber dem Philosophen Karl Popper als aufklärerischer Denker erster Güteklasse zu präsentieren (Dok. 348). Von großer Bedeutung für die internationalen Beziehungen war dagegen der Besuch Schmidts und Genschers in Moskau, der hier nicht nur direkt (Dok. 192-195), sondern auch in Vorgeschichte und Nachbearbeitung mit den Alliierten präsent ist (zum Beispiel Dok. 196).
Mit ihrer Edition folgen die drei Bearbeiter den Prinzipien der anderen Bände der Reihe. Sie haben die Dokumente sorgfältig, ja vorbildlich ediert. Die einzelnen Texte werden chronologisch in einem knappen Regest zu Beginn des Bandes aufgelistet; ein 165-seitiges Namens- und Sachregister erschließt die einzelnen Texte und die darin diskutierten Sachverhalte präzise und zuverlässig. Auch die Anmerkungen der 376 hier versammelten Dokumente listen akribisch Hintergründe, Parallelüberlieferungen und Bearbeitungsversionen auf. Das ist eine gewaltige Service-Leistung für die Leser und Forscher. Sie war mit immensem Arbeitsaufwand und, so darf man annehmen, mit großer Recherchephantasie der Bearbeiter verbunden. Ein hilfreicher Organisationsplan des Amtes schließt den Band ab.
Gerade weil der Band so vorbildlich und penibel ediert wurde und gerade deshalb wesentlich benutzerfreundlicher ist als zum Beispiel die amerikanischen, britischen und französischen Pendants, wäre allerdings einmal eindringlicher zu diskutieren, ob die Edition diplomatischer Akten aus dem Außenministerium der Komplexität von Politik noch angemessen ist, die mit einem Regierungshandeln einherging, das sich selbst zunehmend als „modern“ und „wissenschaftlich“ verstand und auch zunehmend auf gesellschaftliche Entwicklungen Rücksicht zu nehmen meinte. So war dieser Rezensent überrascht, dass ein eigenes Lemma „Friedensbewegung“ sich nicht im Register findet – man muss unter den Stichwörtern Abrüstungspolitik und NATO-Doppelbeschluss suchen und sich dann durch die verschiedenen Unterthemen an den gesuchten Gegenstand heranpirschen. Heißt das nun, dass die Friedensbewegung als eigenes Thema für die deutsche Außenpolitik unwichtig war? Bedeutet es, dass sich die deutschen Diplomaten der gesellschaftlichen Realität völlig verweigerten? Beide Schlüsse wären plausibel.
Diese Fragen verweisen aber auch auf ein fundamentales methodisches Problem von Quelleneditionen, das sich für diesen Zeitraum mit besonderer Schärfe stellt: ist eine Fondedition – also die Sammlung der von den Herausgebern als am wichtigsten erachteten Akten einer Behörde nach klar definierten Prinzipien – der Realität von Außenpolitik im bundesdeutschen Regierungssystem Ende der 1970er-/ Anfang der 1980er-Jahre angemessen? Die Herausgeber der Akten zur amerikanischen Außenpolitik haben auf ähnliche Probleme reagiert, indem sie die Reichweite der Akten wesentlich gestreckt haben. Das wurde aber mit einem deutlich langsameren und unregelmäßigeren Erscheinen erkauft, und auch mit einer gewissen Unhandlichkeit im Gebrauch.
Die Bearbeiter dieses Bandes haben wohl versucht, die Probleme einer Fondedition so gut es im gesteckten Rahmen ging, zu lösen. Man merkt diesem Band zur deutschen Außenpolitik an, dass hier drei Angehörige einer jüngeren Generation von Diplomatiehistorikern am Werke waren, die auch auf konzeptioneller Ebene – zu denken wäre hier besonders an Tim Geigers wichtiges Buch zur Neuvermessung der Atlantiker/Gaullisten-Kontroverse in den frühen 1960er-Jahren – einiges beizutragen haben.1 Viele der aufgenommenen Dokumente werden (zum Glück) den ganz streng ausgelegten Regeln einer Fondedition nicht mehr gerecht. Die hier abgedruckten Gespräche von Bundeskanzler Helmut Schmidt mit seinen Kollegen im Ausland stammen vor allem aus den Beständen des Bundeskanzleramts, einige fanden sich auch im Depositum des Bonner Archivs der sozialen Demokratie, vergleichsweise wenige kamen dagegen aus dem Politischen Archiv. Zu Außenminister Hans-Dietrich Genscher wurden vergleichbare Bestände nicht herangezogen: waren sie nicht zugänglich oder nur wenig ergiebig?
War aber die Spitzenebene des Auswärtigen Amts überhaupt (noch) der relevante Ort, an dem Außenpolitik gemacht wurde? Die Edition von Akten zur deutschen auswärtigen Politik geht unter anderem auch auf den Wunsch nach Sichtbarkeit von sonst geheimen Entscheidungsprozessen zurück, wie sie etwa die liberale Politik der US Administration Woodrow Wilsons nach dem Ersten Weltkrieg forderte und wie sie dann in der Weimarer Republik im Zusammenhang mit der Debatte über Kriegsschuld und Versailler Vertrag innenpolitische und gesellschaftliche Wirkungsmacht erreichte.2 Ist aber das damit verbundene Politikverständnis der Sache noch angemessen?3 Gerade in den 1970er- und 1980er-Jahren wandelten sich die Konzepte von „Regieren“, „Regierung“ und „Politik“.4 Inwiefern wirkte sich dieser Wandel des Selbstverständnisses auf die Außenpolitik aus und was bedeutet das für die Auswahl und das Format von Akteneditionen? Gerade im Jahre 1980 spielten multilaterale Konsultationen eine große Rolle (zum Beispiel Dok. 352). Können solche Diskussionen sinnvoll im Rahmen einer Aktenedition erfasst werden? Mit anderen Worten: Akteneditionen von dieser Gründlichkeit setzen wissenschaftlich Maßstäbe. Gerade deshalb muss man aber einmal darüber nachdenken, was die gewandelten Formen von Außenpolitik vom Ende der 1960er- bis in die 1980er-Jahre hinein für die Edition der „Akten“ bedeutet.
Anmerkungen:
1 Tim Geiger, Außenpolitischer Konflikt und innerparteilicher Machtkampf in der CDU/CSU 1958-1969, München 2008.
2 Martin S. Kröger, Zur Gründung des Politischen Archivs des Auswärtigen Amts nach dem Ersten Weltkrieg, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 56 (2008), S. 1024-1034. Zur Nachgeschichte nach 1945 siehe die maßgeblichen Studien von Astrid M.Eckert, Kampf um die Akten. Die Westalliierten und die Rückgabe von deutschem Archivgut nach dem Zweiten Weltkrieg (= Transatlantische historische Studien, Bd. 20), Stuttgart 2004.
3 Die Debatte über den Bericht der von Außenminister Joseph Fischer eingesetzten Expertenkommission zur Geschichte des Auswärtigen Amts kreiste nicht zufällig um die Frage, wie zuverlässig Akteneditionen überhaupt Auskunft über Außenpolitik geben können und inwiefern umgekehrt das Handeln des Auswärtigen Amts für das Verständnis der nationalsozialistischen Politik besonders im Zweiten Weltkrieg überhaupt von Bedeutung war. Als abgeklärteste Summa der Debatten mit Hinweisen auf den Verlauf vgl. Richard J. Evans, The German Foreign Office and the Nazi Past, in: Neue Politische Literatur 56 (2011), S. 165-183.
4 Siehe dazu allgemein für die Innenpolitik Gabriele Metzler, Konzeptionen politischen Handelns von Adenauer bis Brandt. Politische Planung in der pluralistischen Gesellschaft, Paderborn 2005.