Mit dem zu besprechenden Buch liegt nun der zweite Teilband der seit einigen Jahren erscheinenden Edition der Tagebücher des ersten westfälischen Oberpräsidenten Ludwig Freiherr von Vincke (1774–1844) vor. Insgesamt sind bis heute drei Bände aus dem auf zehn Bände angelegten Vorhaben der drei westfälischen Institutionen (Verein für Geschichte und Altertumskunde Westfalens, Abteilung Münster; Historische Kommission für Westfalen; Landesarchiv Nordrhein-Westfalen) erschienen (Bd. 1: 1789–1792, bearb. von Winfried Reininghaus; Bd. 5: 1804–1810 bearb. von Hans-Joachim Behr). Der Druck aller Tagebücher von Ludwig Freiherr von Vincke wurde bereits seit vielen Jahrzehnten diskutiert und fragmentarisch an verschiedenen Stellen durchgeführt. Umso erfreulicher ist es, dass das aktuelle Kooperationsprojekt in so kurzer Zeit nach dem Erscheinen des ersten Bandes (2009) schon den dritten vorlegen kann. Wann mit weiteren Bänden zu rechnen ist, ist bislang noch nicht festgelegt.
Ludwig von Vincke gehört zu den bekanntesten Persönlichkeiten der westfälischen Landesgeschichte. Seine Verdienste für die Integration der westfälischen Territorien in den preußischen Staat in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts finden bis heute viel Beachtung in der historischen Forschung. Für die Nachwelt hat Ludwig von Vincke eine Fülle an schriftlichen Zeugnissen hinterlassen. Die wohl spannendsten und interessantesten Einblicke in seine Innenwelt gestatten seine Tagebücher, die er seit seinem 14. Lebensjahr kontinuierlich bis kurz vor seinem Tod mit nur wenigen Lücken führte und die sich im Besitz des Nordrhein-Westfälischen Landesarchivs, Abteilung Münster, befinden.
Der vorliegende Editionsband beinhaltet die buchstabengetreue Abschrift der Tagebücher, die der damals 17- bzw. 18-jährige Ludwig als Marburger Student der Kameralistik und Jurisprudenz von Oktober 1792 bis Oktober 1793 schrieb. Zwar weilte Ludwig bereits seit April 1792 in Marburg, jedoch ist aus den ersten sechs Monaten lediglich der Eintrag vom 23. April überliefert. Ergänzend zur Edition schildert der ausgewiesene Vincke-Kenner Hans-Joachim Behr das spannende Schicksal des Familienarchivs von Vincke-Ostenwalde und des Nachlasses Ludwig Freiherr von Vincke. Zum Verständnis der in den Tagebüchern berührten Themengebiete trägt des Weiteren die differenzierte Einleitung des Hauptbearbeiters Winfried Reininghaus hervorragend bei. Der Tagebuchedition ist außerdem der Abdruck eines unvollständig überlieferten Briefes des 17-jährigen Ludwig an seine Schwester vom November 1792 beigefügt. Seine Bedeutung für die anschließenden Tagebücher besteht wohl mitunter darin, dass der Brief Einblicke in Ludwigs Haltung zum Zeitgeschehen, in erster Linie seine zunehmende Distanz zu den Ereignissen im revolutionären Frankreich gewährt. Ein Personenregister und ein Ortsverzeichnis runden den gelungenen äußeren Gesamteindruck des hier angezeigten Editionsbandes ab.
Die Tagebuchtranskription macht den größten Teil des Bandes aus (401 Seiten!). Dieser Umfang der Tagebücher ist bemerkenswert, denn es handelt sich hierbei um tägliche, zum Teil mehrseitige Einträge eines Teenagers, der in dieser Zeit dazu noch unzählige Briefe an seine Verwandte und Freunde schrieb und ein ehrgeiziges, selbst auferlegtes Universitätsprogramm absolvierte, wofür er viel Anerkennung bei Kommilitonen und seinen akademischen Lehrern erfuhr. Trotz dieses Schreib- und Arbeitspensums führte Ludwig ein abwechslungsreiches Leben, worüber er ausführlich in seinen Tagebüchern berichtete. Seine „Nebenbeschäftigungen“ (so Ludwig selbst, S. 57) wie die Reisen, die Freundschaften, seine erste Liebe und nicht zuletzt das Beobachten des turbulenten Zeitgeschehens spielten ebenfalls eine große Rolle in seinem Alltag. In ausführlichen Exzerpten dokumentiert das Tagebuch zudem Ludwigs Lesegewohnheiten, die für ihn wichtigen Briefinhalte sowie seine eigenen Reflexionen und mitunter anrührenden Tagträume. Ludwigs Einträge spiegeln die zeitgenössischen Geistesströmungen der Zeit wider und vermitteln ein dichtes Bild von der Lebenswelt eines frühreifen und vielseitig interessierten jungen Adeligen.
Ludwig von Vincke lebte in Marburg im Haus des Kameralistik-Professors und des Wegbereiters der Erweckungsbewegung Johann Heinrich Jung genannt Stilling, mit dem ihn auch Jahre später eine tiefe Freundschaft verband. Als Universalgelehrter, dessen Wirkungsbreite über die Augenmedizin und Wirtschaftswissenschaften bis hin zur Schriftstellerei der Empfindsamkeit reichte, beeindruckte Jung-Stilling den 17-Jährigen stark. Ludwigs Wissbegierde und Lerneifer waren offensichtlich kaum zu stillen, sein Stundenplan prall gefüllt: Er besuchte die fachwissenschaftlichen Vorlesungen in Kameralistik und Jura, in verschiedenen Disziplinen der Naturwissenschaften und in Philosophie. Zudem nahm er Privatunterricht im Violinspielen, Sprachen, Zeichnen und Reiten, was den adeligen Ausbildungskanon bediente. Die bleibende Freizeit vertrieb sich Ludwig einerseits im abwechslungsreichen Gesellschafts- und Kulturleben der Stadt und der Umgebung oder füllte sie durch kleine und größere Exkursionen und Reisen aus, wie beispielsweise ins hessische Nidda (September 1792) oder nach Fulda (im Winter 1793), wo er sich über neue Technologien unterrichten ließ. Besonders hervorzuheben ist dabei die zweiwöchige Fußreise von Marburg nach Erlangen im Oktober 1793, wo Ludwig sein Studium fortsetzte. Durch die hessischen Gebiete wanderte er ins Siegerland, wo er sich über die dort eigentümliche Haubergwirtschaft, die Rieselwiesen und Viehhaltung informierte sowie ein Stahlwerk besuchte. In Wetzlar tanzte er anschießend auf einem Ball zu Ehren des Kaisers in Gesellschaft des Reichskammergerichtspersonals. Auf seinem weiteren Weg steuerte er als Ziele die Saline von Nauheim, die Reichsstadt Frankfurt, Fabriken in Hanau, Aschaffenburg und schließlich ein Hospital in Würzburg an. Schon das Aufzählen all der Orte vermittelt einen anschaulichen Eindruck über die Sorgfältigkeit, mit der Ludwig diese Studienreise geplant hatte und mit welcher Disziplin er diesem Plan folgte. Seine bis ins Detail reichenden Reflexionen im Tagebuch betreffen nicht nur die ihn interessierenden Technologien, sondern auch die Menschen, die er an diesen Orten traf, und ihre Gesinnung. So freute er sich in Frankfurt beispielweise über die propreußische Stimmung der Stadtbewohner. Darüber hinaus hielt er im Tagebuch durchgehend die vorgefundenen sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse fest.
Diese Inhalte machen diesen Tagebuchband zu einer empfehlenswerten und kurzweiligen Lektüre auch für interessierte Laien, von denen nicht nur „Vincke“-Kenner auf ihre Kosten kommen. Vor allem diejenigen, die sich für die Geschichte der Stadt Marburg und des dortigen studentischen Lebens am Ende des 18. Jahrhunderts interessieren, werden nicht enttäuscht sein. Das Verdienst der Bearbeiter und Herausgeber besteht darin, dass sie eine lesenswerte und vielschichtig nutzbare Quelle einem breiten Publikum zur Verfügung stellen. Für kulturhistorische Fragestellungen, etwa der Adels-, Stadt-, Bildungs- und Universitätsgeschichte, liefern Vinckes Tagebücher eine unerschöpfliche Fülle an Untersuchungsinhalten, die für sich allein oder in Kombination mit Selbstzeugnissen anderer Zeitgenossen erforscht werden können. Aus editorischen Gesichtspunkten gibt es an der Sorgfalt der Bearbeiter, die ihrer Zielsetzung stets gerecht werden, wenig zu beanstanden. Auf die weiteren Editionsbände dürfte man gespannt sein.