R. Reith: Umweltgeschichte der frühen Neuzeit

Cover
Titel
Umweltgeschichte der Frühen Neuzeit.


Autor(en)
Reith, Reinhold
Reihe
Enzyklopädie deutscher Geschichte 89
Erschienen
München 2011: Oldenbourg Verlag
Anzahl Seiten
X, 196 S.
Preis
€ 19,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Bernd Herrmann, Historische Anthropologie und Humanökologie, Georg-August-Universität Göttingen

Eine Begrenzung auf 1.000 bis 1.200 Wörter stellt den Rezensenten vor ähnliche Schwierigkeiten wie den Autor, seine riesige Stoffmenge auf die reihenübliche Breite eines kleinen Fingers zu reduzieren. Zumindest muss die Ausgewogenheit unter dieser Vorgabe leiden. Der Rezensent bedauert dies besonders deshalb, weil er das Werk, gemessen an seinen Rahmenbedingungen, für eine im Grundsatz hervorragende Autorenleistung und als Buch für ein exzellentes Preis-Leistungs-Angebot hält.

Der Band ist in drei Hauptabschnitte gegliedert: I. Enzyklopädischer Überblick (69 S.), II. Grundprobleme und Tendenzen der Forschung (75 S.), III. Quellen und Literatur (45 S.); das Personen-, Orts- und Sachregister umfasst 11 Seiten. Der erste Hauptabschnitt behandelt drei Grundfragen. Er fragt, (1) was Umweltgeschichte sei, und beschreibt dann (2) natürliche Umwelten und (3) anthropogene Umwelten. Der zweite Hauptabschnitt identifiziert sieben Schwerpunkte, auf die sich die Forschung konzentriere: (1) Klima und „Kleine Eiszeit“, (2) Naturkatastrophen, (3) Seuchen, (4) Wald, (5) Energie, (6) Stadt, (7) Nachhaltigkeit und naturale Ressourcen. Das achte Unterkapitel behandelt „Perspektiven“. Die Vorstellung der Quellen und Literatur des dritten Hauptabschnitts folgt im Wesentlichen der Gliederung des zweiten Hauptabschnitts.

In räumlicher Hinsicht stellt sich dem Werk das Problem, dass es sich nicht an Grenzen halten kann, obwohl der Reihentitel eine Konzentration auf „deutsche Geschichte“ suggeriert. Darauf geht Reith kurz ein, weil das Thema Umwelt ohnehin nicht „deutsch“ ist, auch nicht deutsch-heilig-römisch. Wie jeder aus der Geographiestunde weiß, läuft die Kontinentachse – und damit die naturale Vorgabe für das Thema – hier von West nach Ost (in der naturalen Wirkung ist es umgekehrt, selbstverständlich und auch schon vor Jared Diamond, als man von Paläarktis sprach) und nicht von Nord nach Süd. Im vorliegenden Werk geht es überwiegend tatsächlich auch um Mitteleuropa; gelegentlich, vor allem im Literaturteil, wird es global.

Das ist eine thematisch zielführende Vorgehensweise. Interessanterweise wird aber auf zwei fundamentale Aspekte keine Rücksicht genommen, die für einen enzyklopädischen Überblick alles andere als nebensächlich erscheinen. Zum einen expliziert Reith den Begriff „Umwelt“ nicht und reduziert den Begriff „Umweltgeschichte“ inhaltlich auf die minimalistische Formel von der „Interaktion von Mensch und Natur“. Wissenschaftstheoretisch ist das Übergehen einer Gegenstandsklärung insofern bemerkenswert, als an anderen Stellen des Werks den im eigentlichen Sinne geschichtswissenschaftlichen Begrifflichkeiten ausgiebig Tribut gezollt wird. Verwendet wird also ein umgangssprachliches Vorverständnis. Irgendwie, so der Eindruck des Rezensenten, besteht aber bei einigen professionellen Historikern keine sichere Differenzierung zwischen einer Milieugeschichte und einer Umweltgeschichte, der eben nach ihrer Herkunft ökosystemare Gesichtspunkte unterliegen. In diese Richtung wäre Belehrung erwünscht, wenn man an den Orientierungswert denkt, den diese Reihe besitzt. Welche Reaktionen würden ausgelöst, wenn eine historische Enzyklopädie beispielsweise zum Thema „Macht“ oder „Herrschaft“ oder „Wirtschaft“ so verführe? Wobei diese Begriffe im umgangssprachlichen Verständnis vermutlich ihren Gegenstand präziser treffen als im Falle von „Umwelt“.

Dadurch wird es dem Autor auch möglich, seine aus Gründen der verlegerisch auferlegten Kürze bevorzugte Dichotomie in „natürliche“ und „anthropogene“ Umwelten zu bilden – und damit ein Dilemma zu offenbaren: Umwelt ist eine subjektive Kategorie, der nicht einfach eine „Natur“ kategorial als gleichsam objektiv gegenübergestellt werden kann. Dass „Naturkatastrophen“ unter „Natürliche Umwelten“ rangieren, schmerzt. Denn Naturwissenschaftler wissen, dass es keine „Naturkatastrophen“ gibt. Möglicherweise gibt es in der Natur Extremereignisse oder Elementarereignisse gewissen Ausmaßes, aber die Dinge der Natur sind einfach, wie sie sind, und sie sind in ihrer Beschreibung frei zu halten von Werturteilen. Dem Autor ist das sicherlich geläufig, und der Kenner wird entsprechende Formulierungen finden, in denen er die einschlägige Gedankenarbeit sieht. Es fehlt aber der Platz, diese Probleme dem um Orientierung bemühten Leser zu vermitteln.

Welche Schwierigkeiten Kürze verursacht, wird zum Beispiel an der Behandlung des Themas „Landschaft“ deutlich, die als Problemfeld und Gegenstand im vorliegenden Band nicht einmal thematisiert wird. Immerhin handelt es sich bei „Landschaft“ um das komplexeste Archiv, das Menschen von ihrer auf „die Natur“ gerichteten Handlung hinterlassen. War es beispielsweise nicht einmal eine Grundfrage, ob Altlandschaften so überformt werden könnten, wie man Palimpseste neu beschrieben hat? War diese Frage nicht aus naturwissenschaftlichen Gründen verneint worden, weil bewirtschaftete Böden gleichsam ein Gedächtnis für die „Sünden“ der Vorväter hätten? Hier landet man irgendwie bei physiokratischen Ideen und findet das entsprechende Stichwort auf Seite 136. Das ist dort aber völlig nebensächlich, unter anderem weil an dieser Stelle auch die „Nachhaltigkeit“ erklärt wird. Überrascht nimmt man zur Kenntnis, dass die einzige hier zitierte Position, die in die Nähe ökosystemarer Grundüberlegungen kommt, wenig geschätzt zu sein scheint. Dabei ist der zitierte Donald Worster noch sehr zurückhaltend, wenn er das der „Nachhaltigkeit“ unterliegende Gedankengebäude in bestimmter Weise qualifiziert.1 Worster hat völlig Recht, wenn er für einen präziseren Umgang mit Begriffen plädiert (siehe oben zu „Naturkatastrophen“) und auf die unterliegenden heimlichen Begrifflichkeiten und ideologischen Positionen aufmerksam macht. „Nachhaltigkeit“ hat nichts mit Stabilität von Ökosystemen zu tun, sondern ist allein eine Utopie des Managements naturaler Ressourcen. Darauf bzw. allgemeiner: auf solche Grundfragen und Aporien müsste eine Enzyklopädie der Umwelt-Geschichte auch wenigstens hinweisen. Hier hält sich das Werk auffällig zurück und schlägt noch nicht einmal ein allgemeines Lehrbuch der Ökologie im Literaturverzeichnis vor. Muss man wirklich daran erinnern, dass in den Umweltwissenschaften die begriffliche Meinungsführerschaft nicht bei den Historikern liegt?

Diese Bemerkung führt auf die zweite fehlende Rücksichtnahme, die für Historiker vielleicht kaum erkennbar ist. Sie besteht in der wie selbstverständlichen Verwendung des Wissens, das über Umwelt, umwelthistorische Sachverhalte und auf naturale Umwelt zielende Ingenieurleistungen usw. in Fächern und Wissenszusammenhängen außerhalb der Geschichtsdisziplinen erarbeitet und zugänglich gemacht wurde. Zudem stammt das zentrale Epistem des Gegenstandes gewiss nicht aus der Geschichtswissenschaft. Schon allein deshalb lässt sich Umweltgeschichte nicht ausschließlich unter der Rubrik „Geschichte“ verkaufen. Ob eine solche Verwendung nicht zu einer differenzierten Würdigung von Anteilen bzw. zur Überprüfung von Zuständigkeiten führen könnte? Reiths Position ist hierbei immerhin erfreulich zurückhaltender als diejenige im Schwesterband von Frank Uekötter.2

Die Gliederung des zweiten Teils: „Grundprobleme und Tendenzen der Forschung“ ergibt sich möglicherweise aus der relativen Menge einschlägiger Publikationen, nicht aber aus einer stringenten thematischen Systematik. Hier bleiben Fragen offen. Wenn ein Kapitel „Naturkatastrophen“ angeboten wird, warum dann noch eines zu „Seuchen“ und „Kleiner Eiszeit“? Warum gibt es neben „Energie“ ein eigenes Kapitel „Wald“? Selbstverständlich ist der Wald mehr als Energie, aber es gibt auch kein Kapitel „Eisen“ oder ähnliches, wenn an Holz als Werkstoff gedacht wird. Tiere, ach ja, Tiere, die künftigen Lieblinge historischer Seminare – was lässt diese Umweltgeschichte von ihnen übrig, wo die Menschen ohne sie nicht denkbar wären? Die Tiere, auf die Hans Zinsser (gest. 1940), der große Fleckfieberforscher, verdienstvoll die Aufmerksamkeit lenkte3, kommen nolens volens vor. Aber Pferd und Rind? Warum taucht unter Energie nicht auch die „Landwirtschaft“ auf, sondern nur Energie im weiteren Sinne für technische Prozesse? „Landwirtschaft“ wird überraschend nicht eigens behandelt, obwohl man sich in ihr seit mehr als 10.000 Jahren global um Verstetigung abmüht (naturräumliche Grundeignung gegeben).4

Neben dieser Skepsis geht es dem Rezensenten am Ende ein bisschen wie beim Anschauen der Abendnachrichten im Fernsehen. Wenn einer Regierungsperson die Grundzüge des Eurorettungsschirms in 45 Sekunden ins Mikrofon abverlangt werden, wird deutlich: Gewisse Dinge könnten etwas Länge vertragen. Tatsächlich ist dem Autor aber zu bescheinigen, dass er mit dieser Mini-Enzyklopädie einen beachtlichen Systematisierungsvorschlag gemacht hat und dafür aus Sicht des Rezensenten allen Respekt und Beifall verdient. Jedenfalls lohnt der Blick ins Buch und Literaturverzeichnis bestimmt, wenn man sich orientieren will.

Anmerkungen:
1 Donald Worster, Auf schwankendem Boden. Zum Begriffswirrwarr um „nachhaltige Entwicklung“, in: Wolfgang Sachs (Hrsg.), Der Planet als Patient. Über die Widersprüche globaler Umweltpolitik, Berlin 1994, S. 93-112.
2 Frank Uekötter, Umweltgeschichte im 19. und 20.Jahrhundert, München 2007.
3 Hans Zinsser, Ratten, Läuse und die Weltgeschichte, Stuttgart 1949.
4 Ausführlicher widmet sich der Band der Landwirtschaft nur im Zusammenhang mit Klimaphänomenen; vgl. S. 12-15.

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