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Title
Kraft des Gedankens. Ungewöhnliche Erinnerungen an eine intellektuelle Reise


Author(s)
Kornai, János
Published
Extent
515 S.
Price
€ 35,00
Reviewed for H-Soz-Kult by
Rudolf Kučera, Masaryk Institute and Archives of the Czech Academy of Sciences

Es gibt nicht viele bekanntere ostmitteleuropäische Intellektuelle als János Kornai. Der Harvard-Professor und Theoretiker der "weichen Budgetbeschränkungen" gehört zu den einflussreichsten Ökonomen des 20. Jahrhunderts. Kornais Memoiren, die jetzt nach der amerikanischen Ausgabe1 auch ins Deutsche übersetzt wurden, sind deshalb nicht nur ein Zeugnis seiner erfolgreichen akademischen Karriere, sondern lassen sich auch als Quelle zur modernen Geschichte Ungarns sowie zur Geschichte der Ökonomie und des ökonomischen Denkens lesen.

Geboren 1928 als Sohn eines gutsituierten jüdischen Budapester Anwalts, konnte Kornai eine Kindheit ohne materielle Zwänge genießen, bis der Holocaust auch in Ungarn tobte. Der Verlust seines Vaters sowie die unmittelbare Erfahrung der totalen Kriegswirtschaft bestimmten seine intellektuelle Neigung zur ungarischen kommunistischen Partei. Die Erfahrung des faschistischen Terrors und des bewaffneten Widerstandes sowie die radikale Zukunftsorientierung der kommunistischen Parteien Ostmitteleuropas zogen viele Intellektuelle an und wurden nach dem Zweiten Weltkrieg zu einer grundlegenden Komponente ihrer Herrschaftslegitimierung. Nicht zufällig erwähnt Kornai, dass es letzten Endes die Lektüre von Marx' "Kapital" war, die seine Entscheidung besiegelte, der kommunistischen Partei beizutreten.

Kornais Schilderung seiner früheren Karriere bewegt sich oft zwischen farbiger Darstellung der Verhältnisse innerhalb des Parteiapparats und der führenden Parteipresse und einer rückblickenden Selbstentschuldigung. Als schnell aufsteigender Parteikader verwickelte er sich mehr in die sich etablierende Diktatur, als es heutzutage in Ungarn zu rechtfertigen ist, und die Memoiren dienen an vielen Stellen zur Erklärung seiner Motive oder sogar zur offen ausgesprochenen Entschuldigung.

Der Kern des Buches besteht aber in Erinnerungen an Kornais Weg zum weltberühmten Wissenschaftler und es ist fast aus jeder Seite ersichtlich, von wem der Text geschrieben wurde. Kornai schreibt als Universitätsprofessor und Ökonom. Seinem Familienleben oder privaten Erinnerungen wird nur wenig Platz zugemessen, und das häufigste Wort ist "Ich". Dem Leser wird dadurch ein individuelles Schicksal eines erfolgreichen Mannes angeboten, dessen politisches "Erwachen" während der ersten Hälfte der 1950er-Jahre eine akademische Karriere von globaler Bedeutung in Bewegung setzte. Die gewalttätige Unterdrückung der ungarischen Reform, zu deren Architekten sich auch Kornai zählte, machte aus einem eifrigen Kommunisten endgültig einen distanzierten Akademiker. Nach seinem Abschied von einem führenden Posten in der ungarischen Presselandschaft erhielt Kornai im Sommer 1955 "Asyl" an der Ungarischen Akademie der Wissenschaften, und die akademische Welt verließ er seitdem nie mehr.

Wie wichtig dann für Kornai seine wissenschaftliche Laufbahn wurde, spiegelt deutlich die Gliederung des Buches, die sich von seinem Eintritt in die Akademie an streng an einzelne Punkte seiner Karriere hält, wobei manche Kapitel gleich nach seinen wichtigsten Werken betitelt wurden. Der Leser wird daher in die Einzelheiten der Zusammenarbeit mit dem Mathematiker Tamás Lipták eingeweiht, es werden die Vorbereitung und Publikation von "Overcentralization" (1953) geschildert, die ersten Ideen, die hinter "Anti-Equilibrium" (1971) standen sowie die stimulierenden Bedingungen, unter denen Kornai in Stockholm "Economics of Shortage" (1980) schreiben konnte. Jedem seiner Bücher wird entsprechend Platz gewidmet, wobei Kornai immer gründlich auf die Inspirationen eingeht, die ihn zum Schreiben des Textes bewogen, auf die Hauptthesen sowie auf ihre Rezeption und Kritik. Nicht einmal wehrt er sich gegen einige scharfe Rezensenten, zugleich vergisst er aber auch nicht, die anerkennenden und positiven Aufnahmen zu erwähnen.

Mit diesem Zugang liefert Kornai nicht nur eine Ergänzung zum Verständnis seines wissenschaftlichen Werks, sondern zugleich Einblicke in das Funktionieren des Wissenschaftssystems im Ostblock und teils auch einer ganzen akademischen Disziplin im globalen Kontext. Seine Erfahrungen mit verschiedenen Absurditäten des Wissenschaftsbetriebes unter dem autoritären kommunistischen Regime, die ihren Höhepunkt wahrscheinlich in dem Moment erreichten, als Kornai zum Gutachter eines seiner eigenen Bücher wurde, mögen ein amüsiertes Lächeln der Wissenschaftshistoriker erregen. Seine Anmerkungen zum globalen Wissenschaftsbetrieb einer akademischen Disziplin werden aber höchstwahrscheinlich Wissenschaftler aller Fachrichtungen ansprechen. Kornais Erfahrungen in führenden Forschungszentren Europas und der Vereinigten Staaten sowie seine Einblicke in das Begutachtungsverfahren renommierter ökonomischer Fachzeitschriften kritisieren scharfsinnig die Probleme einer auf unmittelbare Leistung ausgerichteten Forschung, die unter dem Motto "publish or perish" operiert und in vielen Fällen die gewünschte Innovation eher hindert als forciert.

Von großer Bedeutung für die heutige historische Diskussion sind diejenigen Passagen, in denen Kornai die Intensivierung seiner wissenschaftlichen Kontakte seit den 1960er-Jahren schildert, die letzten Endes zu seiner Berufung nach Harvard führten, ohne einen Bruch mit seiner Heimat zu provozieren. Kornai macht hier anschaulich, was die heutige Forschung immer mehr zu entdecken beginnt, nämlich dass die Ost-West-Trennung während des Kalten Krieges in vielen Fällen weniger streng war als traditionell angenommen. Die Verflechtung verschiedener Expertendiskurse fand auch durch den "Eisernen Vorhang" hindurch statt, und es war gerade die Ökonomie als akademische Disziplin, in der sich spätestens seit den 1960er-Jahren verschiedene Reformdiskurse jenseits der ideologischen Trennung zwischen Ost und West entfalteten. Ungarn nahm zusammen mit Jugoslawien an dieser transnationalen Expertendiskussion sehr intensiv teil.2 Kornais Erinnerungen sind somit eine wertvolle Quelle nicht nur für die Diskussion über die Durchlässigkeit der Blockgrenzen, sondern auch zur Debatte über die Homogenität des Ostblocks.3 Seine häufigen Reisen und der langfristige und sehr intensive Austausch mit führenden westlichen Ökonomen wären nicht in allen kommunistischen Staaten Ostmitteleuropas möglich gewesen.

Kornais Einfluss beschränkt sich jedoch nicht auf die Periode des Kalten Krieges. Durch seine Forschungsinteressen, die er kurz vor und dann vor allem nach 1989/90 auf die Probleme der postkommunistischen Transformation umorientierte, wurde er zu einem wichtigen Akteur des Übergangs von der zentralen Plan- zur dezentralen Marktwirtschaft. Wie er selbst anführt, wurden seine Schriften auch, vielleicht sogar vor allem von der Politik außerhalb Europas wahrgenommen. Der Erfolg und die breite Rezeption seiner auf die wirtschaftliche Transformation fokussierten Bücher sowie seine persönlichen Kontakte in Ländern wie China oder Vietnam geben seinen Erinnerungen eine globale Komponente.

Kornais Erinnerungen werden in einer Zeit publiziert, in der die Zuständigkeit für die Erforschung der postkommunistischen Transformation langsam wechselt. Mit dem allmählichen Abklingen der vor allem ökonomisch und sozialwissenschaftlich orientierten Forschung wird immer häufiger das Desiderat angesprochen, die Jahre nach 1989 stärker in den Fokus der Geschichtswissenschaft zu nehmen.4 Dabei werden nicht zuletzt die Hintergründe verschiedener Wirtschaftsreformversuche thematisiert, die das kommunistische Lager in der zweiten Hälfte der 1980er-Jahre ergriffen und zu denen auch Kornais Werk wesentlich beitrug.5 Seine Erinnerungen stellen daher eine umfassende Quelle auch für die heutige Konzeptualisierung der historischen Transformationsforschung dar.

Dass führende Ökonomen Memoiren schreiben, ist nicht üblich. Dass dies gerade János Kornai tat, ist eindeutig zu begrüßen. Seine Erinnerungen geben Zeugnis von einer wirklich ungewöhnlichen Lebensreise und gehen weit über einen Beitrag zur Geschichte eines akademischen Fachs hinaus. Seine mehr als fünfzigjährige Präsenz an der Spitze der internationalen Forschung und ungewöhnliche geografische Mobilität sowie sein flüssiger Schreibstil machen aus seinen Erinnerungen ein Buch, das seine Leser nicht nur im Kreis von Kornais ökonomischen Fachkollegen finden sollte, sondern auch für jeden Zeithistoriker von großem Interesse sein kann.

Anmerkungen:
1 Janos Kornai, By Force of Thought. Irregular Memoirs of an Intellectual Journey, Cambridge, Mass. 2006.
2 Vgl. jüngst Johanna Bockman, Markets in the Name of Socialism. The Left-Wing Origins of Neoliberalism, Stanford 2011.
3 Vgl. z. B. John Connelly, Captive University. The Sovietization of East German, Czech, and Polish Higher Education, 1945 - 1956, Chapel Hill 2000.
4 Padraic Kenney, The Burdens of Freedom: Eastern Europe since 1989, London / New York 2006, S. 16-26; Philipp Ther, Das „neue Europa“ seit 1989. Überlegungen zu einer Geschichte der Transformationszeit, in: Zeithistorische Forschungen / Studies in Contemporary History 1 (2009), S. 105-114.
5 Vgl. jüngst die Studie zum Zerfall des einheitlichen Parteidiskurses in der Tschechoslowakei während der Perestrojka von Michal Pullmann, Konec experimentu. Přestavba a pád komunismu v Československu, Praha 2011.

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